Ick dank dir och schön! (eBook)
132 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-05274-2 (ISBN)
Rita Feinkohl ist seit über 30 Jahren Unternehmerin und zertifizierte Trainerin für Persönlichkeitsentwicklung. Mit »Ick dank dir och schön!« stellt sie ihre unglaubliche Geschichte zur Verfügung und macht Menschen in ähnlichen Lebenslagen Mut. Zudem gibt sie einen Einblick in die Wirksamkeit ihrer täglichen Arbeit und wie Rudi sie bis heute prägt. »Was ich mit Rudi erlebt habe, ergänzt die wissenschaftlich fundierten Methoden meiner Arbeit auf perfekte Weise. Mir gelingt es, durch Menschen ?hindurchzuschauen? und sie auf tiefer Ebene zu verstehen, sodass sie mit einem Problem zu mir kommen und nach wenigen Minuten die Erkenntnis erlangen, nach denen sie zuvor jahrelang gesucht haben.«
Rita Feinkohl ist seit über 30 Jahren Unternehmerin und zertifizierte Trainerin für Persönlichkeitsentwicklung. Mit »Ick dank dir och schön!« stellt sie ihre unglaubliche Geschichte zur Verfügung und macht Menschen in ähnlichen Lebenslagen Mut. Zudem gibt sie einen Einblick in die Wirksamkeit ihrer täglichen Arbeit und wie Rudi sie bis heute prägt. »Was ich mit Rudi erlebt habe, ergänzt die wissenschaftlich fundierten Methoden meiner Arbeit auf perfekte Weise. Mir gelingt es, durch Menschen ›hindurchzuschauen‹ und sie auf tiefer Ebene zu verstehen, sodass sie mit einem Problem zu mir kommen und nach wenigen Minuten die Erkenntnis erlangen, nach denen sie zuvor jahrelang gesucht haben.«
TEIL 1
UNTER DEM EINFLUSS ZUSTÄNDIGER VERANTWORTLICHER WAR DIE BETREUUNG NICHT NUR ›NICHT PASSEND‹, SONDERN FALSCH.
DAS WERDE ICH AUF EWIG IN ALLER DEUTLICHKEIT SO AUSSPRECHEN.
ICH WERDE KEINE LÜGE ZUR WAHRHEIT MACHEN.
Kapitel 1: Trautes Heim?
»Schmeckt’s?«
Rudi gluckste vergnügt. In der Cafeteria schien ihn jeder zu kennen. »Na, Rudi? Heut mit einer Dame unterwegs?«, fragte eine freundliche Bedienung und servierte Erdbeerkuchen mit Sahne. Es war Ende März des Jahres 2000. Meine Tochter Jasmin war gerade sieben Jahre alt und mit mir zu Besuch in Rudis Wohnstätte, einem Behindertenwohnheim im Norden Berlins. Wir hatten uns auf den Weg gemacht, um die Welt kennenzulernen, die ihm in den letzten fünf Jahrzehnten aufgebaut wurde – und waren überwältigt von all den Eindrücken und Menschen, die uns zunickten oder skeptisch beäugten. Mitten im Leben – hallo, Rudi!
Um zu verstehen, was wir dort suchten, gehen wir in der Zeit zurück. Zwei Wochen genügen; am 9. März waren wir auf Vatis 80. Geburtstag eingeladen. Er feierte opulent und ließ auch seinen Bruder Rudolf einfliegen, gemeinsam mit einem seiner Betreuer und einer seiner Schwestern. Ich lief ihm unverhofft in die Arme und verliebte mich in ihn.
Er nannte mich Edith, warum auch immer, und seine Knollnase, seine Kapitänsmütze und seine Fliege hatten es mir angetan. Vor allem war es sein Blick, seine Warmherzigkeit und seine Sprache.
All das löste etwas in mir aus … bedingungslose Liebe vom ersten Moment an. Als mir mein Vater erklärte, dass Rudi einer seiner ›verlorengegangenen‹ Brüder sei, erinnerte ich mich blass … ja, da war was.
Ein behinderter Onkel. Jetzt, wo er vor mir stand, machte alles Sinn. Der war es! Mich packte das schlechte Gewissen, mich nicht schon früher nach ihm erkundigt zu haben. Aber jetzt war er da – und wir genossen das Fest in vollen Zügen, keine Zeit für Grübelei.
