Warum der Antisemitismus uns alle bedroht (eBook)
208 Seiten
Patmos Verlag
978-3-8436-1124-4 (ISBN)
Dr. Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschaftler. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet und leitet das Referat 'Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten und Projekte Nordirak' im Staatsministerium Baden-Württemberg. Für seinen Blog wurde er 2009 von den führenden Wissenschaftsbloggern mit dem Scilogs-Preis ausgezeichnet; als erster Deutscher wurde er in das internationale Forschernetzwerk der Evolutionary Religious Studies berufen. 2015/16 verantwortete er das Sonderkontingent des Landes für schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak. Er hat über Religion und Hirnforschung ('Neurotheologie') promoviert. Er wurde von der Landesregierung Baden-Württemberg zum ersten Beauftragten gegen Antisemitismus in Deutschland berufen. Michael Blume lehrt Medienethik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und bloggt bei den scilogs von Spektrum der Wissenschaft.
Dr. Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschaftler. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet und leitet das Referat "Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten und Projekte Nordirak" im Staatsministerium Baden-Württemberg. Für seinen Blog wurde er 2009 von den führenden Wissenschaftsbloggern mit dem Scilogs-Preis ausgezeichnet; als erster Deutscher wurde er in das internationale Forschernetzwerk der Evolutionary Religious Studies berufen. 2015/16 verantwortete er das Sonderkontingent des Landes für schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak. Er hat über Religion und Hirnforschung ("Neurotheologie") promoviert. Er wurde von der Landesregierung Baden-Württemberg zum ersten Beauftragten gegen Antisemitismus in Deutschland berufen. Michael Blume lehrt Medienethik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und bloggt bei den scilogs von Spektrum der Wissenschaft.
Der gefährliche Weg
zu den dunklen Seiten unseres Herzens
Annäherungen
»Ich habe keine unumstößliche Theorie über die Anfänge des Antisemitismus. […] Alles, was ich mit fester Überzeugung sagen würde, ist, daß der Antisemitismus zum größeren Problem des Nationalismus gehört, das noch nicht ernsthaft untersucht worden ist, und daß der Jude offensichtlich als Sündenbock herhalten muß, obwohl wir noch nicht wissen, wofür.«
George Orwell (1945)1
»Existierte der Jude nicht,
der Antisemit würde ihn erfinden.«
Jean-Paul Sartre (1944)2
Vielleicht kommen Ihnen einige der folgenden Fragen bekannt vor: Warum geht es in Geschichtsschreibung und Politik eigentlich immer wieder so viel um Juden? Ist der Antisemitismus nicht auch nur eine Variante des Rassismus, wie es ihn auch gegenüber anderen Menschengruppen gibt? Warum heißt es eigentlich »Antisemitismus« und nicht einfach nur »Judenhass«? Wird jetzt auch jede Kritik an der Politik Israels zum Antisemitismus erklärt? Warum sollte das Phänomen des Antisemitismus auch noch im 21. Jahrhundert besonders relevant oder sogar gefährlich sein? Heißt es nicht schon seit Jahrzehnten in ständigem Alarmismus, der »Antisemitismus nehme besorgniserregend zu« und habe »die Mitte der Gesellschaft erreicht«? War er denn je woanders? Und warum wirken antisemitische Propagandastücke oft so faszinierend und eindrucksvoll, viele Reden und Gedenktermine gegen den Antisemitismus aber oft so unsäglich langweilig?
Als ich vor 20 Jahren gemeinsam mit Murat Aslanoĝlu das erste Mal durch die Sicherheitsschleuse der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs schritt, war ich noch ein junger, werdender Bankkaufmann und brachte viele dieser Fragen mit. Murat und ich waren die Vorsitzenden einer frisch gegründeten Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG), in der sich vor allem junge Menschen christlichen und islamischen Glaubens zum damals neuen Dialog in deutscher Sprache zusammengefunden hatten. Doch zu unserer Verblüffung gab es auch unter jungen Leuten einige muslimische und christliche Stimmen, die dafür plädierten, diesen christlich-islamischen Dialog »gegen die Juden« zu führen. Denn an allen Problemen zwischen den Religionen, an allen Kriegen seien doch am Ende »die« schuld.
