- RITWA - mit 45 geboren (eBook)
348 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-347-63687-3 (ISBN)
1 Ja, ich hab getrunken
1.1 Frühjahr 2016 in der Klinik
Ich glaub das gerade nicht! Hat er das jetzt wirklich gesagt?! Ja, er hat! Und zwar vor versammelter Mannschaft! Ich bin sprachlos. Und ich schäme mich. Und es macht mich wütend. Doch ich lächle, was sich eher wie ein hilfloses Grinsen anfühlt. Ich lächel nach außen, doch in mir drin schreit es.
Ich befinde mich in einer Reha-Klinik zur Langzeitentwöhnung und Behandlung alkohol-, drogen-, medikamenten- und/oder mehrfach abhängiger Frauen und Männer ab einem Alter von 18 Jahren. Im Augenblick bilden ca. 20 Leute eine „Seminar-Gruppe“. Da sitzen die erst seit wenigen Wochen trockenen AlkoholikerInnen sowie ihre Angehörigen zusammen an einem Tisch während eines sogenannten „Angehörigenseminars“. Hier soll den Angehörigen das „Krankheitsbild“ des Alkoholabhängigen näher gebracht werden.
Es ging gerade um den „Notfallkoffer“. Jeder bereits einmal therapierte Suchtmensch kennt ihn und weiß, wovon ich rede. Wenn Du davon noch nie etwas gehört oder gelesen hast, will ich es mit wenigen Sätzen erklären: Der Notfallkoffer ist kein Koffer in dem Sinne, wie wir ihn zum Beispiel bei Urlaubsreisen mit uns herumtragen.
Das Wort „Koffer“ ist mehr als eine Art Sinnbild zu verstehen, ein „Tool“ für den „Notfall“, auf den zugegriffen werden kann, bevor ein bereits aufkeimendes Verlangen nach Alkohol zu einem nicht auf haltbaren Rückfall wird. Er besteht unter anderem aus einer Liste von verschiedenen, sogenannter Ressourcen. Sie sind so etwas wie Skills bzw. „Werkzeuge“ und sollen helfen, einem drohenden Rückfall einigermaßen adäquat zu begegnen. Also Möglichkeiten zur Intervention, zur Ablenkung und Ent →Spannung, wenn das Verlangen nach dem Suchtmittel – in unserem Fall eben Alkohol – droht, aus dem Ruder zu laufen. So befinden sich eben auch diverse Telefonnummern von Freunden, Bekannten, Verwandten in diesem Koffer, die im Notfall angerufen werden dürfen, bevor der trockene Alkoholiker wieder zur Flasche greift.
Quasi eine Anlaufstelle für: „Hilfe, mir geht’s nicht gut. Und ich hab Angst, rückfällig zu werden. Ich habe Suchtdruck und wünsche mir von Dir Hilfe.
1.2 (M)ein Umgang mit Suchtdruck
Kleine Warnung: Ich beschreibe hier jetzt meinen Umgang mit Suchtdruck. An dieser Stelle übernehme ich keinerlei Verantwortung für missglückte Selbstversuche des geneigten Lesers mit ähnlicher „Problematik“. Ihr seid erwachsen und könnt Euch selbst am besten einschätzen. Denn …
… diese „Methode“ setzt ein gewisses Maß an "Vorarbeit" und Erfahrung voraus. Und zwar die Erfahrung, dass durch bewusstes Fühlen und Zulassen von Emotionen, die wir als schwierig oder sogar zum Weglaufen furchteinflößend erleben, die wir sonst stets weggedrückt haben, dass diese Emotionen dann ihre Power, ihren Schrecken verlieren. Sie können sich schlussendlich sogar komplett auflösen. Auch hier war es Robert Betz, der mir diese Tür öffnete, als er davon sprach, wie wichtig es ist, unsere Gefühle zu durchfühlen, statt sie weghaben zu wollen.
Daher bitte ich an dieser Stelle darum, sich gegebenenfalls in kompetente Begleitung zu begeben. Es ist Deine Aufgabe, gut für Dich selbst zu sorgen. Dazu gehört unter anderem eben auch, bei Bedarf Hilfe zu beanspruchen.
Wenn ich also Suchtdruck verspüre, schaffe ich mir möglichst sofort eine Möglichkeit, in der ich für etwa fünf Minuten ungestört bin und auch die Augen schließen kann. Das kann durchaus auf dem Stillen Örtchen sein. Oft ist das der einzige Rückzugsort, der auch als solcher respektiert wird.
Ich beginne einen inneren Monolog:
"Ok. Ich habe jetzt gerade Appetit auf Alkohol. Das darf sein! Es ist völlig in Ordnung. Dieser „Druck“ will mich vor Schmerz bewahren, vor meiner Unsicherheit beschützen, meiner Angst, vor dem Gefühl „nicht richtig“ zu sein. Dafür bin ich dankbar. Ja, ich fühle Dich (Suchtdruck). Du darfst da sein."
Dabei stelle ich mir den Suchtdruck als eine Art kleines, quängelndes Wesen vor, dass mich am Hosenbein oder Rockzipfel zupft, die Ärmchen nach mir ausstreckt und einfach nur umarmt, einfach nur geliebt werden will. Und genau das tu ich dann auch. Vor meinem inneren Auge nehme ich dieses Wesen liebevoll in die Arme und wiege es wie ein Baby. Mein „Baby“, meine Konstruktion, meine für so lange Zeit einzige Strategie, um scheinbar Unaushaltbares aushaltbar zu machen.
Indem ich hinschaue, es annehme, es sogar als meine eigene Schöpfung liebevoll in die Arme nehme, erlebe ich eine Befriedung (nicht Befriedigung). Der Suchtdruck verliert seine Power, weil er mir keine Angst mehr macht und verschwindet letztlich sogar.
