Ländliches Requiem (eBook)
528 Seiten
Rowohlt E-Book (Verlag)
978-3-644-02222-5 (ISBN)
Wenn Commissario Arcadipane und Bramard gemeinsam ermitteln, wird es packend, komisch und einen Hauch philosophisch. In ihrem fünften Fall im Piemont jagen die beiden lange Zeit einer falschen Fährte hinterher, bis eine einsame Wanderung unverhoffte Erkenntnis bringt ... Eric Delarue, Geschäftsführer eines Stahlwerks, wird durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt. Wer hat den Kunstsammler, Ehemann, Chef, der sich immer für die Belange seiner Angestellten eingesetzt hat, töten wollen? Die Spur führt Bramard und Arcadipane zu einem längst vergangenen Fall: Nach einer Sportveranstaltung verschwand ein Elfjähriger. Aber dies ist nur eine Fährte in einem komplexen Geflecht aus verbrecherischen Machenschaften.
Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Premio Grinzane Cavour, dem Prix Le Point für den besten europäischen Kriminalroman 2024 und dem Premio Via Po. Aus seiner international gefeierten Krimireihe aus dem Piemont erschienen bisher: «Der Fall Bramard», «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» sowie «Am Samstag wird abgerechnet».
Barbara Kleiner, geboren 1952, lebt in München. Übersetzerin u. a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo, Paolo Giordano, Davide Longo; ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.
Felix Mayer, geboren 1970, hat Komparatistik, Philosophie sowie Literaturübersetzen studiert. Er übersetzt aus dem Französischen, Englischen, Italienischen und Slowenischen, u. a. John Marrs, Pascal Garnier und Gašper Kralj.
«Longo ist einer der fabelhaftesten Schriftsteller Italiens.» – DIE WELT
«Viel mehr als ein Krimi, aber nie weniger. Davide Longo gehört zu den spannendsten italienischen Schriftstellern.» – FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
«Die Beobachtungsgabe dieses Schriftstellers: eine helle Freude.» – CHRISTINE WESTERMANN
«Davide Longo kann wirklich zauberhaft schreiben.» – DEUTSCHLANDFUNK
1.
«Die Osteria Due Sorelle in der Via Stampatori, Hausnummer 26, besser bekannt unter dem Namen Die letzte Station, hatte trotz der Uhrzeit 02:38 den Rollladen schon halb herabgelassen, und von drinnen drangen Aufräumgeräusche. Da ich feststellte, dass die Schließung unmittelbar bevorstand, machte ich mich beim Besitzer bemerkbar, indem ich ihn mit Rücksicht auf die Nachtruhe leise rief und wartete, dass er sich am Ausgang zeigte, um mit ihm zu reden.»
So würde Arcadipane am nächsten Tag im Protokoll schreiben, wenn das, was er tut, Arbeit wäre, aber da es sich bloß um eine Schererei handelt, versetzt er dem Rollladen einen Tritt und lehnt sich an die Wand, um geschützt vor dem Dauerregen zu rauchen, der seit Tagen die Stadt heimsucht.
«Aber wer zum Teufel …», sagt Biagio und streckt den Kopf unter dem Rollladen hindurch. «Ach, du bist’s!»
«Machst du zu?»
«Nein, nach zwei lasse ich den Rollladen hinunter für diejenigen, die schon auf allen vieren angekrochen kommen. Sicher mache ich zu, es ist die Nacht auf Montag!»
Arcadipane lächelt ohne Vergnügen, weil er die Antwort auf die Frage, deretwegen er gekommen ist, schon hat.
«Ist er vorbeigekommen?», fragt er, aber nur, weil es immer besser ist, sich nicht allein auf die Nerven zu gehen.
Biagio schlüpft heraus in seinem von Wein und Tomatensauce fleckigen T-Shirt, ein massiger Körper, die Hosen gehalten von der Schnalle mit den sieben Flammen der Fremdenlegion.
«Gegen zwei ist er gegangen», der Satz halb verschluckt vom Rasseln des Rollladens.
«Und wie war er?»
Er beugt sich zum Schließen des Vorhängeschlosses hinunter und zuckt mit den Schultern, dass es wie eine Einladung aussieht, ihm auf den Buckel zu steigen, aber Arcadipane ist seit zwanzig Jahren kein Kind mehr, und auch damals war er eher der Typ, der trägt, als der, der getragen wird.
«Auf seinen zwei Beinen», sagt Biagio und steckt den Schlüssel in die Tasche, «bei den Mengen, die er trinkt, hat er eine Medaille verdient … Da sieh doch einer an, was für ein Scheißwetter! Gib mir eine Zigarette, mir haben sie alle weggeschnorrt.»
Sie rauchen eine Minute, auch zwei, schweigend, und betrachten das kalte Wasser, das seit Tagen den Anlasser des Frühlings ins Stottern bringt. Zwei Männer, einer groß von Statur, vormals athletisch, der andere klein, gedrungen und für jedes Gelände geeignet, wie eine Kettenschubkarre, beide Gefangene von Nachtarbeit, beide wenig Freunde und ständig das Schauspiel schmerzgeplagter Menschen vor Augen.