Wir hatten persönlich noch keine bewussten Beziehungen zu Jüdinnen und Juden, fanden es aber intuitiv unfair, Menschen zu verurteilen, die dazu nicht einmal angehört worden waren. Und im Dialog zwischen Christen und Musliminnen hatten wir doch erfahren, dass nichts besser gegen Vorurteile half als direkte Begegnungen! Also riefen Murat und ich in jugendlichem Überschwang einfach bei der jüdischen Gemeinde an, stellten uns vor und fragten an, ob »jemand« dort Zeit für ein Gespräch mit uns finden würde.
Dieser Jemand empfing uns mit schlohweißem Haar und strahlenden Augen – der damalige Vorsitzende Meinhard Tenné freute sich enorm über das Interesse junger Christen und Muslime und nahm sich in der Bibliothek der Gemeinde für uns Zeit. Zwischen deutschen und hebräischen Schriften wurden wir Freunde und zogen bald gemeinsam als »die drei Ms« (Murat, Meinhard und Michael) brückenbauend durch Veranstaltungen und Gotteshäuser.
Der Holocaust-Überlebende Meinhard beschrieb und begründete in seiner Autobiografie »Aus meinem Leben« später unser jahrelanges gemeinsames Engagement. Meinhard hatte den Hass des Antisemitismus in vielfachen Formen erlebt und engste Angehörige verloren. Er war der Meinung, Angehörige von Judentum, Christentum und Islam müssten sich für »eine Entgiftung im Verhältnis der Religionen zueinander« engagieren.3 Gemeinsam mit immer mehr Freundinnen und Freunden aus den »abrahamitischen« Religionen und dem christlichen Stifterpaar Lisbeth und Karl-Hermann Blickle entstanden so in jahrelanger Arbeit auch bleibende Institutionen wie der Verein »Haus Abraham« und das Stuttgarter Lehrhaus.4
Die vielen guten Begegnungen und Gespräche jener Jahre mit jüdischen, islamischen, christlichen, anders- und nichtglaubenden Freundinnen und Freunden trugen dazu bei, dass ich mich schließlich von der Banklaufbahn verabschiedete und Religionswissenschaft studierte, darin aufblühte und promovierte. Meiner Frau Zehra – einer Deutschtürkin sunnitischer Konfession – bin ich bis heute unendlich dankbar, dass sie mich bei diesem Sprung ins auch beruflich Ungewisse ermutigt und unterstützt hat.5
Antisemitismus – Nur ein Thema der Vergangenheit?
Zunächst war ich unter Ministerpräsident Erwin Teufel für den Aufbau eines damals völlig neuen Regierungsdialoges mit Muslimen zuständig. 2005 übertrug mir Ministerpräsident Günther Oettinger die Moderation nach dem Fund eines Massengrabes jüdischer KZ-Opfer am inzwischen US-amerikanischen Militärflughafen in Stuttgart. Es war ein schwieriger und komplexer Verhandlungsprozess mit sehr unterschiedlichen Akteuren, aber am Ende war er erfolgreich. Zur würdevollen Wiederbestattung der 34 Mordopfer im Dezember 2005 kamen über 400 Menschen zusammen – christliche, jüdische, anders- und nichtreligiöse Bürgerinnen und Bürger, Politiker und Journalistinnen, Geistliche, US-Militärs und Polizistinnen sowie Angehörige der Ermordeten aus der ganzen Welt.
Nicht nur der ehemalige KZ-Häftling Benjamin Gelhorn hatte Tränen in den Augen, als er vom Rollstuhl aus das Totengebet für seine Kameraden sprach. Er hatte uns berichtet, dass die Gefangenen einander ein »ehrliches Begräbnis« versprochen hatten, falls irgendjemand das NS-Regime überleben würde. Und Gelhorn hatte sich Jahrzehnte später auch darum bemüht, sich aber nicht mehr an die genaue Lage des Gräberfeldes erinnern können und es nicht gewagt, die bewaffneten Soldaten anzusprechen. Nun konnten er und sein Mitüberlebender Eugen Stern das einstige Versprechen im hohen Alter doch noch erfüllen.
