Der weiße Gesang (eBook)
208 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-480-4 (ISBN)
Dorota Danielewicz, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, wurde in Posen (Polen) geboren. 1981 siedelte sie in das damalige West-Berlin um. Sie studierte Ethnologie und Slawistik an der Freien Universität Berlin und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach einem Aufenthalt in New York, wo sie für die Vereinten Nationen arbeitete, war sie als Rundfunkjournalistin knapp zwei Jahrzehnte für den RBB (früher SFB) tätig. Zehn Jahre arbeitete sie als Berlin-Korrespondentin von Radio France Internationale. Sie lebt in Berlin.
Dorota Danielewicz, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, wurde in Posen (Polen) geboren. 1981 siedelte sie in das damalige West-Berlin um. Sie studierte Ethnologie und Slawistik an der Freien Universität Berlin und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach einem Aufenthalt in New York, wo sie für die Vereinten Nationen arbeitete, war sie als Rundfunkjournalistin knapp zwei Jahrzehnte für den RBB (früher SFB) tätig. Zehn Jahre arbeitete sie als Berlin-Korrespondentin von Radio France Internationale. Sie lebt in Berlin.
Iryna Novik (geb. 1970)
DIE FRAU MIT DEM ROTEN KLEID
Iryna Novik hat als Journalistin für Grodno Live gearbeitet, bis das Portal 2021 geschlossen wurde. Iryna und ihre Kolleginnen und Kollegen haben nicht nur ihre Arbeit verloren, sondern die Stadt damit ein wichtiges Medium der freien Presse. Grodno Live wurde als extremistisch eingestuft und verboten. Iryna lebt inzwischen in Litauen. Ich habe Glück und kann sie in Berlin treffen, wo sie sich gerade auf Einladung von »Reporter ohne Grenzen« aufhält. In einem Café in der Winterfeldtstraße beginnt sie sogleich zu erzählen:
»Ich habe nach der Flucht beschlossen, aus dem Koffer zu leben. Zuerst war ich in Vilnius, dann bin ich ins georgische Batumi gezogen, dort an der Schwarzmeerküste ist es warm, und die Mieten sind niedriger als in Litauen. Mein Mann musste allerdings zu Hause bleiben, wegen seiner Therapien. Sein Gesundheitszustand erlaubt es ihm nicht, Belarus zu verlassen, er hat Krebs.
Mir persönlich geht es gerade etwas besser, nur die Nieren wollen nicht so recht, einmal im Monat brauche ich eine Chemo. Dort, wo ich gerade wohne, findet sich immer jemand, der mir helfen will. Aber ich bin oft unterwegs, es gibt so viele Einladungen und so viel zu tun. So wie jetzt gerade in Berlin. Das erste Mal im Leben, und vielleicht ist es auch das letzte Mal, kann ich Einladungen annehmen und reisen und dabei die unterschiedlichsten Menschen kennenlernen. Ich habe nur einen Koffer, da sind alle meine Sachen drin. Alle. Mein Lieblingskleid habe ich an.«
Irynas rotes Kleid macht sich gut in der in Weiß gehaltenen Einrichtung des Cafés. Weiß-Rot-Weiß, das sind die Farben der alten belarussischen Flagge, die oft auf den Demonstrationen nach der denkwürdigen Wahl im August 2020 auf den Straßen von Belarus zu sehen war. Heute kann man in Minsk von der Polizei angehalten, gar verhaftet werden, wenn man rot-weiß gestreifte Socken trägt.
In dem Café sitzen wir an einem weißen Tisch, Iryna leuchtet rot. Ihr Lieblingskleid ist von zeitloser Eleganz. Ein Kleid für viele Gelegenheiten. Nicht jede Frau kann Rot tragen, Iryna steht die Farbe. Die Schuhe, die sie dazu trägt, haben dicke Sohlen, sie wirken bequem. In der Zelle des Gefängnisses von Grodno hätte Iryna solche Schuhe gebrauchen können. Zwar wurde sie im Sommer verhaftet, aber sie musste drei Tage lang stehen, und das in ihrem Alter, mit 50, und unmittelbar nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Ich frage, warum sie so hart bestraft wurde. Dabei ist mir bewusst, dass man in Belarus für vieles bestraft werden kann, auch für Taten, die man nicht begangen hat. Aber warum musste Iryna Novik in Haft? Um mir zu erklären, wie es dazu kam, kehrt die Journalistin in die Zeit vor ihrer Verhaftung zurück.
