Die heilige Johanna der Schlachthöfe (eBook)
176 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518784761 (ISBN)
Johanna Dark, eine Heilsarmeesoldatin, sieht die von den Fleischfabriken ausgesperrten und hungernden Arbeiter in Chicago und stößt auf der Suche nach den Gründen der Aussperrung auf den Fleischkönig Pierpont Mauler, die die Viehbörse beherrscht. Fasziniert von Johannas Idealismus, versucht er vergeblich, sie für seine Sache zu gewinnen. Johanna, schließlich auch von den Armen verstoßen, geht auf den Schlachthöfen zugrunde. Erst im Sterben erkennt sie die Vergeblichkeit sozialer Kompromisse.
Bertolt Brecht zeigt in der Heiligen Johanna der Schlachthöfe eine große Börsenspekulation in Fleisch und Vieh vor dem Hintergrund einer Überproduktionskrise. Er verlegt die Handlung auf die Viehhöfe und an die Fleischbörse Chicagos, wo infolge des weit entwickelten Kapitalismus die Widersprüche der Gesellschaft besonders deutlich werden.
Brechts Kapitalismus-Klassiker in einer schön gestalteten, preiswerten Neuausgabe - mit zusätzlichen Materialien.
<p>Bertolt Brecht wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Von 1917 bis 1918 studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Naturwissenschaften, Medizin und Literatur. Sein Studium musste er allerdings bereits im Jahr 1918 unterbrechen, da er in einem Augsburger Lazarett als Sanitätssoldat eingesetzt wurde. Bereits während seines Studiums begann Brecht Theaterstücke zu schreiben. Ab 1922 arbeitete er als Dramaturg an den Münchener Kammerspielen. Von 1924 bis 1926 war er Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. 1933 verließ Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, später nach Schweden, Finnland und in die USA. Neben Dramen schrieb Brecht auch Beiträge für mehrere Emigrantenzeitschriften in Prag, Paris und Amsterdam. 1948 kehrte er aus dem Exil nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tod als Autor und Regisseur tätig war.</p>
2
Der Zusammenbruch der großen Fleischfabriken
Vor der Lennoxschen Fleischfabrik
die arbeiter
Wir sind 70 000 Arbeiter in den Lennoxschen Fleischfabriken und wir
Können keinen Tag mehr mit so kleinen Löhnen weiterleben.
Gestern wurde wieder hurtig der Lohn gesenkt
Und heut hängt schon wieder die Tafel aus
Jeder kann weggehen, der
Mit unsern Löhnen nicht zufrieden ist.
Gehn wir doch alle einfach weg und
Scheißen auf den Lohn, der täglich geringer wird.
Stille.
die arbeiter
Lange schon ist diese Arbeit uns ekelhaft
Die Fabrik uns die Hölle und nur
Alle die Schrecken des kalten Chicagos konnten
Uns halten hier. Aber jetzt
Kann man für zwölf Stunden Arbeit nicht mehr
Das trockene Brot verdienen und
Die billigste Hose. Jetzt
Kann man gradsogut weggehn und
Schon gleich verrecken.
Stille.
die arbeiter
Wofür halten uns die? Glauben sie
Wir stünden wie Ochsen da, bereit
Zu allem? Sind wir
Ihre Deppen? Lieber verrecken doch! Auf der Stelle
Gehen wir weg.
Stille.
die arbeiter
Es muß doch schon sechs Uhr sein?
Warum nicht aufgemacht, ihr Schinder? Hier
Stehen eure Ochsen, ihr Metzger, aufgemacht!
Sie klopfen.
Vielleicht sind wir vergessen worden?
Gelächter.
die arbeiter
Aufgemacht! Wir
Wollen herein in eure
Drecklöcher und Sudelküchen, um
Den vermögenden Essern ihr
Verschmiertes Fleisch zu kochen.
Stille.
Mindestens verlangen wir
Den alten Lohn, der auch schon zu klein ist, mindestens
Den Zehnstundentag und mindestens –
ein mann geht vorüber:
Worauf wartet ihr? Wißt ihr nicht
Daß Lennox geschlossen hat?
Zeitungsjungen laufen über die Bühne.
die zeitungsjungen Der Fleischkönig Lennox muß seine Fabriken schließen! 70 000 Arbeiter brot- und obdachlos! M. L. Lennox, ein Opfer des erbitterten Konkurrenzkampfes mit dem bekannten Fleischkönig und Philanthropen Pierpont Mauler.
die arbeiter
Wehe!
Die Hölle selbst
Schließt ihr Tor für uns!
Wir sind verloren. Der blutige Mauler hält
Unsern Ausbeuter am Hals und
Uns geht die Luft aus!
p. mauler
Straße
die zeitungsjungen Chicagoer Tribüne am Mittag! Der Fleischkönig und Philanthrop P. Mauler begibt sich zu der Eröffnung der P. Maulerschen Krankenhäuser, der größten und teuersten Hospitäler der Welt!
P. Mauler geht mit zwei Männern vorbei.
ein passant zum andern: Das ist P. Mauler. Wer sind die Männer, die ihn begleiten?
der andere Das sind Detektive. Sie bewachen ihn, damit er nicht niedergeschlagen wird.
Um dem Jammer der Schlachthöfe Trost zu spenden, verlassen die Schwarzen Strohhüte ihr Missionshaus. Johannas erster Gang in die Tiefe.
Vor dem Haus der Schwarzen Strohhüte
johanna an der Spitze eines Stoßtrupps der Schwarzen Strohhüte:
In finsterer Zeit blutiger Verwirrung
Verordneter Unordnung
Planmäßiger Willkür
Entmenschter Menschheit
Wo nicht mehr aufhören wollen in unseren Städten die Unruhen:
In solche Welt, gleichend einem Schlachthaus
Herbeigerufen durch das Gerücht drohender Gewalttat
Damit nicht rohe Gewalt des kurzsichtigen Volkes
Zerschlag das eigene Handwerkszeug und
Zertrample den eigenen Brotkorb
Wollen wir wieder einführen
Gott.