Die Grabrede hielt der einstige aschkenasische Oberrabbiner Israels, Meïr Lau, auch er ein KZ-Überlebender. Er rief dazu auf, die Schoah nie zu vergessen und allen neuen Formen des Antisemitismus zu widerstehen. So wünschte er, der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad möge »diese Gräber sehen und verstehen!« Lau benannte die NS-Täter und die Taten, sprach aber auch von jenen wenigen Deutschen, die gegenüber den Verfolgten Barmherzigkeit geübt hatten. Und plötzlich wandte er sich uns Heutigen zu und rief: »Es gibt eine neue Generation und ein neues Denken, und wir sind zur alten Freundschaft zurückgekehrt.«6
Zu meinem Optimismus der folgenden Jahre trug sicher auch bei, dass mir nach dem erfolgreichen Abschluss der Vermittlung zur Zuständigkeit für den Dialog mit Muslimen auch jener für das Judentum und bald für weitere religiöse und ethnische Gruppen übertragen wurde. Ich durfte an den Verhandlungen für einen ersten Staatsvertrag des Landes Baden-Württemberg mit den jüdischen Gemeinden ebenso mitwirken wie dann auch an jenen mit dem Landesverband der Sinti und Roma. In Stuttgart konnte wieder eine jüdische Grundschule eröffnet, konnten handgeschriebene Torarollen angeschafft und durch jüdische und nichtjüdische Honoratioren vollendet werden.
Gemeinsam mit dem damaligen Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, durfte ich als Streitschlichter in der Repräsentanz der jüdischen Gemeinde zu Württemberg beim Wiederaufbau der Synagoge in Ulm wirken. Dass alle Jüdinnen und Juden immer unter einer Decke stecken würden, kann ich also aus eigener, intensivster Erfahrung mit Fug und Recht bestreiten – in Synagogen geht es ganz genauso zu wie in Kirchen und Moscheen! Und so wurde 2012 im Beisein von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Bundespräsident Joachim Gauck wieder eine Synagoge in der Geburtsstadt von Albert Einstein eröffnet! Ich war beseelt und voller Optimismus …
Digitales Wiederaufblühen von Verschwörungsglauben
Da ich als Religionswissenschaftler im Staatsministerium beruflich unabhängig war, konnte ich mich nach der Doktorarbeit zu Religion und Hirnforschung in meiner Freizeit auf die internationale Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen stürzen.7
Als Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten arbeitete ich zudem viel zum Verschwörungsglauben, der durch das Internet neuen Auftrieb erhielt. In rasendem Tempo kapselten sich Menschen online in bizarren Mythenwelten ein, nach denen Regierungen »Chemtrail«-Gifte versprühen ließen, die Queen die Anführerin reptiloider Außerirdischer sei und sich im Kinofilm »Matrix« geheime Hinweise auf die finsteren Pläne der Illuminaten fänden. Damals fanden meine Studierenden und ich das noch eher faszinierend als bedrohlich.
Gern erinnere ich mich an ein Seminar an der Universität Jena. Auf ein kurzes Video über moderne Freimaurer-Verschwörungsmythen hatten die religiösen und nichtreligiösen Studierenden gemeinsam so interessiert reagiert, dass ich den restlichen Semesterplan kurzerhand umbaute und 2013 dann ein eBook zu »Freimaurern, Rosenkreuzern und Illuminaten« veröffentlichte. Ich fand: Wenn schon die Verschwörungsverkünder das Internet benutzten, so sollten wir Wissenschaftler ihnen eben auch genau dort die Stirn bieten. Aufklärung schien mir dringlich, aber machbar. Das Internet würde sich, so meinte ich, schon richten.
Den Antisemitismus nahm ich damals noch eher als eine Variante unter vielen wahr, beispielsweise...
| Erscheint lt. Verlag | 18.3.2019 |
|---|---|
| Verlagsort | Ostfildern |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Antijudaismus • Christentum • interreligiöser Dialog • Judentum • Muslime • Mythos • Populismus • Religionsgeschichte • Rotschild • Semiten • Semitismus • Verschwörungstheorien |
| ISBN-10 | 3-8436-1124-6 / 3843611246 |
| ISBN-13 | 978-3-8436-1124-4 / 9783843611244 |
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