Und heute, fünfeinhalb Jahre nach dem letzten Schluck, ist Suchtdruck für mich Geschichte. Ich gelte sogar als „geheilt“ und muss tatsächlich keinen Bogen mehr um Pralinen, einen Eisbecher „mit Schuss“, oder um leckere Schwarzwälder Kirschtorte machen.
Ich gebe zu, diese „Methode“ ist ungewöhnlich. Zumindest ist sie nicht das, was die alkoholabhängigen Patienten in den Kliniken und Therapien lernen. Denn auch ich habe hier gelernt, dass wir uns bei Suchtdruck ablenken sollen. Da gibt es so einige Möglichkeiten, die angeboten werden. Zum Beispiel ein Glas Wasser in einem Zug austrinken. Oder Malen, Spazieren gehen, Arbeiten, sich mit etwas beschäftigen, was Spaß macht und gut tut. Na ja, und eben auch ein Zurückgreifen auf den „Notfallkoffer“. Wir bekommen ein relativ umfangreiches Portfolio an sogenannten Skills an die Hand, um den Suchtdruck „zu vergessen“. Doch wenn das so ein effektives Mittel ist, warum wird dann von einer Rückfallquote zwischen 60% und 90% gesprochen?
Für diese immens hohe Rückfallquote sind sicherlich nicht nur die bisher bekannten und offiziell zugelassenen Therapieansätze ein Zeichen der Unwirksamkeit. Nein, sicherlich nicht. Ich halte es aber für ineffektiv genug, um sich endlich mal Gedanken über andere Möglichkeiten zu machen. Tatsache ist doch, dass Alkoholkonsum nur hinterfragt wird, wenn der alkoholtrinkende Mensch unangenehm wird. Wenn er auffällt. Wenn er in seinem Verhalten unter Alkohol zu einer Belastung für andere wird. Und wenn sein Körper so massiv darunter leidet, dass er zum Dauergast in Kliniken und Arztpraxen wird. Bis dahin scheint es sogar zum guten Ruf zu gehören, sich eben hin und wieder mal ein Gläschen zu gönnen. Oder eine Flasche. Es ist mittlerweile so gesellschaftsfähig geworden, dass der einzelne Nichttrinker spätestens bei irgendwelchen Firmen-, Familienfeiern oder sonstigen Partys im besten Fall misstrauisch beäugt wird. Oft kassiert er aber auch doofe Sprüche, die ihm klarmachen wollen, dass er „nicht richtig“ ist, 'ne Spaßbremse, einfach jemand, der den anderen Leuten die Laune verdirbt. Doch unterm Strich soll mit diesen Sprüchen ein Alibi für das eigene Verhalten geschaffen werden. Jeder der mittrinkt sorgt für eine Erleichterung des schlechten Gewissens, das sich eventuell hin und wieder meldet. Denn tief drin weiß ja der gesunde Menschenverstand, dass Alkohol nicht unbedingt gut ist, vielleicht für einen heftigen Kater und Filmriss am nächsten Morgen sorgt. Na ja, und der letzte Kontrollverlust war vielleicht auch nicht wirklich amüsant. Die Verdrängung solcher „partyfeindlichen“ und „spaßbremsenden“ Gedanken funktioniert nun mal am besten, wenn alle mitmachen.
Ach komm, einen kannste doch!
Jetzt hab dich nicht so!
Suche im TV nach einer Sitcom, nach einem Krimi, einer Komödie, nach irgendeinem Film oder einer Serie, wo Alkohol nicht zum guten Ton gehört. Sendungen, in denen dem Zuschauer nicht suggeriert wird, dass Alkohol zu Schönheit, Erfolg, Fitness, Intelligenz und Reichtum gehört, wie Müsli in einen Müsliriegel. Du wirst sie kaum finden. Und niemand scheint das irgendwie seltsam zu finden in Anbetracht der Tatsache, dass Alkohol ein Nervengift ist und bereits in überschaubaren Mengen für einen stetigen Zerfall der körperlichen Funktionsfähigkeit inklusive der Hirnleistung sorgen kann. Und nicht nur das. Das soziale Umfeld verabschiedet sich ja auch nach und nach. Lass zu, dass Alkohol Dein Leben bestimmt und Du kannst zuschauen, wie sich Job, Familie, Freunde, Dein Hirn und einige andere Organe Schritt für Schritt in Wohlgefallen auflösen. Nur Deine Probleme, die Du Dir wegtrinken willst, die lösen sich nicht auf. Die bleiben!
Ich kann mir vorstellen, dass mein weiter oben beschriebener Umgang mit Suchtdruck so klingt, als würde es den Druck erhöhen und direkt in den Rückfall führen. Denn es beschreibt ja alles andere als...
| Erscheint lt. Verlag | 20.6.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
| Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Krankheiten / Heilverfahren | |
| Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung | |
| Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Partnerschaft / Sexualität | |
| Geisteswissenschaften ► Psychologie | |
| Sozialwissenschaften ► Soziologie | |
| Technik | |
| Schlagworte | Alkohol • Alkoholabhängigkeit • Alkoholsucht • Angst • Augen • damals • Familie • finden • Frau • Gedanken • Geschichte • Glaube • Glück • Glücklich • Intuition • Kinder • Kopf • Körper • Leichtigkeit • Liebe • Mann • Mensch • Menschen • Muster • Neu • Recht • Selbstreflektion • Skills • Suche • Sucht • Suchtdruck • Tür • Unglücklich • Welt • Werkzeuge • Wissen • Zeit • Zufriedenheit |
| ISBN-10 | 3-347-63687-2 / 3347636872 |
| ISBN-13 | 978-3-347-63687-3 / 9783347636873 |
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