Hard Girls (eBook)
360 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78324-5 (ISBN)
Den zweieiigen Zwillingen Jane and Lila Pool bleibt gar nichts anderes übrig, als »hard girls« zu werden. Ihr Vater ist ein verpeilter Professor an einer Kleinstadtuni. Ihre Mutter, Anabel, scheint sich kein bisschen für ihre Kinder zu interessieren. Sie ist oft mit unbekanntem Ziel unterwegs, ist ansonsten von eisiger Gleichgültigkeit und eines Tages ganz verschwunden. Die Mädchen flüchten in ihre eigene Welt, spielen Spionin und sind in einer Theatergruppe aktiv. Als es dort zu einer Gewalttat kommt, laufen sie von zu Hause weg und treiben sich herum. Jane landet schließlich für einige Zeit im Gefängnis, und Lila verschwindet spurlos wie ihre Mutter. Doch dann taucht plötzlich ein Hinweis auf, dass Anabel in den USA gesehen wurde. Lila meldet sich nach Jahren bei Jane - die beiden machen sich auf, ihre Mutter zu suchen. Und erleben eine gefährliche Überraschung nach der anderen. Denn auch in der Familie gilt: Traue niemandem.
John Robert Lennon, geboren 1970 in Easton, Pennsylvania, ist Musiker, Komponist und Autor von bisher neun Romanen und Kurzgeschichten. Seine 2008 erschiene Kurzgeschichte The Rememberer ist die Vorlage für die TV-Serie Unforgettable. Er lehrt an der Cornell University und schreibt u.a. Kritiken für die New York Times Book Review, den Guardian und The London Review of Books. Er lebt in Ithaka, New York.
2
Nestor, NY: Damals
Es gab keinen Abschied, nicht mal einen Moment des Begreifens, dass die Abwesenheit ihrer Mutter auf Dauer angelegt war. Sie war nicht einfach nur irgendwo unterwegs, wie es oft der Fall gewesen war. Statt irgendwann zurückzukommen, blieb sie einfach weg. Ihr Vater erzählte den Mädchen nie, dass sie für immer verschwunden war; vielleicht wusste er es selbst nicht. Ihre Mutter war, wie die Mutter einer Freundin es vor Jahren unhöflich ausgedrückt hatte, eine Herumtreiberin. Die Ehe ihrer Eltern war ein Schwindel. Wünschen, Warten und Verstehen wollen hatte keinen Sinn.
Bei ihrem ersten Verschwinden waren die Mädchen sechs gewesen. Die beiden Erstklässlerinnen waren nach der Schule noch geblieben, um ihrer Lehrerin beim Aufhängen der Herbstdekoration zu helfen. Ein Privileg, weil sie besonderes künstlerisches Geschick bewiesen hatten. Jane war ein wenig in Miss Conover, die fröhliche, kommunikative und junge Lehrerin, verliebt. In der mittäglichen Pause durften die Schwestern immer im Klassenraum sitzen bleiben und still für sich lesen, während sie sich die Nägel lackierte. Einmal lackierte sie auch die der Zwillinge. Sie trugen den ganzen Tag über lila Nagellack, bis Miss Conover ihn im letzten Moment, bevor der Bus kam, hektisch abrubbelte.
Am fraglichen Tag waren sie zu dritt damit beschäftigt, aus Tonpapier rote und orange Blätter auszuschneiden und eine Liste von Wörtern aufzustellen, die an den Herbst erinnerten: kühl, trocken, Wind, Äste, Kürbis.
Nach einer Weile bemerkte Jane, dass Miss Conover immer wieder auf ihre Uhr schaute, dann auf die Wanduhr über der Tafel und wieder zu den Mädchen. Sie spähte aus dem Fenster zum Schulparkplatz und hinaus in den Flur.
»Mädchen«, sagte sie. »Könnt ihr euch einen Moment benehmen, während ich mit Mrs Vainberg spreche?« Sie lauschten den Absätzen, die sich zum Büro der Direktorin entfernten und nach ein paar Minuten wieder näherten.
