Kinder mit herausforderndem Verhalten (eBook)
192 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-82174-5 (ISBN)
Maja Nollau, Diplom-Heilpädagogin, ist freiberuflich als Heilpädagogin tätig, arbeitet als Fachberaterin und gibt Weiterbildungen in pädagogischen Einrichtungen; außerdem ist sie Dozentin für Heilpädagogik im Fachbereich Inklusion an der Johanniter-Akademie Mitteldeutschland in Leipzig.
Maja Nollau, Diplom-Heilpädagogin, ist freiberuflich als Heilpädagogin tätig, arbeitet als Fachberaterin und gibt Weiterbildungen in pädagogischen Einrichtungen; außerdem ist sie Dozentin für Heilpädagogik im Fachbereich Inklusion an der Johanniter-Akademie Mitteldeutschland in Leipzig.
2.
Wie entsteht herausforderndes Verhalten?
In diesem Kapitel erfahren Sie
- welche Faktoren die Entstehung herausfordernden Verhaltens beeinflussen
- wie über unterschiedliche Ursachen und Ansätze herausforderndes Verhalten erklärt wird
- welche Erkenntnisse aus den Erklärungsmustern besonders hilfreich für die (heil-)pädagogische Arbeit sind
Fällt ein Kind durch unangemessene, störend erscheinende Verhaltensweisen auf, muss nach den Ursachen dafür geforscht werden. Um herausforderndes Verhalten zu erklären, werden mehrere Denk- und Erklärungsmuster genutzt. Dazu zählen verschiedene Alltagstheorien, unterschiedliche wissenschaftliche Theorien und/oder individuelle berufliche Erfahrungen. Den Ausgangspunkt bilden folgende Fragen:
- Warum verhält sich das Kind so?
- Was sucht es damit zu erreichen?
- Was verursacht dieses Verhalten bzw. liegt ihm zugrunde?
- Welchen Sinn und Zweck hat dieses Verhalten?
- Welche Bedeutung hat dieses Verhalten für das Kind, aber auch für die Menschen, die es begleiten?
Nicht selten basiert pädagogisches Handeln auf einem Gemisch aus verschiedenen Analysen und Theorien. Die wichtigsten Ansätze finden Sie in diesem Kapitel.
2.1 Ursachenanalyse: Risiko- und Schutzfaktoren in der Entwicklung
Grundsätzlich beginnt die Erklärungssuche für auffälliges Verhalten eines Kindes bei den Ursachen, die das Verhalten beeinflussen. Versteht man das Kind als bio-psychosoziale Einheit, so lassen sich verschiedene Faktorengruppen nennen, die in ganz spezifischen, sich gegenseitig beeinflussenden Wechselwirkungen stehen und bestimmend für das Verhalten sind. Je nach individueller Ausprägung und Zusammenspiel können sie zu Ressourcen werden oder als Risikofaktoren für die Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten wirksam werden:
- Biologische Faktoren: genetische Dispositionen, etwa zur Ausprägung autistischer Verhaltensweisen, von Depressionen oder verlangsamter Gehirnreifung; Aktivitätsniveau (Hyperaktivität oder ADS); Dopamin- und Serotoninhaushalt; Antriebskraft und Reizbarkeit; Sensibilität oder Überempfindlichkeit; Wahrnehmungsverarbeitung; prä-, perioder postnatale Schädigungen (z. B. Hirnschädigungen); Temperament des Kindes; unerkannte Beeinträchtigungen; Behinderungen, etwa in Bereichen der Sinnesorgane und Sinnestätigkeit (Seh-, Hörvermögen, Bereich der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung) etc.
- Psychische Faktoren: insbesondere Mutter-Kind-Interaktion, mangelnde oder unpassende Zuwendung im Säuglings- und Kleinkindalter, Vernachlässigung und gestörte Bindung an Bezugspersonen, Traumatisierung etc.
