Der Mann, der aus dem Fenster sprang (eBook)
335 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-016-7 (ISBN)
Ludwig Lugmeier, geb. 1949 in Kochel am See (Oberbayern), erwarb sich schon früh einen legendären Ruf. Er überfiel Geldtransporte, ihm gelangen mehrere Coups, seine Raubüberfälle mit Komplizen galten als die spektakulärsten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Februar 1976 schrieb die gesamte deutsche Presse über ihn, nachdem er während seines Prozesses aus dem Fenster des Gerichtssaales gesprungen und entkommen war. Nach langen Gefängnisaufenthalten erschien 1992 Lugmeiers Roman 'Wo der Hund begraben ist' (Stroemfeld/Roter Stern), ein Sittengemälde aus dem Oberbayern der Nachkriegszeit. Heute lebt Ludwig Lugmeier als Schriftsteller, Märchenerzähler und Stummfilmvorführer in Berlin.
Ludwig Lugmeier, geb. 1949 in Kochel am See (Oberbayern), erwarb sich schon früh einen legendären Ruf. Er überfiel Geldtransporte, ihm gelangen mehrere Coups, seine Raubüberfälle mit Komplizen galten als die spektakulärsten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Februar 1976 schrieb die gesamte deutsche Presse über ihn, nachdem er während seines Prozesses aus dem Fenster des Gerichtssaales gesprungen und entkommen war. Nach langen Gefängnisaufenthalten erschien 1992 Lugmeiers Roman "Wo der Hund begraben ist" (Stroemfeld/Roter Stern), ein Sittengemälde aus dem Oberbayern der Nachkriegszeit. Heute lebt Ludwig Lugmeier als Schriftsteller, Märchenerzähler und Stummfilmvorführer in Berlin.
eins
MEINE GROSSMUTTER HIESS MARIE HAVLITSCHEK. Wenn sie nach Kesselberg kam, stand ich am Fenster und hielt nach ihr Ausschau. Unten waren der Hof, die Brücke und der Wald, der sich den Jochberg hochzog. Wenn sie zur Brücke kam, hörte ich das Klappern des Messers in ihrer Milchkanne und lief die Treppe hinunter. Dann gab sie mir die Kanne. Ich nahm den Deckel ab und hielt das Messer in der Hand. Es war ein schönes Messer. Ich hielt es gerne in der Hand. Es hatte einen hölzernen Griff und eine lange Klinge. Neben der Haustür befand sich die Küche der Hausherrin. Darin stand ein gemauerter Herd mit einer Kupferstange außen rum und in der Ecke am Fenster ein Tisch. Frau Miele trocknete sich die Hände ab und stellte meiner Großmutter Suppe hin. Sie beugte sich über den Teller, blies auf den Löffel und aß. Dann nahm sie Spielkarten aus der Rocktasche.
»Das ist der König, das die Dame und das der Bube«, sagte sie. »Am stärksten ist der Tod. Gegen den kommt keiner an.«
Der Tod hielt in der einen Hand eine Sense und in der anderen eine Sanduhr. Sie mischte ihn unter die Karten und dann lauerte Frau Miele, bis er hervorkam. Sie beugte sich weit über den Tisch und wenn er auftauchte, rief sie: »Oh je! Da ist er!« Aber meine Großmutter schob ihn zur Seite und sagte: »Da hast gerade noch Massl gehabt.«
»Also der ist weg.«
»Fürs erste.«
Da brachte ihr Frau Miele nochmals einen Teller Suppe und erzählte vom Krieg. Ich hörte gern zu. Ich setzte mich neben den Ofen und lutschte an einem Entenei. Das Entenei war glatt und ich wollte gerne hineinbeißen, aber dann wäre es nicht mehr glatt gewesen.
»Die Amis haben gedacht, daß im Haus Soldaten sind«, sagte sie. »Sie haben hinter der Brücke gelegen und geschossen und wir haben im Keller gesessen, die Frau Zislow, ihre Kinder und die Frau Unenkel. Ihr Mann hat das Hakenkreuz nicht abnehmen wollen und wie auf München die Bomben gefallen sind, ist im Norden eine rote Glocke gewesen und im Boden hat es gerollt, grrrmmm, grrrrmmm…«
Frau Miele gab meiner Großmutter Geld und Enteneier. Dann stiegen wir nach oben. Die Treppe hatte ein weißes Geländer und die Gänge waren lang. Durch die Türen hörte ich, wie geschimpft und geredet wurde. Manchmal blieb sie vor einer stehen und malte das Malheur auf die Schwelle. Es sah aus wie ein Stern mit einem spitzen Kopf.