Beschwingt und glücklich vereinbarten wir ein baldiges Wiedersehen. Mir war klar, dass ich Rudi nicht einfach Good Bye hätte sagen können, zu sehr hatte ich ihn ins Herz geschlossen. Ich war fasziniert von ihm und gespannt, wie er sich in seinem Heim in Berlin eingerichtet hatte. Ich wusste nichts, weder über seine persönliche Biografie noch allgemein, wie man mit Behinderten umgehen sollte. In mir wechselten sich Neugier und das Verlangen ab, ein geöffnetes mysteriöses Kapitel noch ein wenig weiterlesen zu können …
♦
Zwei Wochen später stand ich mit Jasmin auf der Matte. Wir holten Rudi auf seiner Stube ab und gingen mit ihm in die Cafeteria, um uns bei einem Stück Kuchen zu akklimatisieren. Die ersten Minuten waren angespannt – jedenfalls für mich, alles war neu, die Umgebung, auch mit Rudi fremdelte ich, war es doch das erste Mal, dass ich einem geistig behinderten Menschen unbegleitet gegenüber saß. Die Angestellten begrüßten Rudi und tuschelten untereinander. Wer wohl die Frau und das Kind an seiner Seite war? Ich arrangierte mich mit der Situation. Die Bedienung erzählte, dass Rudi häufiger da sei, Kuchen essen und leere Pfandflaschen abgeben würde. Ich konnte das alles nicht einordnen und lächelte zurückhaltend.
Leere Pfandflaschen? »Ich bin seine Nichte«, stellte ich mich vor. »Ich besuche meinen Onkel heute zum ersten Mal. Schön habt ihr es hier – das Gelände ist riesig« – »Oh ja«, seufzte die Angestellte und räumte das Gedeck vom Tisch.
»Bloß nicht verlaufen! Aber Rudi kennt sich ja hier aus. Ick wünsch’ euch ein’ juten Nachmittag!« Ich mochte die Berliner Unverbindlichkeit. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu einem Rundgang über das Gelände. Rudi wollte uns seine kleine Welt zeigen.
Das Klinikgelände unterteilte sich in mehrere Bereiche. Neben einer geschlossenen Abteilung, in der er über 55 Jahre seines Lebens verbracht hatte, gab es einen Arbeitsbereich, in dem die Bewohner einer körperlichen Arbeit nachgehen konnten. Zudem war da eine Wohngruppe, in der auch Rudi untergebracht war. Sie wurde 1997 von einer Person gegründet, die im weiteren Verlauf dieser Geschichte noch eine Rolle spielen wird.
So viel Ungerechtigkeit … aber bevor ich mich in Rage schreibe, erzähle ich weiter, später mehr dazu. Rudi war damals der erste Bewohner dieser Gruppe und kam dort hinein, weil der Gründer vorher sein behandelnder Arzt war. Die Wohngruppe war das Aushängeschild eines neu gegründeten Vereins, und in der Folge werde ich Rudis Heim auch nur noch ›Verein‹ nennen; gemeint ist stets der Bereich des Klinikgeländes, in dem Rudi leben und wirken konnte.
Wir spazierten weiter. Es war ein sonniger Tag und trotzdem begegneten wir kaum Menschen. Das Gelände umfasste mehrere tausend Quadratmeter, und nur hin und wieder sahen wir andere Bewohner, ein irrer Kontrast. An einem Hof ›erklärte‹ uns Rudi mit leuchtenden Augen, dass er im Winter den Schnee geräumt hatte. Ich setze die Anführungszeichen, weil Rudis Kommunikation besonders und voller Überraschungen war.
Die meisten Worte artikulierte er undeutlich, viele Sätze blieben für mich komplette Rätsel. Früh sagte er zu mir: »Du bist mein Schwein!« – ein Kompliment und »Zeichen seiner Wertschätzung«, wie mich der Betreuer grinsend aufklärte. Rudis Sprache zu entschlüsseln wurde zu einem wiederkehrenden Leitmotiv.
Einen Menschen, der sich nur unverständlich ausdrücken konnte, verstehen, ihn durchleuchten, obwohl er über Jahrzehnte wie weggesperrt war – das prägt mein Denken bis heute, und ich werde im Laufe der Erzählung immer wieder darauf zurückkommen.
An seinem Arbeitsbereich angekommen, deutete er auf eine an der Wand stehende Schippe und erzählte, mit dieser geschlagen worden zu sein. Ich war verdutzt. Geschlagen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Mein Herz wollte Rudi blind vertrauen, doch mein Verstand mahnte zur Vorsicht.
Es sollte sich früh genug herausstellen, dass Rudi mit fast allem recht gehabt hatte, unter anderem, weil ich die Erzählungen Unbeteiligter sowie die Protokolle, die seinen Werdegang und seine Fortschritte dokumentierten, übereinanderlegte. Das wusste ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht – ich sah die Schippe und war perplex.
