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Esthers Spuren (eBook)

Die Geschichte der Shoah-Überlebenden Esther Bejarano und der Kampf gegen Rechtsextremismus
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
254 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8727-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Esthers Spuren -  Benet Lehmann
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Es wird Zeit, sich im Kampf gegen Rechtsextremismus den Geschichten der Zeitzeug*innen neu zu widmen. Die Zeitzeugin, Musikerin und Antifaschistin Esther Bejarano (1924-2021) wurde mit 18 Jahren nach Auschwitz deportiert. Sie musste Akkordeon im berüchtigten »Auschwitzer Mädchenorchester« spielen, kam später in das KZ Ravensbrück und floh bei Kriegsende während eines Todesmarschs. Bis zu ihrem Lebensende kämpfte sie gegen die deutsche Geschichtsvergessenheit an. Benet Lehmann hat viele Gespräche mit ihr geführt. Als Mitglied der letzten Generation, die noch unmittelbar mit Zeitzeug*innen sprechen kann, begibt sich Benet Lehmann auf die Spuren ihres Lebens mithilfe aktueller Forschung und im Licht gesellschaftlicher Entwicklungen. Welche Rolle spielt das Erbe der Zeitzeugenschaft heute noch? Was heißt es, Erinnerungskulturen in einer postmigrantischen Gesellschaft miteinander in Beziehung zu setzen? Wer erinnert an wen und warum? Und vor allem: Hilft Erinnerungskultur gegen Antisemitismus und Rassismus?

Benet Lehmann, geb. 1997, hat Geschichte, Englisch und Kunstgeschichte in Hamburg, Berlin und Jerusalem studiert und promoviert gegenwärtig zu Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg und ihrer erinnerungskulturellen Bedeutung heute. Die Recherchen zum Buch »Esthers Spuren« wurden mit dem Sonderpreis für Judentum oder Antisemitismus der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Silten-Preis für Holocaustforschung ausgezeichnet. Daneben schreibt Benet Lehmann für Zeitungen und Magazine.

Benet Lehmann, geb. 1997, hat Geschichte, Englisch und Kunstgeschichte in Hamburg, Berlin und Jerusalem studiert und promoviert gegenwärtig zu Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg und ihrer erinnerungskulturellen Bedeutung heute. Die Recherchen zum Buch »Esthers Spuren« wurden mit dem Sonderpreis für Judentum oder Antisemitismus der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Silten-Preis für Holocaustforschung ausgezeichnet. Daneben schreibt Benet Lehmann für Zeitungen und Magazine.

Vorwort


Ein paar Mal läutet das Freizeichen, dann geht sie ans Telefon mit einem »Ja?«, mehr nicht. Den Menschen in Hamburg wird eine selbstverständliche Ruhe nachgesagt, Esther Bejarano hat sie. Ich hingegen stammele ein paar Worte ins Telefon, überfordert mit der Situation: »Hallo, hier ist Benet Lehmann, ich schreibe eine Biografie. Über Sie, meine ich. Wir kennen uns auch schon von früher … Erinnern Sie sich?«

Drei Jahre später muss ich lachen, wenn ich mir die Tonaufnahmen unserer Gespräche anhöre. Esther konnte sich natürlich nicht an mich erinnern, immerhin wurde sie ständig von jemandem zu ihrer Lebensgeschichte interviewt. Wie sie mit 18 Jahren nach Auschwitz deportiert wurde, im »Auschwitzer Mädchenorchester« Akkordeon spielen musste, wie sie einen Todesmarsch überlebte. Und wer sie danach fragte, dem erzählte sie auch, dass sie nach dem Krieg nach Palästina emigrierte, es ihr schwerfiel, sich im jungen Staat Israel ein Leben aufzubauen, und sie betrübt nach Deutschland zurückkehrte.

