Form. Zahl. Symbol
In seinen Tagebüchern hat der Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783) keine historischen Ereignisse, Lebensdaten oder schicksalhaften Begegnungen festgehalten, sondern mathematische Ideen, formbildende Ordnungsstrategien und visuelle Praktiken verzeichnet. Diese Aufzeichnungen – das Gedankenlabor des Forschers – bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Das Fixieren von Ideen, seien es mathematische Umformungen oder formgestalterisches Kritzeln, war für Euler ein genuin epistemologisch-experimenteller Prozess, ein tastendes Weiterführen gesicherter Erkenntnisse, anderes gesagt: ein Denken mit dem Stift
Wladimir Velminski, geboren 1976, Kunst- und Medienhistoriker, lehrt und arbeitet in Zürich und Berlin.
1;Inhalt;6
2;f(x) Funktionsraum;10
2.1;I Einleitung;12
3;e Zeichenregime der Analysis;26
3.1;II Die (Vor-)Zeichen der Funktion;28
3.2;III Grafische Kalküle des Irrationalen;43
3.3;IV Die Poesie des Diagrammatischen;62
4;p Geometrie der Ordnungssysteme;86
4.1;V Das Paradies der Gelehrten;88
4.2;VI Peripherien des Sichtbaren;98
5;.... Topologien des Denkens;130
5.1;VII Geometrie der Lage;132
5.2;VIII Das Grafische der Musik;151
5.3;IX Berechenbarkeit der Strategie;173
6;i Algebra des Sehens;196
6.1;X Poiesis&Mathesis;198
6.2;XI Das Herumgeisternder Farben in den Objektiven;211
6.3;XII Sichtbarkeit des Rechnens;225
7;S Summe der Nachbeobachtung;246
7.1;XIII Soviel enthält die Form;248
8;. Anhang;252
8.1;1. Theses Philosophicæ und Eulers Bibliothek;254
8.2;2. Abkürzungen und Archive;314
8.3;3. Literaturverzeichnis;316
8.4;4. Register;360
I Einleitung (S. 11)
1. Die Klammernase
Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung, die ideelle Formwird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient.
Ernst Cassirer
Die Formierung der Sichtbarkeit und Erkenntnis hebt dasmathematische Denken an. So ist dem Tagebuch, mit dem Leonhard Euler 1725 seine mathematischen Denknotizen beginnt, eine imaginative Potenz von Zeichen gebenden Erscheinungen und an sie gekoppelten visuellen Strategien eigen.
Auf Seite achtundneunzig des von beiden Enden her beschriebenen Buches tritt eine kleine Zeichnung aus Eulers Kalkülen hervor. Ein Gesicht (Abb. 1), bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Selbstporträt des Mathematikers handelt, schwebt gespenstisch zwischen Zahlen und Graphen.
Sförmig rahmen die Haare die hohe Stirn des Porträtierten ein. Die nach unten gezogenen Augenbrauen und die halbgeschlossenen Lider verleihen dem Profil mit der markanten Nase ein nachdenkliches Aussehen.
Das Ohr ist nicht zu sehen, da die gewellten Haare auf den Kragen fallen und es verdecken. Der Mund ist leicht geöffnet, als ob das Gesicht dem Betrachter etwas mitteilen wollte. Mehrere Linien unterbinden diesen Sprechakt, die untere Hälfte desGesichts mit dem sonderbar kleinen Kinn ist mittels einer Schraffur durchgestrichen.
Bei genauerer Untersuchung der Tagebuchseite scheinen weitere Details vor dem Auge des Betrachters auf (Abb. 2). Eine zu einer Nase umgeformte Klammer schwebt über dem Gesicht, sie grenzt die Definition des Punktes p von der übrigen Rechnung ab. Um den Punkt p, dessen Bauch zum Auge des Gesichts avanciert, kreist die Berechnung einer Funktion, bevor zwei mögliche Positionen von p auf der Kurve eingezeichnet werden.
Den Übergang von der Berechnung der Funktionsgleichung zur graphischen Darstellung kennzeichnet der Schriftzug "talem habet forma". Soviel enthält die Form soviel enthält das Blatt. Bei der Rekonstruktion der Aufzeichnungschronologie empfiehlt es sich, den benutzten Utensilien besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Während die Berechnungen mit einer kräftigen schwarzen Tinte eingetragen sind, die durch die Seite schlägt, ist das Gesicht mit einer helleren dunkelbraunen Tinte gezeichnet.
Dies spricht dafür, dass Euler die zuerst festgehaltenen Niederschriften in dem Tagebuch mit einer etwas groben Feder ausgeführt hat. Die feinzügigeren Aufzeichnungen stammen hingegen aus einer Zeit, in der Euler seine im Tagebuch festgehaltenenNotizen durchgeschaut, nachgerechnet und gegebenenfalls verbessert und akkurat in die Manuskripte übertragen hat.
Gerade während dieser Zeichenpraktik der Übertragung entfaltet sich die prinzipielle Ambivalenz des Imaginären. Gerade dieser Blick hebt Euler aus seiner subalternen Position in den Status der Exklusivität. Diese bringt zwar die mathematische Hierarchie ins Wanken, doch gleichzeitig räumt sie neue unerwartete zeichenproduzierende Signale ein, die es im Folgenden zu enthüllen und zu analysieren gilt.
Eulers Entwürfe und Notizen aus den Jahren 1725 1727 eröffnen die Spanne von Aufzeichnungen, des im Jahre "1707 den 15ten April zu Basel geboren[ en]" Mathematikers. Schnellschrift, Zeichnungen, kalligrafische und stenografische Grapheme treten immer wieder zwischen den mathematischen Ausführungen hervor (Abb. , ). Alle unterscheiden sich voneinander in der Ökonomie des Zeichens, der Energie des Ausdrucks, der Schnelligkeit ihrer Fixierung und keine dieser Ausdrucksformen ist von dem Gesamtprozess des Aufschreibens und Verzeichnens im Tagebuch auszuschließen.
Eine Frage, die sich im Hinblick auf diese Zeichenpraktiken stellt, ist die nach der Tiefenstruktur des Zusammenhangs von mathesis und graphé.
| Erscheint lt. Verlag | 11.11.2009 |
|---|---|
| Zusatzinfo | 196 b/w ill. |
| Verlagsort | Berlin/Boston |
| Sprache | deutsch |
| Maße | 150 x 240 mm |
| Gewicht | 905 g |
| Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Kunstgeschichte / Kunststile |
| Sozialwissenschaften | |
| Schlagworte | ART • Arts, general • Erkenntnis • Euler, Leonhard • Euler's numbers • Experiment • Fried • Kulturtransfer • Kulturwissenschaften • Kunstgeschichte • Mathematics • Mathematisches Zeichen • Numeration • Philosophy • Philosophy of Culture • Präsentation • Strategien • Tagebuch • Tagebücher • WGW15 |
| ISBN-10 | 3-05-004604-X / 305004604X |
| ISBN-13 | 978-3-05-004604-4 / 9783050046044 |
| Zustand | Neuware |
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