»Vor drei Jahren habe ich zusammen mit zwei anderen Journalisten das Portal Grodno Live ins Leben gerufen. Es lief sehr gut, bis zur Wahl 2020, danach wurde die Webseite gesperrt, und wir haben unsere Arbeit verloren – wie so viele andere Journalistinnen und Journalisten.«
Die Redaktion von Grodno Live befand sich im Zentrum der Stadt, direkt gegenüber vom Gefängnis in einem ehemaligen Jesuitenkloster. Das Gebäude ist dreihundert Jahre alt. In den Pausen trank man Kaffee und sah auf die Mauern der Strafanstalt oder, auf der anderen Seite, auf die Pfarrkirche mit einer der ältesten Uhren Europas.
Ich schaue mir Bilder von dem Ort im Internet an: die Franz-Xaver-Kathedrale, im Volksmund Pfarrkirche genannt, ist ein imposantes Gebäude mit grünen Kuppeln und zwei Türmen. Sie ist das Wahrzeichen der Stadt.
Aber zurück zu Iryna und ihrem roten Kleid. Die Farbe zieht sich tatsächlich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Sie erzählt von einem anderen roten Kleid.
»Meine Mutter war Kommunistin, eine aufrichtige, gläubige Kommunistin. Eine, die man in die schwierigsten Schulen schickte, damit sie dort Ordnung schaffte. Sie hat Geschichte unterrichtet, und unsere Wohnung war vollgestopft mit Büchern über die Revolution und Lenin. Ich habe Briefe der Kommunisten der ersten Stunde gelesen, ihre Berichte aus der Emigration, ihre Erinnerungen an Gefängnisaufenthalte. Das alles stand bei uns im Regal.
Meine Mutter war auch eine der Ersten, die den Schulunterricht auf Belarussisch abgehalten hat. Zu Weihnachten gab es immer ein Fest bei uns in der Schule. Ich war zehn Jahre alt. Für dieses Fest haben wir uns verkleidet, die Mädchen meist als Schneeflocken. Aber meine Mutter hatte eine andere Idee und nähte mir ein rotes Kleid. Ich ging als Revolution mit Hammer und Sichel auf dem Kopf.«
Ich rechne nach und bin erstaunt, denn das muss im Winter 1980 gewesen sein. Während Iryna als Revolution in die Schule ging, entstand in Polen aus den Streiks der Arbeiter auf der Danziger Werft die freie Gewerkschaft Solidarność.
»Genau, und ich fühlte mich wohl als Revolution. Lenin war auch mein Held. Bei uns hat die Verkleidung keinen verstimmt. Später habe ich studiert, wurde Bauingenieurin, meinen Mann hatte ich an der Uni in Minsk kennengelernt. Nach Grodno gingen wir 1993. Das war eine besondere Zeit. Kurz nach dem Ende der Sowjet-Ära gab es viele arbeitslose Ingenieure, weil sie in Russland nicht mehr beschäftigt wurden.
Auf gerade mal 20 Stellen kamen hundert Diplom-Ingenieure, die eine Arbeit suchten. Wir wurden verteilt, und so bekamen wir Jobs in Grodno. Ich war viel unterwegs, musste zu Baustellen fahren. Doch als unsere Kinder da waren, wurde es für mich zu anstrengend, und ich begann, Arbeiter im Umgang mit Elektrik und Gas zu unterrichten. Denn Arbeiter wissen oft nicht, was Arbeitssicherheit bedeutet, und das kann gefährlich werden. Deshalb sollten sie in die Grundlagen der Elektrik eingeführt werden, ich tat das mit Vergnügen.