- Soziale und Umweltfaktoren: kulturelle Bedingungen und Erwartungen, Reizüberflutung im Sinne einseitiger Überstimulierung (materielle Übersättigung – Kind als Konsument – Animation), Mangel an strukturierenden Reizen etc.
Je höher die Anzahl der Risikofaktoren bei einem Kind ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Verhaltensauffälligkeit ausprägt und entwickelt.
Der Entwicklungsprozess unterliegt vielfältigen sozialen Risiken, die von der Mehrzahl der Kinder ohne daraus entstehende Entwicklungsschwierigkeiten bewältigt oder kompensiert werden (vgl. Beelmann & Raabe 2007, S. 51). In der Entwicklung eines Kindes können folglich sowohl risikoerhöhende als auch risikomildernde Faktoren bestimmt werden. Dabei beeinflussen die persönlichen Anlagen und die jeweilige – insbesondere soziale – Umgebung, wie und in welcher Intensität die Faktoren ausgeprägt sind.
Die Faktoren können sich belastend oder unterstützend auf die Entwicklung eines Kindes auswirken. Somit können sie als Belastungen oder Ressourcen verstanden werden. Zwei wichtige Fachbegriffe sind in diesem Zusammenhang die kindbezogenen Faktoren Resilienz und Vulnerabilität.
Abbildung 6: Risiko- und Schutzfaktoren in der Entwicklung (vgl. Leyendecker 2008 in: Greving & Ondracek 2009, S. 199)
Als Schutzfaktoren (risikomildernde Faktoren) werden personale Ressourcen wie gute Impulskontrolle, das Verkraften von Belohnungsaufschub, ausgeprägtes Neugierverhalten, Aufmerksamkeit – auch in unstrukturierten Situationen –, positives Selbstwertgefühl, aktives Bewältigungsverhalten und stabile Selbstwirksamkeitsüberzeugung ausgemacht.
Zu den sozialen Ressourcen zählen zum Beispiel stabile emotionale Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson, offenes, unterstützendes Erziehungsklima und familiärer Zusammenhalt. Modelle positiver Konflikt- oder Krisenbewältigung sowie soziale Unterstützung, positive Freundschaftsbeziehungen und positive Schulerfahrungen können als umfeldbezogene Ressourcen identifiziert werden. Als bedeutendster Schutzfaktor gilt eine verlässliche, stabile, emotional warme, wertschätzende Beziehung zu mindestens einer (erwachsenen), idealerweise elterlichen Bezugsperson.
Untersuchungen der modernen Resilienzforschung zeigen, dass sogenannten kompensatorischen Bezugspersonen, wie Fürsorgepersonen aus dem Familien- oder Bekanntenkreis, Pflege- bzw. Adoptiveltern, aber auch pädagogische Fachkräfte, Betreuerinnen und Lehrerinnen eine große Bedeutung in der Resilienzentwicklung eines Kindes zukommt. Dabei ist v.a. entscheidend, wie die Beziehung gestaltet ist.
Resilienz
Heute existieren mehr als einhundert verschiedene Definitionen von Resilienz. Im Wortstamm abgeleitet vom lateinischen „resilire“ (zurückspringen, abprallen), bezeichnet Resilienz - in der Medizin, Psychologie und Heilpädagogik – den Prozess und die Fähigkeit der Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung seelischer Gesundheit während oder nach belastenden oder krisenhaften Lebensumständen. So wird Resilienz als seelische Widerstandskraft und Fähigkeit des Menschen verstanden, Krisen und Belastungen so zu bewältigen, dass er an diesen nicht zerbricht, sondern gestärkt daraus hervorgeht.
Resilienz ist kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, sondern wird im Laufe eines Menschenlebens aus der Interaktion mit seinen Bezugspersonen und realen positive Bewältigungserfahrungen entwickelt. Von besonderer Bedeutung sind dafür die ersten Lebensjahre.