Es ging weiter, Rudi ließ nichts anbrennen. Er führte uns in ein größeres Gebäude mit kleinen Lädchen, in denen die Bewohner Kleidung kaufen konnten. Was mich zunächst entzückte, enttäuschte mich auf den zweiten Blick aufgrund der minderen Qualität. Aber nun gut – ich war eine Lernende und hatte all das nicht zu bewerten. Ich war froh, dass Rudi sich freute, uns seine Welt zeigen zu können. Er hatte tatsächlich sein eigenes Reich geschaffen – und Jasmin und ich watschelten nebenher und versuchten, uns darin zurechtzufinden.
♦
Wieder im Außenbereich sah ich, was es mit den Pfandflaschen auf sich hatte, und auch mit den Münzen, die verstreut auf den Gehwegen lagen: Passanten warfen von außen manchmal leere Flaschen über den Zaun. Eigentlich respektlos, aber für Rudi ein Grund zur Freude.
Er machte Limonade draus – sprichwörtlich gemeint. Er sammelte sie ein und tauschte sie in der Cafeteria gegen bares Geld, von dem er sich Kuchen oder Kakao leisten konnte. Clever – und beeindruckend. Derartigen Perspektivwechseln würde ich in den nächsten Monaten häufiger begegnen: aus dem Schlechten etwas Gutes zaubern …
Der letzte Tagesordnungspunkt war die kleine Kapelle, in der gerade ein Gottesdienst pausiert war. Wir traten ein und der Pastor strahlte, als er Rudi sah. »Rudi, das ist ja schön, dass Sie wieder zu uns finden!«, rief er warmherzig, und Rudi redete irgendwas vor sich hin – seine Art, Freude auszudrücken. »Und Sie, werte Begleiterin? Besuchen Sie ihn heute? Sind wir uns schon mal begegnet?«
Wir kamen ins Gespräch und er berichtete, wie froh er war, dass Rudi jede Woche an Veranstaltungen teilnehmen würde. Ich erzählte ihm, dass ich seine Nichte sei und Rudi erst kürzlich kennengelernt hätte. »Wirklich?«, reagierte er verwundert. »In all den Jahren habe ich Rudi tatsächlich mal mit einer Frau gesehen, aber … das waren dann offenbar nicht Sie. Wie auch immer – schön, dass Sie zu uns gefunden haben. Kommen Sie jetzt öfter?«
Der Gottesdienst ging weiter und wir nahmen daran teil. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Rudi und konnte meine Bewunderung kaum an mich halten. Ein 60-jähriger Mann, der kein Wort verstand, aber doch andächtig war, als hätte er die Veranstaltung persönlich organisiert.
Er bewegte seinen Mund zum Gesang, faltete seine Hände zum Gebet – und fiel auf die Knie. Das alles rührte mich, offenbar war sein Leben doch heller, als ich befürchtet hatte. Begeistert von Rudis reiner und ehrlicher Spiritualität verabschiedete ich mich nach dem Gottesdienst vom Pastor. Er sagte, wir können uns jederzeit an ihn wenden, Rudi auch, wenn ich nicht da sei. Himmlisch! Wir verließen die Kapelle und ich brachte Rudi zurück zu seinem Zimmer. Es dämmerte und wir waren ganz schön geschafft.
Zum ersten Mal mit einem Schwerbehinderten zusammen zu sein, der mir viel unverständliches Zeug ins Ohr redete und bei dem ich zu jeder Sekunde aufpassen musste, dass ich ihm physisch und akustisch folgen kann … so etwas kannte ich bis dato nicht. Trotz dieser Umstände war ich hin und weg.
Wie er in der Kapelle saß, den Erdbeerkuchen zerschnitt, uns alles erzählte und dabei so lebendig wirkte, weil er sich freute, jemandem seine Stätte zeigen zu können – ich wusste, dass hier der Grundstein für etwas Großes gelegt worden war.
♦
In der darauffolgenden Zeit besuchte ich Rudi oft. Ich schaffte es nicht jede Woche, aber...
| Erscheint lt. Verlag | 13.10.2023 |
|---|---|
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Sachbuch/Ratgeber | |
| Schlagworte | Angst • Arbeit • Augen • Blick • Ende • Familie • Frau • Gesicht • Hand • Heimleitung • Herz • Jahre • Jahren • Liebe • Mann • Mensch • Menschen • Moment • Neuen • oft • Paar • pflegern • Sagen • Tag • Tagesbetreuung • Tür • Welt • Wissen • Zeit |
| ISBN-10 | 3-384-05274-9 / 3384052749 |
| ISBN-13 | 978-3-384-05274-2 / 9783384052742 |
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