»Was glaubt ihr, wo wir eure Mutter erreichen können?«, fragte sie.
Lila sah erschrocken zu Jane hinüber. Sie legte die Schere weg. Jane wandte sich an Miss Conover.
»Bei uns zu Hause?«
»Da geht niemand ran. Auch im Büro eures Vaters nicht. Sie hätte euch schon vor einer ganzen Weile hier abholen sollen.«
»Es tut mir leid, Miss«, sagte Lila.
»Ihr könnt nichts dafür, Lila. Vielleicht hat sie vergessen, dass ihr heute länger bleibt?«
Jane konnte sich erinnern, dass ihre Mutter sie noch am Morgen daran erinnert hatte. »Ich glaube nicht.«
»Meint ihr, von euren Großeltern könnte euch jemand abholen?«, fragte Miss Conover.
»Wir haben keine Großeltern«, erklärte Jane.
»Doch, haben wir«, sagte Lila. »Sie sind in Europa.« Das hatte ihre Mutter zu ihnen gesagt, als sie gefragt hatte, warum sie nie deren Mama und Daddy kennengelernt hatten. Dabei hatte sie die Frage mit einer Handbewegung abgetan, als gäbe es kein uninteressanteres Thema. Die Eltern ihres Vaters, so hatte man den Mädchen erklärt, seien tot.
»Was ist mit einem Nachbarn? Wohnt nebenan jemand, der euch holen könnte?«
»Wir wohnen im Wald«, erklärte Jane.
»Nun«, sagte Miss Conover. »Dann warten wir noch ein bisschen. Wenn niemand kommt, fahre ich euch nach Hause. Vielleicht ist das Telefon kaputt.«
Miss Conovers Auto war ausgesprochen sauber. An einem Knopf des Radios baumelte ein süßlich riechender Kiefernbaum. Als sie nach Hause kamen, murmelte Miss Conover: »Der Wald ist das hier nicht.« Plötzlich wurde Jane bewusst, dass die Lehrerin recht hatte – ihr Haus war niedrig, langgezogen, und es lag im Schutz von Bäumen. Aber es befand sich in einem Viertel, dessen übrige Häuser dichter beieinanderstanden. Vom Garten aus konnte man diese anderen Häuser sogar sehen. Allerdings wusste Jane nicht, wer dort wohnte. Sie und Lila blieben im Garten und spielten für sich allein.
Niemand war da, aber die Haustür war nicht verschlossen. Die Mädchen folgten Miss Conover hinein. Lila machte Sandwiches mit Erdnussbutter. Miss Conover lehnte höflich ab, als ihr eins angeboten wurde. Sie blieben in der Küche sitzen, bis es fast dunkel war. Dann spazierte ihr Vater herein, er trug seine fleckige, von Büchern und Papieren ausgebeulte Ledertasche.
»Oh!«
»Mr Pool? Ich bin Fern Conover, die Lehrerin der Mädchen.«
Fern! Jane war nie in den Sinn gekommen, dass ihre Lehrerin einen Vornamen haben könnte.
Die Erwachsenen redeten miteinander und baten sich gegenseitig um Entschuldigung. Schließlich einigten sie sich darauf, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Ihr Vater rieb sich die Hände, als wäre es kalt im Haus, und ließ den Kopf hängen. Miss Conover dankte den Mädchen für ihre Unterstützung und ging hinaus, wobei sie die Tür vorsichtig hinter sich zuzog.
Als sie weg war, ging ihr Vater zum Telefonieren in sein Arbeitszimmer. Die Mädchen blieben in der Küche und schauten sich verängstigt an. Sie hörten seine Stimme, verstanden aber kein Wort. Nach einer Weile kam er heraus und wirkte unendlich müde. »Eure Mutter ist weg«, sagte er. »Was wollt ihr … das heißt … es ist Freitag. Habt ihr Hunger?«
»Bekommen wir Fischstäbchen?«, fragte Lila.
