Der Fluch des weißen Grabes (eBook)
410 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783819217371 (ISBN)
Ari TUR ist promovierter Vorderasiatischer Archäologe und Altorientalist und hat zudem 25 Jahre lang in einem Medienunternehmen gearbeitet. Seit 2015 ist er als freier Schriftsteller tätig.
3: Komm, Mädel, komm – 21.03.1903
Samstag, 21. März 1903
Die Monate Januar und Februar des Jahres 1903 sind extrem kalt. Noch im März hat sich Väterchen Frost nicht zurückgezogen und haucht unentwegt seinen eisigen Atem in die Gesichter der Menschen. Endlich, nach vier verregneten Tagen, hat die Sonne ein Erbarmen und schickt am 21. März – pünktlich zum Frühlingsbeginn – ihre wärmenden Strahlen zur Erde. In Quierschied, einem Dorf im Saargebiet, in der Nähe der Stadt Saarbrücken, lockt sie die Kinder zum Spielen auf die Gassen. Auch im Quierschieder Ortsteil Glashütte ist die Umgebung vom Lachen und Lärmen der Kleinen erfüllt. Erst gegen 16 Uhr, als die Nachmittagssonne ihre Kraft verliert, treibt der kühle Abendwind die Kinder in die geheizten Stuben ihrer Eltern. Schon bald wird sich die Dämmerung mit der nahenden Nacht verbünden. War die Dorfstraße gerade eben noch mit dem Geschrei spielender Kinder erfüllt, so klappert nun nur noch ein Paar genagelter Schnürschuhe aus schwarzem Leder über den mit rohen Steinen befestigten Gehsteig. Der Hall der trippelnden Schritte endet abrupt.
»Da bist du ja endlich! Ich warte schon eine ganze Weile auf dich.«
Die Worte des Mannes klingen vorwurfsvoll, als er sich dem Mädchen mit dem dunkelblonden Zopf breitbeinig in den Weg stellt. Es weicht instinktiv einen Schritt zurück, als sich die stämmige Gestalt wie aus dem Nichts vor ihr aufbaut, und den Kragen seiner Jacke nach oben schiebt.
»Vor mir brauchst du doch keine Angst zu haben! Ich beiße nicht«, lächelt er ihr zu. Die grauen Augen des Mädchens mustern ihr Gegenüber skeptisch, der seine Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen hat.
»Gestern hast du versprochen, mir ein kleines Kaninchen zu schenken.
Den ganzen Morgen habe ich gewartet, aber du bist nicht gekommen«, antwortet sie trotzig.
»Sei nicht böse!«, beschwichtigt der Mann und setzt ein grinsendes Gesicht auf. »Ich wurde überraschend zur Frühschicht eingeteilt und konnte deshalb erst nach der Arbeit kommen. Natürlich halte ich mein Versprechen und schenke dir eines der Jungtiere.«
»Nun ist es aber zu spät«, wendet das Mädchen ein. »Meine Mutter hat mich losgeschickt, um am Waldrand Feuerholz zu sammeln. Ich muss mich beeilen, denn gleich wird es dunkel und sie braucht das Holz zum Kochen!«
»Ach, es ist doch noch hell und gar nicht weit. Der Kaninchenstall steht direkt hinter dem Haus.«
In breitem saarländischen Dialekt lockt er erneut:
»Kumm schonn, Mäde, kumm! – Komm schon, Mädel, komm!«
»Aber die Mutter ...«
Er fällt ihr ins Wort:
»Die Mutter wird schon nicht böse sein, wenn du etwas später kommst.
Es dauert ja nicht lange. Du müsstest die kleinen Kaninchen sehen! Die sind so süß! Aber gut, wenn du jetzt keine Lust hast, mitzukommen, schenke ich morgen das Jungtier einem anderen Kind.«
»Die Mutter wird mich ausschimpfen, wenn ich zu lange wegbleibe«, stöhnt die Kleine.
»Wie wäre es, wenn ich dir gleich beim Holzsammeln helfen würde?« Die Augen des Mannes glänzen und seine schmalen Lippen weiten sich. Sein schelmisches Grinsen bleibt dem Mädchen verborgen. Unsicher tippelt es von einem Bein auf das andere und spielt verlegen an seinem Zopf.
»Komm, wir besuchen zuerst den Kaninchenstall. Dort suchst du dir eins aus und danach gehen wir beide geschwind zum Waldrand. Zusammen haben wir in Windeseile mehr Holz aufgelesen als deine Mutter an zwei Tagen benötigt. Allez! Zu den Langohren! Mädel, komm!«
»Aber wirklich nur ganz kurz«, erwidert das Mädchen mit banger Stimme.
»Mach dir keine Sorgen! Deine Mutter wird staunen, wenn du nicht nur mit Holz, sondern auch noch mit einem kleinen Kaninchen nach Hause kommst.«
»Dann schnell zum Kaninchenstall!«, willigt sie ein und folgt dem Mann zur gegenüberliegenden Straßenseite. Er öffnet dort eine Gartenpforte, die sich mit leichtem Quietschen in den Angeln dreht. Das Mädchen protestiert:
»Nein, den Garten der Jeckels dürfen wir Kinder nicht betreten. Der Jeckel-Pitt hat es uns Kindern strengstens verboten. Er hat uns sogar Prügel angedroht, wenn er uns auf seinem Grundstück erwischt, denn er befürchtet, dass wir ihm die Blumen und Saatbeete zertrampeln. Weil er so garstig ist, können wir Kinder den Onkel Peter auch nicht leiden.«
»Keine Angst! Den Jeckel Peter kenne ich sehr gut. Wenn ich dabei bin, passiert dir hier nichts! Nun komm schon und lass uns gehen«, schnaubt er ein wenig ungehalten.
