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Im Schatten meines Großvaters -  Angela Findlay

Im Schatten meines Großvaters (eBook)

Von Krieg, Trauma und dem Vermächtnis des Schweigens
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
432 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
9783958905603 (ISBN)
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1987 betrat die 23-jährige Deutsch-Britin Angela Findlay ein Gefängnis und fühlte sich sofort und auf unerklärliche Weise, als ob sie dorthin gehörte. Jahrelang hatte sie unter Schuldgefühlen gelitten und sich unbewusst selbst bestraft, weil sie sich für einen 'schlechten Menschen' hielt. Doch nun begann sie, nach den Ursachen dafür zu forschen, und ihre Suche führte sie schließlich nach Nazi-Deutschland und in das Leben ihres toten Großvaters, des Wehrmachtsgenerals Karl von Graffen. In Im Schatten meines Großvaters erforscht die Autorin die Vererbbarkeit unbewältigter Erfahrungen, stellt tief verwurzelte Vorstellungen von Gut und Böse infrage und deckt die weniger bekannte Geschichte der Kriegsverlierer, eine Nachkriegskultur der Beschönigung und das bleibende Erbe der Schande auf. Anhand ihrer eigenen Familiengeschichte erforscht Findlay eine Episode der Geschichte, die nach wie vor erschüttert und fasziniert, und zeigt, dass es möglich ist, die Narben eines Traumas nicht nur über Generationen hinweg weiterzugeben, sondern auch zu heilen.

Angela Findlay, geboren 1964, Künstlerin und Vortragsrednerin, wächst als Tochter einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters auf. Wegen ihrer Abstammung leidet sie zusehends unter Schuldgefühlen, weil sie sich für einen 'schlechten Menschen' hält. Jahrelang unterrichtet sie Kunst in Gefängnissen und fühlt sich hier 'unter anderen Schuldigen' am wohlsten. Mit 40 rückt das Leben ihres Großvaters, des Wehrmachtsgenerals Karl von Graffen, in den Mittelpunkt ihres Lebens, und sie beginnt mit der langwierigen Aufarbeitung der Familienerlebnisse. Ihre Zeit 'hinter Gittern' und später als Kunstkoordinatorin für die in London ansässige Wohltätigkeitsorganisation Koestler Arts hat ihre Forschung über die generationsübergreifenden Folgen von ungelösten Traumata, von verdrängter Schuld und Scham geprägt. Seit über einem Jahrzehnt hält sie Vorträge und schreibt über dieses Thema sowie über Nachkriegserinnerung, Aufarbeitung und Versöhnung. Im Schatten meines Großvaters ist ihr erstes Buch. Herwig Engelmann, geb. 1967 in Wien, studierte Geschichte und Publizistik in Wien, Aix-en-Provence und Boston. Er lebt als Übersetzer für Englisch und Französisch mit seiner Familie in Berlin.

Angela Findlay, geboren 1964, Künstlerin und Vortragsrednerin, wächst als Tochter einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters auf. Wegen ihrer Abstammung leidet sie zusehends unter Schuldgefühlen, weil sie sich für einen "schlechten Menschen" hält. Jahrelang unterrichtet sie Kunst in Gefängnissen und fühlt sich hier "unter anderen Schuldigen" am wohlsten. Mit 40 rückt das Leben ihres Großvaters, des Wehrmachtsgenerals Karl von Graffen, in den Mittelpunkt ihres Lebens, und sie beginnt mit der langwierigen Aufarbeitung der Familienerlebnisse. Ihre Zeit "hinter Gittern" und später als Kunstkoordinatorin für die in London ansässige Wohltätigkeitsorganisation Koestler Arts hat ihre Forschung über die generationsübergreifenden Folgen von ungelösten Traumata, von verdrängter Schuld und Scham geprägt. Seit über einem Jahrzehnt hält sie Vorträge und schreibt über dieses Thema sowie über Nachkriegserinnerung, Aufarbeitung und Versöhnung. Im Schatten meines Großvaters ist ihr erstes Buch. Herwig Engelmann, geb. 1967 in Wien, studierte Geschichte und Publizistik in Wien, Aix-en-Provence und Boston. Er lebt als Übersetzer für Englisch und Französisch mit seiner Familie in Berlin.

Vorwort


Nicht wissen, was vor unserer Geburt geschehen ist, heißt ewig Kind bleiben. Denn was ist das Leben der Menschen, wenn es nicht durch die Erinnerung an die alte Zeit mit dem Leben des Früheren zu einem Ganzen verwoben wird?

Marcus Tullius Cicero, Orator

1. Februar 1945


IN DER BRANDENBURGISCHEN KLEINSTADT Jüterbog reißt eine Mutter ihre zehnjährige Tochter aus dem Schlaf. Es ist vier Uhr morgens. Das Mädchen, noch ganz benommen, soll sich schnell anziehen. Sie müssen sofort aufbrechen. Eine Puppe darf es sich zum Mitnehmen aussuchen. Die Tochter zögert. Soll sie ihre alte, heiß geliebt-abgenutzte Puppe mitnehmen oder die neue, die ihr der Vater aus Italien geschickt hat? In einem spontanen Entschluss, den sie später noch bereuen wird, schnappt sie die neue Puppe und wird im nächsten Moment zusammen mit ihrer achtjährigen Schwester ins Auto gepackt, Richtung Norden nach Berlin. Große Teile der Stadt liegen schon in Schutt und Asche.