Wenig berühmt nur mehr
Fast schon berüchtigt
Nicht mehr zugelassen
An den Stätten des wirklichen Lebens:
Aber der Untersten einzige Rettung!
Drum haben wir uns entschlossen
Für ihn die Trommel zu rühren
Auf daß er Fuß fasse in den Quartieren des Elends
Und seine Stimme erschalle auf den Schlachthöfen.
Zu den Schwarzen Strohhüten:
Und dies unser Unternehmen ist sicher
Das letzte seiner Art. Letzter Versuch also
Ihn noch einmal aufzurichten in zerfallender Welt und zwar
Durch die Untersten.
Sie marschieren mit Getrommel weiter.
Von morgens bis abends arbeiteten die Schwarzen Strohhüte auf den Schlachthöfen, aber als es Abend wurde, hatten sie so gut wie nichts erreicht
Vor den Lennoxschen Fleischfabriken
ein arbeiter Sie machen wieder eine große Schiebung am Fleischmarkt, heißt es. Bis die vorbei ist, müssen wir eben warten und Kohldampf schieben.
ein arbeiter In den Kontoren ist Licht. Da rechnen sie den Profit aus.
Die Schwarzen Strohhüte kommen. Sie stellen ein Schild auf, auf dem »Übernachten 20 cts«, »mit Kaffee 30 cts«, »Würstchen 15 cts« steht.
die schwarzen strohhüte singen:
Obacht, gib Obacht!
Wir sehen dich, Mann, der versinkt
Wir hören dein Geschrei um Hilfe
Wir sehen dich, Frau, die winkt.
Haltet die Autos an, stoppt den Verkehr!
Mut, ihr versinkenden Leute, wir kommen, schaut her!
Du, der du untergehst
Sieh uns, oh, sieh uns, Bruder, bevor du untergehst!
Wir bringen dir zu essen
Wir haben nicht vergessen
Daß du noch draußen stehst.
Sag nicht, es hilft nichts, denn jetzt wird es anders
Das Unrecht dieser Welt kann nicht bestehn
Wenn alle mit uns kommen und marschieren
Und kümmern sich um nichts und helfen gehn.
Wir werden auffahren Tanks und Kanonen
Und Flugzeuge müssen her
Und Kriegsschiffe über das Meer
Um dir, Bruder, einen Teller Suppe zu erobern.
Denn ihr armen Leute
Ihr seid eine große Armee!
Drum muß es sein noch heute
Daß jeder euch beisteh!
Vorwärts marsch! Richt euch! Zum Sturm an das Gewehr!
Mut, ihr versinkenden Leute, wir kommen, schaut her!
Schon während des Singens verteilen die Schwarzen Strohhüte ihr Traktätchen »Der Schlachtruf«, Löffel, Teller und Suppe. Die Arbeiter sagen »danke« und hören nunmehr Johannas Rede zu.
johanna Wir sind die Soldaten des lieben Gottes. Wegen unserer Hüte nennt man uns auch die Schwarzen Strohhüte. Wir marschieren mit Trommeln und Fahnen überall hin, wo Unruhe herrscht und Gewalttaten drohen, um an den lieben Gott zu erinnern, den sie alle vergessen haben, und ihre Seelen zu ihm zurückzubringen. Soldaten nennen wir uns, weil wir eine Armee sind und auf unserem Marsch kämpfen müssen mit dem Verbrechen und dem Elend, jenen Mächten, die uns nach unten ziehen wollen. Sie fängt an, selbst die Suppe auszuteilen. So, jetzt eßt mal die warme Suppe, und dann wird sich alles gleich wieder ganz anders anschauen, aber denkt gefälligst auch ein wenig an den, der euch die Suppe bescheret. Und wenn ihr so nachdenkt, dann werdet ihr sehen, daß das überhaupt die ganze Lösung ist: Oben streben und nicht unten streben. Oben sich nach einem guten Platz anstellen und nicht unten. Oben der erste sein wollen und nicht unten. Jetzt seht ihr ja, was für ein Verlaß auf das irdische Glück ist. Gar...
| Erscheint lt. Verlag | 17.11.2025 |
|---|---|
| Co-Autor | Elisabeth Hauptmann |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
| Schlagworte | 20. Jahrhundert • aktuelles Buch • Arbeiter-Klasse • Arbeitslose • Armut • Bertolt Brecht • Börse • Börsenspekulation • Brecht • Bücher Neuerscheinung • Bühne • Chicago • Desillusionierung • Deutschland • Die Schwarzen Strohhüte • Drama • Dramatiker • Emil Burri • Fleisch • Fleisch-Börse • Fleischfabrik • Generalstreik • Gesellschaft • Gott • Heilsarmee • Idealismus • Insidertipp • Jeanne d’Arc • Johanna • Johanna Dark • Kapitalismuskritik • Klassiker • Klassismus • Lillian Holliday • Major Barbara • Monopol • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Nordamerika (USA und Kanada) • Parodie • Pierpont Mauler • Prekariat • Prekarität • Proletariat • Schauspiel • Schlachthof • Schlachthöfe • ST 5507 • ST5507 • suhrkamp taschenbuch 5507 • Theater • Überproduktion • Ungleichheit • Union Stock Yards • USA Mittlerer Westen • USA Mittlerer Westen: East North Central Staaten der Großen Seen • Vereinigte Staaten von Amerika USA • Weltwirtschaftskrise • Wirtschaft |
| ISBN-13 | 9783518784761 / 9783518784761 |
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