Die positive Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, Krisen und Belastungen, unter anderem von besonders herausfordernden Alltagssituationen oder Übergängen (z.B. vom Elternhaus in die Kindertagesstätte, von der Kita in die Schule) wirkt sich stärkend auf die kindliche Entwicklung aus. Zur Bewältigung stehen einem Kind optimalerweise die genannten Schutzfaktoren als Kompetenzen zur Verfügung. Dabei sind für die Bewältigung krisenhafter, herausfordernder oder belastender (Alltags-)Situationen sechs personale Kompetenzen besonders bedeutsam:
Abbildung 7: Personale Kompetenzen zur Bewältigung krisenhafter Erfahrungen
Resilienz bezeichnet zudem die Fähigkeit eines Menschen, sich mit psychischer Robustheit und Elastizität an veränderte Bedingungen anzupassen (Anpassung als Assimilations- und Akkomodationsprozess). Resilienz wird auch als dynamischer Prozess positiver Entwicklung unter nachteiligen Bedingungen verstanden (vgl. Beelmann & Raabe 2007, S. 53).
Insbesondere in der Auseinandersetzung mit kindlicher Entwicklung bedeutet dieser Prozess, die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken zu erhöhen. Dabei sind folgende Faktoren entscheidend:
- Resilienzförderliche Haltung des erwachsenen Gegenüber
- Tragfähige, entwicklungsförderliche Beziehung mit einer verlässlichen Bezugsperson
- Stärken- und ressourcenorientierte Wahrnehmung des Kindes (Stärken stärken)
- Unterstützende, ermutigende Begleitung
- Über- und Unterforderung vermeiden
- Alltags- und Lebensweltbezogenheit
- Positive Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen
Die Qualität der persönlichen Resilienz entwickelt sich aus dem Zusammenspiel genetischer Faktoren und den jeweils vorhandenen Umweltbedingungen. Zu den wesentlichen Schutzfaktoren zählt neben der entsprechenden genetischen Disposition (kindbezogen) eine stabile emotionale Bindung zu mindestens einer Bezugsperson (umgebungsbezogen). Den regulierenden frühen Bindungsbeziehungen kommt dabei eine hohe kompensatorische Bedeutung zu, gerade bei genetisch schwächerer Disposition (vgl. Rass 2011, S. 38).
Eine hohe Resilienz wirkt risikomildernd und senkt damit die Wahrscheinlichkeit der Ausprägung oder den Grad der Schwere einer Verhaltensauffälligkeit. Jedoch genügt Resilienz nicht, wenn (mittel- oder langfristig) entwürdigende, “unmenschliche“, unaushaltbare Lebensbedingungen und –zustände vorliegen. Hier gilt es die Bedingungen zu verändern.
Fallbeispiel für Resilienz
Der fünfjährige Sami besucht seit seinem zweiten Lebensjahr eine integrative Kindertagesstätte. Er ist ein freundlicher, ausgeglichen und zurückhaltend wirkender, begeisterungsfähiger, interessierter Junge. Sami ist das siebte und jüngste Kind einer alleinerziehenden Mutter. Das sechste Kind starb bei einer unbegleiteten Hausgeburt. Die drei ältesten Geschwister sind in einer Wohngruppe untergebracht. Die Mutter lebt aufgrund...
| Erscheint lt. Verlag | 17.8.2020 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Vorschulpädagogik |
| Schlagworte | Aggression • Auffälligkeit • Bedürfnisorientierte Pädagogik • das schwierige kind • Entwicklung • Frühpädagogik • Haltung • Handlungskompetenz • Kind • Kindergarten • Kinderschutz • Kindertageseinrichtung • konflikte mit kindern lösen • verhaltensauffällige Kinder |
| ISBN-10 | 3-451-82174-5 / 3451821745 |
| ISBN-13 | 978-3-451-82174-5 / 9783451821745 |
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