Ungeduldig schiebt er das Mädchen mit der Linken durch den Einlass auf das Grundstück und schaut sich noch einmal nach allen Seiten um – kein Mensch ist zu sehen. Er zieht seine Mütze noch etwas tiefer in die Stirn und tätschelt dem Mädchen den Rücken. Bei der Berührung ihrer zarten Haare beginnen seine Hände zu zittern. Sein Atem wird kürzer und geht zunehmend in ein Schnaufen über. Ist sie nicht schon eine junge Frau, sagt er zu sich selbst. Er mustert sie noch einmal ausgiebig. Groß ist sie für ihr Alter – hochgewachsen! Von Weitem könnte man sie fast für eine Erwachsene halten. Sie schaut ihn erstaunt an, als seine kräftigen Finger erneut über ihren Rücken gleiten. Vergeblich versucht sie, seinen Berührungen auszuweichen.
»Du trägst aber ein hübsches Kleidchen«, keucht er immer kurzatmiger.
»Das hat bestimmt deine Mama genäht.«
Das Mädchen nickt und streicht verlegen mit den Händen über die dunkelblaue Schürze, die ihr rotes Kleid mit den schwarzen Streifen halb verdeckt. Scheinbar zufällig streichelt er dem Mädchen erneut über das Haar und tätschelt mit einer fahrigen Bewegung ihre linke Wange.
»Oh, deine Mama ist wirklich eine tolle Schneiderin.«
Das Mädchen lächelt schüchtern und weicht einen Schritt zurück.
»Wo ist denn nun das Kaninchen?«, will das Mädchen wissen.
»Hast du noch die Zauberkugel, die ich dir vorgestern geschenkt habe?«, lenkt der Mann von ihrer Frage ab.
»Du meinst den roten Ball?«, erwidert das Kind und zieht das Spielzeug, das kaum größer ist als ein Wollknäuel, aus ihrer Kleidertasche.
Der Mann reißt ihr den Ball aus der Hand und wirft ihn mit leichtem Schwung in die Luft, um ihn mit seiner Rechten wieder geschickt aufzufangen. Noch einmal saust der Ball nach oben. Der Blick des Mädchens folgt gebannt dem Flug der Kugel, die in der Luft zu tanzen scheint und wie von Zauberhand wieder auf der schwieligen Pranke des Mannes landet.
»Jetzt du!«
Er hält dem Kind das Spielgerät vor die Nase, das noch zögert, der Aufforderung nachzukommen.
»Nimm und lass ihn fliegen!«
Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Mädchens. Gierig greift sie nach dem Bällchen, doch sein Gegenüber zieht blitzschnell seine Hand zurück.
»Ich verrate dir einen Zauberspruch – dann landet die magische Kugel immer wieder in deiner Hand. Hier bei den Blumenbeeten kann man nicht gut spielen. Lass uns vor den Ziegenstall gehen – dort ist mehr Platz für Kunststücke mit der Zauberkugel. Komm, Mädel, komm!«
»Aber es wird schon bald dunkel und Mutter wartet auf ihr Brennholz.«
»Ich habe eine tolle Idee!«, antwortet er. Seine Stimme bebt vor Erregung.
»Ich zeige dir, wie man die Zauberkugel fliegen lässt.«
»Meine Mutter wartet! Ich habe keine Zeit für Kunststücke«, erwidert das Mädchen trotzig. »Ich bin nur mitgekommen, weil du mir ein Kaninchen schenken wolltest.«
Die Stimme des Mannes vibriert und klettert beim Sprechen in die Höhe:
»Weißt du was? Ich zeige dir, wie man die Zauberkugel wirft, damit sie sich in das schönste Kaninchen verwandelt. Das gehört danach dir allein.«
»Ich darf es dann sofort behalten?«, hakt sie nach.
»Komm, Mädel, komm! Ich zeige dir jetzt, wie du die Zauberkugel in ein süßes Tierchen verwandelst.«
Das Mädchen hat in diesem Augenblick nur noch Augen für die rote Kugel, die der Mann auf seiner Handfläche balanciert. Lüstern grinsend wirft er das runde Ding in die Höhe und fängt es scheinbar mühelos auf.
»Siehst du – mit dem richtigen Zauberspruch kannst du das gleich auch!«
Der Mann lächelt ihr zu, hält ihr das Spielzeug vor die Nase und schiebt das Mädchen mit seiner Linken in Richtung des Ziegenstalls.
»Komm, Mädel, komm!«
Sie folgt seiner Stimme, vor allem aber dem Ball wie ein Hündchen, dem man ein Stöckchen vor die Nase hält. Als er die Tür zum Ziegenstall öffnet und sie zu sich winkt, fragt sie ihn mit großen Augen:
»Was soll ich bei den Geißen? Du wolltest doch mit mir zu den Kaninchen.«
Die Augen des Mannes haften auf der Kleinen, die ihm in diesem Augenblick gar nicht mehr so klein erscheint. Sie...
| Erscheint lt. Verlag | 2.6.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
| Schlagworte | Gertrud Lenhoff • Journalismus • Juden • Quierschied • Ritualmord • Saargebiet • Saarland |
| ISBN-13 | 9783819217371 / 9783819217371 |
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