Innehalten im Geiste der Alexander-Technik, des Voice Dialogue und des Zen (eBook)
336 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783769360615 (ISBN)
Der Autor Helmut Rennschuh ist gelernter Diplom-Physiker. Die Entdeckung des Nicht-Tuns (Non-Doing) beim Klavierspielen und die Begegnung mit der Alexander-Technik haben sein Leben grundlegend verändert. Seit 1996 unterrichtet er diese Methode und bildet seit 2021 Alexander-Lehrerinnen und -Lehrer aus. Bisher erschienen sind: Das Richtige geschieht von ganz allein (2010), Klavierspielen, Alexander-Technik und Zen (2011), Innehalten (2013) und Die Kraft des Nicht-Tuns (2021).
Teil II
Eine neue Art innezuhalten
Abschnitt 4
Balance
Einblick 4
Zusammenwirken alter und neuer Gehirnteile
Unser Verhalten entsteht im Zusammenspiel der im Einblick 2 vorgestellten Gehirnteile. Es gibt schöne Bilder, um sich dies zu veranschaulichen. Jonathan Haidt vergleicht unseren bewussten Anteil mit einem Reiter – präfrontale Rinde – auf dem Rücken eines Elefanten, der diesem hilft, bessere Entscheidungen zu treffen.1 Der Elefant steht dabei für das Stammhirn, aber mehr noch für das limbische System. Ein anderes Bild liefern Rick Hanson und Richard Mendius mit der Vorstellung, dass wir – als präfrontale Rinde, d.h. als unser bewusster Anteil – mit einem „Eidechsen‐Eichhörnchen‐Affen‐Gehirn“ in unserem Kopf leben und dass dieses aus so verschiedenen Teilen zusammengesetzte Gehirn in einem von unten nach oben laufenden Prozess unsere Reaktionen formt.2
Natürlich ist es unangemessen, unsere älteren Gehirnteile als eine Art evolutionären Ballast zu betrachten. Tatsächlich geschehen hier die wesentlichen Steuerungsfunktionen unseres Körpers. Es ist genauso irreführend, in unserem Gehirn vor allem ein wundervolles Denkorgan zu sehen, das einen Körper zu seiner Versorgung braucht. Diese veraltete Vorstellung ist das Ergebnis einer dualistischen Sicht, die Geist und Materie getrennt betrachtet und auf Descartes (1596–1650) zurückgeht. Da wir heute immer noch von diesem geistigen Erbe beeinflusst sind, ist es hilfreich, sich eine modernere und realistischere Sicht der Dinge vor Augen zu führen.
Es erscheint wie eine sehr weise Einrichtung, dass die alten Gehirnteile unsere elementaren Überlebensfunktionen steuern und dass in Gefahrensituationen, wo es auf blitzschnelles Reagieren ankommt, selbst noch der in seinem Denken und Bewusstsein so weit entwickelte Mensch automatisch auf das „Wissen“ der alten Gehirnteile zurückgreifen und unbewusst angemessen reagieren kann. Auch in vielen Sportarten – wie etwa dem Tennisspiel – sind die Reaktionszeiten so kurz, dass ein bewusstes Handeln nicht möglich erscheint.3 Selbst unsere Koordination – unsere Haltung und Bewegung – ist ohne die alten Gehirnteile undenkbar. Jede bewusste Bewegung ist begleitet von unzähligen Ausgleichsreaktionen, die unser Gleichgewicht bewahren und als ein unbewusstes Geschehen im Hintergrund ablaufen.
Um die alte dualistische Sicht zu überwinden, die Körperliches und Geistiges als getrennt betrachtet und den Körper zu einer Art materiellem Ballast herabstuft, hilft es, tiefer in die Struktur des Gehirns hineinzuschauen. Der Hirnforscher Gerald Hüther betont oft in seinen Vorträgen, dass die Hauptaufgabe unseres Gehirns nicht das Denken ist, sondern die Steuerung des Organismus und seine Lebenserhaltung. Neben der Aufrechterhaltung lebenswichtiger Grundfunktionen steuern die oben beschriebenen Schichten ein umso komplexeres Geschehen, je weiter außen sie liegen. So erzeugt:
- der Hirnstamm Reaktionsmuster,
- das limbische System (insbesondere der Thalamus) Handlungsmuster,
- die Großhirnrinde Verhaltensmuster und
- die präfrontale Rinde Einstellungen und Grundhaltungen.4
Dabei wirkt die nächsthöher liegende Schicht jeweils als eine Art Metaebene, die den Aktivitäten der unteren Schichten Sinn gibt und sie zu komplexen Mustern zusammenfasst.5 Wenn beispielsweise der Anblick eines schlangenartigen Tiers ein Gefühl der Angst in uns auslöst, so wird dieses Gefühl vom limbischen System gesteuert. Das limbische System koordiniert dabei unter anderem Aktivitäten im Stammhirn, welche ihrerseits eine Reihe von elementaren körperlichen Reaktionen – vgl. Schreckmuster6 – erzeugen. Wenn wir nun daraufhin erkennen, dass es sich bei dem Tier um eine Blindschleiche handelt, und uns klarmachen, dass von dieser keine Gefahr für uns ausgeht, so ist das eine Aktivität des Kortex, welche das Gefühl von Angst, das im limbischen System erzeugt wurde, stoppt.7
Bei dem hierarchischen Aufbau des Gehirns kommt der präfrontalen Rinde als der Spitze des Schichtsystems, das im Laufe der Evolution entstanden ist, eine Schlüsselrolle zu. Sie erzeugt die komplexesten Erregungsmuster im Gehirn, indem sie ein Geschehen in den unteren Schichten verbindet und koordiniert. Im Unterschied zu den anderen Schichten hat die präfrontale Rinde keine spezifischen einfachen Funktionen. Daher ging die Hirnforschung lange Zeit davon aus, dass dieser Teil des Gehirns überflüssig sei.8 Die Forscher hatten durch elektrische Reizung einzelner Gehirnteile während Gehirnoperationen für alle anderen Bereiche spezifische Funktionen ermitteln können. Die komplexe Arbeitsweise der präfrontalen Rinde hingegen, ließ bei einer Erregung von außen keine einfachen Reaktionen im Menschen erkennen.