Die verlassene Straße und der Regen heben die Laune nicht, aber zu Beginn des Abends oder bei schönem Wetter wäre es dasselbe, seitdem Mama Fiat die Stadt in Windeln wickelt und anzieht, ist Turin sonntagabends so gesellig wie eine Prostataentzündung.
«Allons-y? Ich geh meine Schöne besuchen», schließt Biagio die Unterhaltung und schnipst das, was von der Zigarette übrig ist, weg. «Um die Zeit ist nur Moderno offen. Bonne chance!»
Arcadipane sieht ihn im regnerischen Nebel der Gasse kleiner werden, auf dem Weg zu einer der zwei Schwestern, die das Lokal vor dreißig Jahren von ihrem Vater geerbt haben. Damals lag die Osteria gegenüber vom bestbesuchten Bordell von Turin, sie hieß Il ristoro del cavaliere, aber sobald die beiden das Geschäft übernahmen, nutzten sie die Gelegenheit des Merlin-Gesetzes und benannten es um in Zwei Schwestern. Die Osteria lief noch weitere zehn Jahre prächtig, die Jahre, in denen Biagio, der aus dem Kongo auf Urlaub war, Ersilia kennenlernte und heiratete. Doch dann brach durch die harten Jahre des Terrorismus die spendable Kundschaft aus Journalisten, Politikern und Freiberuflern weg, angesichts der Anschläge blieb man lieber zu Hause, und die neuen Fernsehkanäle taten ein Übriges.
Vor drei Jahren ist die zweite Schwester in einem der Wettbüros von Nichelino, wo sie das verspielte, was von den Einnahmen und Hypotheken übrig blieb, an Herzversagen gestorben. Ersilia hat in der Zwischenzeit fünfunddreißig Kilo zugelegt und wartet darauf, dass die Krankenkasse ihr einen OP-Termin für ein künstliches Hüftgelenk zuweist. Unterdessen arbeitet sie bis 21 Uhr in der Küche, dann schaltet sie den Herd aus und geht nach Hause die Beine hochlegen. Von dieser Uhrzeit an ist das Lokal wie ein Gully inmitten eines eleganten Viertels, es zieht die Nachkommen der Kunden von einst an: ewige Söhne, traurige Kindheit in Wohlstand, die den Galgen des Trinkens dem Wilden und Vulgären des Heroins vorziehen. Sauertöpfische Männer und beinah schöne Frauen, mit Diplom und ein paar unter Mühen Promovierte, die am Abend des Zahltags ihrer alten Eltern fünfzigtausend Lire für eine Flasche Barolo springen lassen, um den Rest des Monats billigen Wein zu trinken.
Arcadipane kennt sie, weil ab und zu einer von ihnen tötet beziehungsweise häufiger noch getötet wird. Durch Langeweile begründete Morde, Hehlerei mit Familienschmuck und Rivalitäten zwischen Zukurzgekommenen. Rasche, schnell erledigte Ermittlungen, wenn’s hochkommt ein mit einem Lappen abgewischtes und dann in die Schublade zurückgelegtes Messer, eine in die Mülltonne geworfene Brechstange. Zeugen langweiliger als der Mörder, der wenigstens üblicherweise schweigt, während sie erpicht darauf sind, gehört und zu Protokoll genommen zu werden.
Das ist so spannend, wie für einen Jockey einen Esel zu reiten, und doch hat ein Polizist vor allem damit zu tun, denkt Arcadipane, unterdessen steigt er in den Wagen, dreht den Zündschlüssel und nimmt eine Straße, die ihn ans andere Ende der Stadt bringt.
Sein Alfa 33 biegt in einen der großen Corsi ein, die tagsüber wie die Pest zu meiden sind, aber in der Nacht, wenn die Menschen schlafen, wie es sich gehört, die ideale Geliebte jedes Polizisten.
Im Übrigen hatte auch er bis vor zwei Stunden die Augen geschlossen oder doch fast, dann läutet das Telefon, er brummt «Alles klar», legt auf und tätigt seinerseits einen Anruf, obwohl er weiß, dass er ihn trotz der Pflicht zur Rufbereitschaft nicht antreffen wird. Und da ist er nun um drei Uhr morgens, mit neunzig Sachen unterwegs in Turin mit seinem grünen Alfa 33 Quadrifoglio, den er vor einem Jahr für fünfzehn Millionen und neunhundertvierzigtausend Lire gekauft hat, mit zwanzig Prozent Rabatt, weil er bei der Staatspolizei eingesetzt ist. Die Raten bestreitet er von seinem Gehalt als Ispettore.