»Jetzt sollen sie schauen«, sagte sie.
Wir gingen zu Frau Zislow und zu Frau Hase. In jeder Wohnung roch es anders. Am besten roch es bei Fräulein Rosemarie. Dort duftete es nach Parfüm und Bohnenkaffee. Am Fenster hing eine Gardine mit roten Blumen und aus der Uhr kam zu jeder vollen Stunde ein Kaminkehrer. Über dem Bett hing ein Bild von einem amerikanischen Soldaten.
»Er hat versprochen, daß er mich heiratet«, behauptete Fräulein Rosemarie.
Meine Großmutter schaufelte sieben Löffel Zucker in die Kaffeetasse. Dann zog sie dem Fräulein Rosemarie die Wäsche hoch und legte das Ohr auf ihren Bauch. Er war rund und Fräulein Rosemarie weinte.
»Amerika«, sagte meine Großmutter, »das Kind will nach Amerika.«
»Ich auch«, heulte Fräulein Rosemarie.
»Das wird schon werden«, tröstete meine Großmutter.
Sie gab ihr ein Hexenei.
»Das schneidest in Scheiben«, sagte sie. »Dann brätst es in Butter mit Salz, Kümmel und Majoran und gibst es ihm. Wenn er fragt, was das ist, sagst eine Bratkartoffel.«
Dann schlug sie ihr die Karten. Zuletzt lag die Dame neben dem König.
»Na, was sagst jetzt, du blöde Gans?«
Da wischte sich das Fräulein Rosemarie den Rotz von der Nase und lachte.
Am Ende des obersten Gangs waren die Toilette und der gußeiserne Ausguß. Mieter standen davor und traten von einem Bein aufs andere. Der Blechlampenschirm darüber sah aus wie ein Chinesenhut. In der Wohnküche bügelte meine Mutter Wäsche. Es roch nach Kampfer. Mein Bruder hockte unterm Tisch, durch das Stragula zeichneten sich die Stöße der Dielen ab, das Fenster war mit Dampf beschlagen. Sie zeichnete ein Gesicht hinein.
»Punkt Punkt Komma Strich«, sagte sie, »rundherum das Angesicht, links und rechts zwei Ohren, so ist der Mensch geboren.«
Kaum war sie fertig, fing das Gesicht an zu weinen.
»Das ist kein Grund zum Flennen«, sagte sie und legte die Karten auf den Tisch.
Meine Mutter spuckte auf das Bügeleisen und es zischte, als wäre es lebendig. Im Radio spielte Tanzmusik. Ich spähte durch die Löcher der Bakelitabdeckung, aber statt kleiner Musikanten sah ich nur Drähte und Lämpchen. Für mich reichten fünf Karten. Der König und eine Dame, ein Bube und der Tod. Die Sieben war ich. Meine Großmutter schob den Tod nach links und nach rechts. Da war der König obenauf und die Dame unten. Aber der Tod mit seinem Knochenschädel war mal hier und mal da.
»Der wird dir im Nacken sitzen«, sagte sie. »Da hockt er und wartet. Aber jetzt, jetzt ist er, hoppla, vorbeigerannt!«
Hoppla! Ich lief die Treppe hinunter. Sollte er mich doch kriegen, der Tod, sollte er doch! Ich rannte über den Hof, zwischen den Kastanienbäumen hindurch, über die Wiese, an den Zaun und zurück. Ich stellte mir vor, wie er mir hinterherlief. Aber als er mit der Sense ausholte, schlug ich einen Haken und da rannte er weiter, schimpfte und ärgerte sich. Ich freute mich und lachte, weil der Tod so blöd ist.
Da waren die Mahagonibetten im Schlafzimmer, die mit Balken abgestützten Balkone, die Einschüsse eines Maschinengewehrs und hinter der Scheune eine zerfetzte Flak. Ich stand am Bach und über die Kieselsteine floß Wasser. Und wieder war da meine Großmutter mit der klappernden Milchkanne. Manchmal ging sie mit mir nach Altjoch. Dann rannte ich ein Stück voraus und suchte Kippen. Wenn ich eine fand, freute ich mich und brachte sie ihr. Sie legte sie in ihre Messingdose und sagte, die ist aber lang, und ich rannte wieder los.