Kapitel 4
Innehalten während einer Aktivität
Aus den Wolken muß es fallen,
Aus der Götter Schoß das Glück,
Und der mächtigste von allen
Herrschern ist der Augenblick.
Schiller, aus dem Gedicht „Die Gunst des Augenblicks“
Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
Schiller, Ästhetische Erziehung
4.1 Zwei Arten von Innehalten
In der bisherigen Darstellung haben wir das Innehalten vor allem als ein Mittel kennengelernt, durch das die Hektik und die übergroße Zielstrebigkeit unseres Lebens ausgeglichen werden kann. Im Folgenden werden wir einen Aspekt des Innehaltens näher betrachten, der am Beispiel des Weges zum Bahnhof zutage trat. Es handelt sich um die Tatsache, dass das Innehalten nicht mit einer Pause oder einer Verlangsamung verbunden sein muss, sondern auch während einer Aktivität möglich ist. Diese kann in der gewohnten Geschwindigkeit ablaufen, bekommt aber durch das Innehalten eine andere Qualität.
Wie wir weiter unten sehen werden, zeigen manche Sportler und Musiker eine Art natürliche Veranlagung zum Innehalten, indem sie in einem hochkomplexen und sehr schnell ablaufenden Geschehen zu ruhen scheinen. Viele trainieren ihre innere Ruhe und ihre Übersicht durch mentales Training, vollkommene Automatisierung der Bewegung und das Üben stark verlangsamter Bewegungen. Im Kapitel 6 werden wir sehen, wie man das Innehalten im Tun erfahrbar und damit leichter lernbar machen kann.
Wenn wir das Innehalten, wie wir es in den vorangegangenen Kapiteln kennengelernt haben, und die hier beschriebene neue Art gegenüberstellen, so kann sich leicht der Eindruck einstellen, es handele sich um zwei gänzlich verschiedene Arten des Innehaltens: zum einen das mit Urlaub, Wandern, Pausen, Meditation, Sich‐Zeit‐Nehmen und Entschleunigung unseres Lebens verbundene Innehalten vom Tun, zum anderen das mit Ruhen in der Aktivität, Flow, überlegenem Handeln und meisterlicher Vollkommenheit verbundene Innehalten im Tun.
Tatsächlich ähneln sich beide Arten in ihrer Verbundenheit mit dem Hier und Jetzt. Finden wir im ersten Fall zur Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments, indem wir uns von unserer Geschäftigkeit wenigstens zeitweise lösen, so verbinden wir uns im zweiten Fall mit dem Augenblick, indem wir uns in der Aktivität von der Zielstrebigkeit lösen.
Obwohl die zweite Art des Innehaltens keinerlei Extrazeit oder Pausen erfordert, benötigen wir im Lern‐ und Übungsprozess Zeit, um diese Art des Innehaltens zu erlernen und zu verinnerlichen.1 Es scheint jedoch auch besonders Begabte – besser gesagt: ungestört Herangewachsene2 – zu geben, die ein hohes Maß an natürlichem Innehalten als kostbare „Gabe“ mitbringen und die ihren Bewegungen als Sportler oder ihrem Instrumentalspiel dadurch eine besondere Qualität verleihen. Einige Beispiele dafür sind in den Abschnitten 4.4 und 4.6 zu finden.
4.2 Beispiel Ausdauersport: Laufen
Es liegt nahe, das Laufen vor allem als eine Fortbewegung zu verstehen, die uns schnell ans Ziel führen soll. Das vermitteln uns auch zahlreiche sportliche Wettkämpfe, Meisterschaften oder die Olympischen Spiele. Sie finden ein breites Interesse in der Öffentlichkeit, denn Wettbewerb und der Kampf um den Sieg genießen hohes Ansehen. Bei genauerem Hinschauen lässt sich allerdings feststellen, dass viele Läufer wenigstens bei den längeren Strecken in der Bewegung zu ruhen scheinen. Sie bewegen sich zwar mit großen, schnellen Schritten, doch scheinen sie dabei mit ruhigem Oberkörper in der Luft zu schweben. Ihr Oberkörper bleibt bis auf kleine rotierende Bewegungen der Schultern und des Beckens, die jeweils der Arm‐ oder Beinbewegung folgen, in Ruhe. Je eleganter und leichter sich ein Läufer bewegt, desto größer ist diese Ruhe.
Selbst der Sportler, der ein Rennen gewinnen möchte, muss analysieren, wie effektiv seine Bewegungen in jedem Moment sind. Der Wille allein, Erster zu sein, reicht als treibende...
| Erscheint lt. Verlag | 6.12.2024 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
| Schlagworte | Alexandertechnik • Alexander Technik • Jetzt • Wuwei • Zen |
| ISBN-13 | 9783769360615 / 9783769360615 |
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