Vor Jahren wurde sogar einmal der Altar der Kathedrale zerstört, eine unsachgemäße Elektroinstallation hatte einen Brand verursacht.
Journalistin wurde ich dann wegen meiner Tochter. Sie ging auf eine Journalistenschule und bat mich immer wieder um Hilfe. Mal sollte ich etwas fotografieren, dann kleine Texte zu den Fotos schreiben – bis ich eines Tages, das war 2016, mit zwei anderen Kollegen das Portal Grodno Live gründete!«
Iryna hatte mir bereits erzählt, dass das Portal gut anlief, sie gut angenommen worden waren und Einnahmen über Werbung erzielten.
»Und wir haben sehr viel zu tun gehabt! Vor der Wahl haben wir wie verrückt gearbeitet, keinen Urlaub genommen. Wir hatten uns vorgenommen, nach der Wahl sofort zu verreisen, darauf haben wir uns schon gefreut, es war schließlich Sommer, August, Ferienzeit! Aber es kam anders.
Es war nicht die erste Wahl, bei der es nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Schon 2006 und 2010 haben wir mitbekommen, dass ordentlich geschummelt wurde. Aber dieses Mal haben sehr viele Menschen für die Opposition Wahllisten unterschrieben. Es gab kilometerlange Schlangen an den Punkten, an denen die Unterschriften für die Oppositionskandidaten gesammelt wurden. Es war nicht zu übersehen, die Belarussen wollten eine Veränderung an der Spitze ihrer Regierung.
In Grodno verlief die Wahl ganz ruhig. Die unabhängigen Beobachter standen vor den Wahllokalen und befragten die Wahlberechtigten. Es gab sogar ein Zeichen, ein weißes Band am Handgelenk bedeutete, dass die Person Swetlana Tichanowskaja wählte. Allen war klar, wie die Wahl ausgehen würde – nach den Berichten der Wahlbeobachter hatte Lukaschenko keine Chance zu gewinnen. Dagegen sprachen die vielen Menschen mit weißen Armbändern, die in die Wahllokale gingen, sie wurden gezählt. Viele sagten außerdem nach Verlassen des Wahllokals: ›Ich habe nicht für Lukaschenko gestimmt.‹
Als die Ergebnisse veröffentlicht werden sollten, aber die Beobachter nicht in die Wahllokale gelassen wurden, sondern die Wahlhelfer durch die Hintertüren verschwanden, gingen viele Menschen auf die Straßen. Massen protestierten gegen den Wahlbetrug. Allen war klar, dass es nicht mit rechten Dingen zuging, vor allem deshalb, weil Siarhej Tichanowski schon vor der Wahl nach einer Provokation unschuldig verhaftet worden war. Zudem wurde das Internet abgeschaltet, der einzige funktionierende Kanal war Telegram.
Die Proteste wurden gewaltsam niedergeschlagen, wir konnten die Redaktion nicht verlassen – alles spielte sich vor unserer Tür ab, im Zentrum der Stadt. Uns war klar, wenn wir während der Proteste auf die Straße gingen, würden wir auch im Awtosak, dem Gefangenentransporter, landen. Unsere Reporter haben sich vorsichtig durch die Straßen bewegt, von einer Ecke zur anderen, von einem Hauseingang zum nächsten. Sie haben Fotos gemacht und Menschen befragt, um danach in die Redaktion zurückzukehren und das Material zu überspielen, da man es nicht digital senden konnte.
Erst am frühen Morgen haben wir uns getraut, nach Hause zu gehen, um für ein paar Stunden zu schlafen. In diesen intensiven Tagen nach...
| Erscheint lt. Verlag | 27.5.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Alexander Lukaschenko • Autokratie • Kampf für Unabhängigkeit • Minsk • Polizeigewalt • Revolution • Unterdrückung • Wahlfälschung • Weißrussland |
| ISBN-10 | 3-95890-480-7 / 3958904807 |
| ISBN-13 | 978-3-95890-480-4 / 9783958904804 |
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