Es war kalt dort hinten. Die Berge warfen Schatten. Auch im Sommer stand die Sonne nur ein paar Stunden zwischen Jochberg und Herzogstand. Dann kroch wieder die Kälte aus den Felsen. In die Amibaracken waren Flüchtlinge eingezogen. Auf Leinen flatterte Wäsche und an einem Strick graste eine Geiß. Dahinter ragten senkrecht die Felsen auf. Die Kinder hatten Pullover an und lauerten im Gestrüpp vor einer Höhle. Sie warfen mit Steinen und meine Großmutter drohte ihnen mit einem Stock. Den nahm sie mit, wenn wir ins Altjoch gingen, denn manchmal stand ein weißer Hund auf der Straße, bellte und fletschte die Zähne. Aber sie ging mit dem Stock auf ihn zu und verjagte ihn. Dann stieg sie die Straßenböschung hinunter und stocherte in einem Drainagerohr. Tief drinnen quietschte es.
»Das ist der Teufel«, sagte sie. »Der holt die Bangerten aus den Baracken.«
»Und den Hund?«
»Den kann er nicht holen.«
»Warum nicht?«
»Der Hund ist stärker als der Teufel. Der kriegt jeden. Aber ich bin ihm ausgekommen. Soll er nur kommen«, sagte sie und drohte mit dem Stock.
Ich spähte in die Röhre. Der Zugang zur Hölle war dunkel, aber die Augen des Teufels glitzerten wie Wassertropfen.
Ich lief an kleinen Häusern vorbei. Dann surrten die Turbinen des Walchenseekraftwerks. Die sechs Rohre kamen aus dem Walchensee, der über dem Kochelsee liegt. Sie waren aus Kupfer und dick. Eine Brücke mit einer steinernen Brüstung führte über sie hinweg. Auf dem Gelände dahinter wuchs Brombeergestrüpp. In einer Mulde lag Abfall. Meine Großmutter zerrte Kupferdrähte aus dem Müll, machte ein Feuer, brannte die Isolierung ab und knäulte die Drähte zusammen. Ich suchte Kreuzotterhäute und band sie mir um die Handgelenke. Dann gingen wir zum See.
»Für Kupferdrähte zahlt der Alteisenhändler am meisten«, sagte sie. »Für Messing zahlt er nicht so viel. Für Blei und Aluminium auch nicht. Und für Eisen am wenigsten.«
Sie dröselte die Kippen auf und zerrieb den Tabak.
»Der Tod«, sagte sie, »ist ein weißer Hund. Einmal hat mich einer gebissen, so wie der von den Baracken. Da hab ich Wundstarrkrampf gekriegt und mich nicht mehr rühren können. Alle haben gedacht, ich bin tot, und der Totengräber hat die Schaufel aus dem Schuppen geholt. Aber ich hab alles gehört und wie sie mich holen wollten, bin ich aus dem Bett gesprungen.«
Am See schien die Sonne. Die Großmutter schlief ein und schnarchte. Dann schreckte sie hoch und erzählte von ihrer Mutter, die meine Urgroßmutter war. Ich kannte alle Geschichten, aber ich wollte sie immer wieder hören, denn wenn ich nicht aufpaßte, gingen sie einmal so und dann wieder anders.
»Meine Mutter hat Klavier gespielt.«
»Geige«, sagte ich.
»Ja, Geige auch. Aber meistens hat sie Klavier gespielt. Mozart und Drei Chinesen mit dem Kontrabaß. Jedenfalls ist sie vornehm gewesen. Aber wie sie von Vaduz nach Vorarlberg Zigarren geschmuggelt hat, ist sie in eine Schlucht gestürzt und hat sich ein Bein...
| Erscheint lt. Verlag | 15.9.2014 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Abenteuer • Armut • der aus dem Fenster sprang • Der Mann • Der Mann, der aus dem Fenster sprang • Deutschland • Dieb • Diebstahl • Ein Leben zwischen Flucht und Angriff • Fenstersprung • Flucht • Frankfurt • Freiheit • Gangster • Gefängnis • Geldtransport • Ludwig Lugmeier • Oberbayern • Presse • Prozess • Raubüberfälle • Ruf • Überfall • Überfluss • Verurteilung |
| ISBN-10 | 3-95614-016-8 / 3956140168 |
| ISBN-13 | 978-3-95614-016-7 / 9783956140167 |
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