»Ja! Aber … ich weiß nicht …«
»Sie sind im Gefrierschrank«, sagte Jane. »Du legst sie in eine Pfanne.«
»Auf ein Backblech. Im Herd.«
»Im Backofen«, präzisierte Jane.
»Im Backofen.«
Die Mädchen badeten, zogen sich um, erklärten ihrem Vater, welche Bücher er ihnen vorlesen solle, und gingen ins Bett. Ihr Vater wirkte abgelenkt und durcheinander. Am Morgen kam er nicht aus seinem Zimmer, also aßen sie Toast und Müsli und lasen und spielten mit ihrem Puppenhaus. Als es nach einer Weile draußen warm wurde, gingen sie in den Garten. Sie machten sich die Kleider schmutzig, aber ihr Vater schien es nicht zu bemerken.
Ihre Mutter kehrte vor dem Abendessen heim. Sie wirkte müde und hatte rote Augen. Sie küsste die Mädchen auf den Kopf, ging in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür. Eine Zeit lang versuchte ihr Vater, durch die Tür mit ihr zu sprechen, dann ging er hinein, sie stritten. Schließlich kam ihr Vater heraus und bestellte eine Pizza, die sie zu dritt aßen. Diesmal war es besser. Er passte beim Baden auf, suchte selbst die Bücher zum Vorlesen aus und erinnerte sie ans Zähneputzen. Am nächsten Morgen war alles wieder normal. Die Abwesenheit ihrer Mutter wurde nicht erklärt, sie fragten auch nicht.
In ihrem Zuhause war der Normalzustand eine lernbegierige Stille – der Klang von Menschen, die ihren eigenen Beschäftigungen nachgingen. Von den Mädchen wurde erwartet, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ihre Anwesenheit schien ihren Vater im besten Fall milde zu amüsieren, aber meistens begegneten sie ihm, wenn er sich heimlich in sein Arbeitszimmer zurückzog, um an dem Buch zu arbeiten, das zu jedem erdenklichen Zeitpunkt wenige Monate vor dem Abschluss stand. Ihre Mutter war aufmerksamer, zumindest noch während der ersten Jahre ihrer »Zeiten außer Haus«, wie ihr Vater die unerklärten Abwesenheiten bezeichnete. Vorher hatte sie die lästigen Pflichten der Mutterschaft mit ironischer, augenverdrehender Effizienz erledigt und den Mädchen immer wieder erklärt, dass sie ihr Umstände machten. Nur um deren Schuldgefühle dann lächelnd und zwinkernd abzutun.
Ihre Mutter zwinkerte häufig. Anfangs nahm sie sämtliche Termine an der Schule pflichtbewusst wahr – die Kuchenbasare, Chorkonzerte, die Naturwissenschaftsausstellung – und zwinkerte den Vätern zu. Die anderen Mütter zwinkerten nicht und schienen sie nicht zu mögen. Die Väter schon. Vor diesen Anlässen hatte Jane nie mitbekommen, wie andere Menschen ihre Mutter ansahen und auf sie reagierten. Blicke blieben an ihr hängen, Mienen veränderten sich. Ihre Mutter kleidete sich anders als die anderen, deren...
| Erscheint lt. Verlag | 21.5.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Stefan Lux |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Hard Girls |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuerscheinung • Coming-of-age • Familie • Gefahr • Gewalt • Hard Girls deutsch • Hochspannung • Kleinstadt • Krimi Neuerscheinung 2025 • Mutter-Tochter • Nervenkitzel • neuer Krimi • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Page Turner • Psycho • psychologische Krimis • Psycho-Spannung • Roadtrip • Spannung • ST 5509 • ST5509 • suhrkamp taschenbuch 5509 • Thriller • USA |
| ISBN-10 | 3-518-78324-6 / 3518783246 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78324-5 / 9783518783245 |
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