Es ist noch dunkel, als sie am Bahnhof ankommen. Die Mutter sieht sich um, sucht das hektische Gedränge der Masse von Fremden in Mänteln nach einer bestimmten Person ab: einem Mann, der einen Rucksack mit sechs Taschen trägt. Er soll ihre Kinder zu Verwandten nach Norddeutschland in Sicherheit bringen.

Die jüngere Tochter hat Hunger und klagt, dass ihre Schuhe drücken. Die Frau sieht sich um, ob sie irgendwo Brot kaufen kann, als sie den Mann erspäht. Er drängt zur Eile und geht Richtung Bahnsteig. Die Mutter hält in der einen Hand einen kleinen Koffer, in der anderen die Hand der jüngeren Tochter. Dem älteren Mädchen schärft sie ein, sich an ihrem Mantelsaum festzuhalten, damit sie nur ja nicht verloren gehe. So trippeln die drei mitten in dem Geschiebe und Gedränge der Leute voran, denn alle wollen mit dem Zug raus aus der Stadt, und die Tochter klammert sich an den Mantelzipfel ihrer Mutter, als hänge ihr Leben davon ab.

2. Mai 1945


Im Gasthof des verschlafenen italienischen Nests La Stanga am Südrand der Dolomiten starrt ein 52-jähriger Wehrmachtsgeneral in die Glut des Feuers vom Vorabend und saugt Zigarettenrauch tief in seine Lungen ein. Er hält ihn länger zurück als üblich, wirft dann die Kippe in die Asche und tritt hinaus in den kühlen Maimorgen. Er strafft seinen Mantel unterm Gürtel und zieht die Offiziersmütze tief ins Gesicht, um seine Augen zu beschatten. Hitler ist seit drei Tagen tot, und das deutsche Oberkommando in Italien hat eine bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Heute um zwei Uhr Nachmittag werden die Kampfhandlungen eingestellt. Sein Krieg ist endlich vorbei, aber dem General ist klar, dass er und seine Männer noch lange nicht nach Hause kommen werden.

Zuerst wird er mit der etwas weiter westlich stationierten amerikanischen Infanterie die Übergabe der Waffen, Pferde und Soldaten aushandeln. Er wird darum bitten, dass seine Männer – acht Divisionen mit ungefähr 30 000 Soldaten – ihre Gewehre einstweilen behalten dürfen, um sich gegen italienische Partisanen zu wehren, die in den Bergen weiter auf sie schießen. Als Nächstes wird er den Transport, die Benzinzuteilung und Verpflegung organisieren.

Die Bergluft fühlt sich frisch an, doch weiter unten im Süden ist es bestimmt schon sehr viel wärmer. Seine bislang letzte Unterkunft war komfortabel, aber als Kriegsgefangener wird er einige Abstriche machen müssen. Nach Tausenden von Kilometern quer durch Russland, Polen und Italien macht er sich nun auf den Weg zu seinen neuen Befehlshabern.

3. August 1987


Vor dem Gefängnis Long Bay Gaoul in Sydney, Australien, steht eine zweiundzwanzigjährige Frau und hämmert an die wuchtige Tür. Sie trägt eine Mappe mit Fotos von Wandmalereien bei sich, und der schwarze Stoffeinband klebt an ihrem nackten Arm. Ein Guckloch öffnet sich, und ein Auge mustert die Frau von oben bis unten, bevor sich die Klappe wieder schließt. Die Tür klafft einen Spaltbreit auf, gerade weit genug, um ihre schmächtige Gestalt einzulassen. Im Inneren führt sie ein Wärter über einen gepflasterten Innenhof und durch mehrere verriegelte Tore. Jetzt kann sie die Männer auch schon riechen: ungewaschene Socken, ranzige Bartstoppel, Testosteron. Als der Wärter sie in einen weiteren Innenhof mit noch mehr vergitterten Fenstern führt, beginnt ihre Anspannung nachzulassen. Vier Häftlinge stehen dort vor einer riesigen kahlen Wand und blinzeln ins grelle Sonnenlicht. Die aufkommende Furcht wird von einem Gefühl der Erleichterung verdrängt – einer Erleichterung, als wenn man nach einem langen Fußmarsch die drückenden Wanderstiefel auszieht.

Seit Jahren sucht sie Abhilfe gegen dieses unerklärliche Gefühl ihrer Schlechtigkeit. Auf einmal spürt sie es ganz deutlich: »Das ist es!«

Weniger als eine Minute nachdem »Little Boy« über Hiroshima ausgeklinkt wurde, explodierte die erste Atombombe der Welt. »Um Gottes willen, was haben wir getan?«, schrieb einer der Besatzungsmitglieder der B-29, die sie abgeworfen hatte, ins Bordbuch, während eine Pilzwolke 80 000 Japaner auf der Stelle tötete. Drei Tage später ging »Fat Man« über Nagasaki nieder und versetzte dem Feind den letzten, vernichtenden Schlag. Keine fünf Wochen später war der Zweite Weltkrieg offiziell zu Ende.