Er bedauert lediglich, dass er das Plastiklenkrad unter den Fingern hat, wo er doch mit ein wenig Ehrgeiz und höheren Raten das hölzerne Lenkrad des Quadrifoglio Oro in Händen halten könnte und unter dem Hintern feinen Stoff hätte anstatt dieses grau karierten und rot abgesetzten Bezugs, der nicht schlecht ist, aber …
Als er sein Ziel erreicht hat, parkt er vor dem Lokal von Pieter. Der Inhaber heißt standesamtlich Pietro Moderno, aber in der Jugend hat er in Amsterdam gelebt und ist von dort mit diesem Namen, einem jungen schwarzen Mädchen und etwas Geld zweifelhafter Herkunft zurückgekehrt.
Arcadipane tritt ein und begrüßt Alberta, die auch nicht Alberta heißt, aber damals war sie die einzige schwarze Bedienung in der Stadt, und Alberta war einfacher als Charlene Farida Kitty Mahabier Sarbajo.
Im Raum wie immer eine Handvoll Leute. Männer und Frauen, die einander gleichgültig und nicht hier sind, um zu reden, jemanden anzubaggern oder zu trinken, sondern nur, um in aller Ruhe traurig zu sein. Leute, die trotz der Uhrzeit einen Platz hätten, wo sie hingehen könnten, aber sie bringen es nicht übers Herz zu sagen: «Ich habe einen Fehler gemacht», «Lass mich schlafen» und auch nicht «Reden wir morgen darüber».
Pieter zählt die Cashewnüsse, die im Körbchen übrig sind.
Es ist so still im Lokal, dass jede Nuss, die auf den Tresen fällt, ein Stoß mit einem Rammbock gegen die Tür scheint.
«Er ist vor einer halben Stunde gegangen», sagt er, als Arcadipane vor ihm steht.
«Wohin?»
«Ich glaube, das weiß er selbst nicht.»
Arcadipane lässt seinen stämmigen Hintern auf den Barhocker fallen und die letzte Hoffnung fahren … Er hasst es, wenn alles erst noch beginnen muss und er schon müde ist.
Alberta stellt ein leeres Glas in die Spüle. Pieter gibt ihr das Körbchen.
«Siebenundzwanzig», sagt er zu ihr.
Arcadipane beobachtet die Frau, wie sie sich an einem großen Sack von Cashewnüssen zu schaffen macht, siebenundzwanzig davon abzählt und in das Körbchen legt.
«Was hat der Unglückselige getrunken?»
«Vier Rum und Wasser», sagt Pieter, und jetzt konzentriert er sich auf das Körbchen mit den Nüssen.
«Also stehen wir dumm da.»
«Gut nicht. Willst du auch was trinken?»
«Das fehlte noch», sagt Arcadipane und rutscht vom Hocker herunter.
«Wenn er wiederkommt, sag ihm, er soll anrufen und sich nicht von der Stelle rühren.»
«Wo soll er anrufen?»
«Was weiß ich. Im Polizeipräsidium. Irgendwie geben sie mir Bescheid, und ich komme ihn abholen.»
Pieter nickt, dann gibt er das Körbchen Alberta.
«Zwölf», sagt er.
Arcadipane geht zurück zu dem Alfa. Er schaut auf die Uhr, zwanzig nach drei. Die einzige Möglichkeit ist, eine der Straßen einzuschlagen, die Bramard zu Fuß nach Hause bringen. Aber da der seit ein paar Jahren nicht mehr fährt, schließt er das Zentrum aus, er weiß, dass er die Arkaden an der Via Roma nicht leiden kann, vielleicht am Fluss entlang.
Er lässt den Alfa an und hält den Motor gedrosselt, fährt im Schritttempo am Ufer des Po entlang. Nichts außer einem...
| Erscheint lt. Verlag | 13.5.2025 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Bramard und Arcadipane ermitteln | Ein Piemont-Krimi |
| Übersetzer | Barbara Kleiner, Felix Mayer |
| Verlagsort | Hamburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Achtziger • Achtziger Jahre • Andrea Camilleri • besondere Figuren • Bramard und Arcadipane ermitteln • Buchempfehlung • Bücher für den Urlaub • Buchtipp von Christine Westermann • Christine Westermann • Christine Westermann Buchtipps • Commissario • Donna Leon • Entspannung • Ermittlerduo • Figurenzeichnung • Fred Vargas • Geheimnis • Gehobene Spannung • Gil Ribeiro • good read • gute Spannung • gute unterhaltung • Italienbuch • Italienische Gegenwartsliteratur • Italienische Krimis • Italien-Krimi • ItalienKrimi • jean luc bannalec • Krimibestenliste • Krimi für den Urlaub • Kriminalroman • Krimireihe • Literarische Spannung • Literatur • Nervenkitzel • Neuerscheinung 2025 • packend • Packende Krimihandlung • Packender Kriminalroman • Piemont • Piemontkrimi • Piemont-Krimi • Politischer Krimi • Regionalkrimi • Regional-Krimi • Romane für Italienreise • Sommerlektüre • spannend • spannende Bücher • Spannungsroman • Thriller • Turin • Urlaubskrimi • Urlaubskriminalroman • Urlaubsroman |
| ISBN-10 | 3-644-02222-4 / 3644022224 |
| ISBN-13 | 978-3-644-02222-5 / 9783644022225 |
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