Doch er war längst nicht vorbei.

In dem selben Maße wie der atomare Fallout weiter strahlte und seine Opfer forderte, dauerte auch der Krieg an: Nach außen nicht sichtbar verseuchte er die Körper und Seelen von Generationen, wie noch jeder gewaltsame Konflikt zuvor seine Spuren in Form von Traumata hinterlassen hat. Doch in diesem verheerendsten aller Kriege waren die Opfer unter der Zivilbevölkerung erstmals größer als bei den Streitkräften. Es waren Unbewaffnete, die ein nie da gewesenes Ausmaß an Verwüstung und Brutalität erlitten, ob Männer, Frauen oder Kinder. Viele von ihnen konnten später nie über das sprechen, was sie erlebt hatten.

Kaum hatte sich das Chaos der Kämpfe gelegt, schüttelten die Überlebenden den Staub ab und begannen, an den ständig drohenden plötzlichen Tod gewöhnt, aus den Trümmern ihrer Häuser und den in Schutt und Asche gelegten Städten wieder ein normales Leben aufzubauen. Dabei wurde der quälende Schmerz über die eigenen Verluste und die verwüstete Heimat in den europäischen Ländern der Alliierten teilweise vom Jubel über den Sieg betäubt. Die Menschen dort konnten den Opfern ihrer Angehörigen und Freunde eine Bedeutung abgewinnen, und ihre Regierungen gingen daran, diese Sinnstiftung in die Geschichtsbücher zu gravieren. Sie machten daraus eine Erzählung vom Triumph über das Böse, über ein Böses, wie man es bis dahin nicht gekannt hatte. Sie bemühten den Nationalstolz als Wappnung gegen die Härten des Lebens. So rechtfertigten sich auch taktische Entscheidungen, die Hunderttausende Zivilisten ums Leben gebracht hatten. All die Opfer waren es am Ende doch wert gewesen.

Für die Verluste und Opfer der Deutschen gab es keinen Balsam dieser Art – nur immer düsterere Färbungen von Wut und Verachtung, je mehr die Welt die grauenhafte Wahrheit über Hitlers Wirken erfuhr. Soldaten der Wehrmacht wurden in stacheldrahtbewehrten Lagern zusammengetrieben. Nazis schlüpften aus ihren verräterischen Uniformen und mischten sich unter die Massen ausgezehrter, nach Westen fliehender Menschen. Zivilisten wühlten in den Trümmern ihrer Städte nach Nahrung und allem, was sie verbrennen konnten, um sich warm zu halten. Mit dem Tod des »Führers« stürzten die NS-Ideologie und ihre Verheißung eines Tausendjährigen Reichs in sich zusammen. Die feindlichen Besatzer schossen nun nicht mehr mit Granaten, dafür aber mit Schuldvorwürfen wegen allzu willfährigen Gehorsams. Ein Nebel verstockten Schweigens senkte sich über die Gesellschaft und die Familien. Und da sich aufseiten der Sieger kaum jemand für das Leid der Feinde interessierte, lernten deutsche Männer, Frauen und Kinder, das Erlebte zu Bündeln zu schnüren, es sorgfältig zu verpacken und wegzulegen.

Jahre später fanden ihre Kinder und Enkel diese Bündel in den hintersten Winkeln der Familienkeller und fingen an, sie auszuwickeln.

Ich berichte hier von drei Generationen einer Familie, deren Leben eng verwoben sind mit dem schrecklichsten Kapitel unserer Geschichte. Das zehnjährige deutsche Mädchen, das vor den sowjetischen Armeen floh, war meine Mutter Jutta. Der General der Wehrmacht war mein Großvater Karl. Und die junge Frau, die erst in einem Gefängnis zu sich selbst fand, bin ich.

Ich habe meinen Großvater nie kennengelernt. Er starb eine Woche nach meiner Geburt. Dennoch hatte ich schon immer das Gefühl, dass es zwischen uns eine besondere Verbindung gibt. Es kam mir vor, als legte mein Großvater wie ein Staffelläufer nach seiner letzten Runde irgendetwas in meine Hände. Es...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2023
Übersetzer Herwig Engelmann
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte Angela Findlay • Aufarbeitung • Blitzkrieg • Deutsche Geschichte • deutschen Nazi-Vergangenheit • Erbe der Schande • Familiengeschichte • Flucht • Gefängnis • Gut und Böse • Holocaust • Kriegsverbrechen • Kriegsverlierer • Nachkriegskultur der Beschönigung • Narben eines Traumas • Nationalsozialismus • NATO • NS-Zeit • Ostfront • Scham • Schuld • Schweigen in der Familie • Soldaten • Sühne • Transgenerationales Trauma • Trauma • Unternehmen Barbarossa • Vererbbarkeit unbewältigter Erfahrungen • Vergangenheitsbewältigung • Vergebung • Versöhnung • Wehrmacht • Zweiter Weltkrieg
ISBN-13 9783958905603 / 9783958905603
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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