Esther fügte dann hinzu, dass sie keineswegs mit der Politik hier zufrieden sei und genau deswegen auf der Bühne stehe, auf Demonstrationen spreche, in Schulen gehe, um dort von den nationalsozialistischen Verbrechen zu berichten. Alles, um die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Dass Esther über ihre Geschichte sprechen konnte, dazu noch öffentlich als Zeitzeugin, war nicht immer selbstverständlich. Die Vergangenheit und Esther hatten lange kein gutes Verhältnis zueinander.

Die Trauer über den Verlust ihrer ermordeten Eltern, ihrer Schwester Ruth und vieler Freund*innen, die erlittene Gewalt in den Konzentrationslagern, das ihr nach dem Krieg häufig entgegengebrachte Unverständnis für ihre schmerzhaften Erfahrungen – all das ließ Esther verstummen. Es ist gefährlich, diese Erinnerungen wieder hochzuholen, nicht nur für die eigene psychische Gesundheit. Wer als Überlebende der nationalsozialistischen Verbrechen im postnationalsozialistischen Deutschland lebt, muss mit Anfeindungen und Gewalt rechnen.[1] Auch nach 1945 wurden Überlebende attackiert, bedrängt und sogar ermordet.

Vergangenheit kann als Erinnerung und Erzählung zurück in die Gegenwart geholt werden, sie kann schmerzen, sie kann politisch werden und somit die Zukunft bestimmen. Als ich sie das erste Mal anrief, wollte ich daher vor allem wissen: Warum wurdest du zur Zeitzeugin?

Telefonate im Lockdown


Mit der Zeit telefonieren Esther und ich immer häufiger miteinander, aus den Interviews werden Gespräche. Wir unterhalten uns über die antisemitischen und rassistischen Anschläge in Halle und in Hanau, über die Kontinuitäten rechter Gewalt in Deutschland und über eine unsichere Zukunft. Es ist der Corona-Winter 2020 /21. Die AfD hat in den Umfragen stabile Werte und die ersten Wahlergebnisse erschrecken uns. Wir neigen beide zu ungeduldigem Aktionismus und fragen uns, was jetzt zu tun ist. Also reden wir über breite Allianzen, die dem Rechtsextremismus Steine in den Weg legen, und hoffen auf zivilgesellschaftliches Engagement.

Weil dieser Kampf für Gerechtigkeit und Konsequenzen aus der Geschichte immer auch kreativ sein muss, unterhalten wir uns über Esthers Musik, die in Jiddisch, in Türkisch, in Kölsch getextet ist und die sie mit ihrer aktuellen Band, der Microphone Mafia, auf die Bühne bringt. Esther vertraut mir an, dass sie mit Rap und Hip-Hop gar nicht so viel anfangen kann. Aber die jungen Leute mögen’s.

Ich kenne Esther seit meiner Kindheit. Mein Vater erzählte mir von ihr, als ich mit acht oder neun Jahren die ersten Fragen zu den Mahnmalen in unserer Nachbarschaft stellte, mich über die goldenen Steine im Gehweg wunderte, mich mit kindlicher Verblüffung fragte, warum Menschen Böses tun und wie viel eigentlich sechs Millionen Tote sind. Ein paar Jahre später kam die Shoah, der Massenmord an europäischen Jüdinnen und Juden, auch Holocaust genannt, im Schulunterricht vor. Wir sprachen über den Zweiten Weltkrieg und über Auschwitz, wir erarbeiteten Projekte zum Nationalsozialismus und unsere Lehrer*innen luden Zeitzeug*innen in unsere Klasse ein.

Auf dem Pausenhof beleidigten wir uns gegenseitig als »Jude«. Der Zusammenhang zwischen unserem Geschichtsunterricht und unserem eigenen Antisemitismus fiel uns nicht auf. Auch das ist die Realität meines Aufwachsens mit den Erinnerungskulturen der postnationalsozialistischen Gesellschaft.

Mit 15 lernte ich Esther auf einer Demonstration in Hamburg kennen. Ein guter Freund nahm mich mit, wir liefen schüchtern ein paar Meter hinter ihr und sprachen sie später an. Was wir fragten, weiß ich nicht mehr. Mich erstaunte vor allem ihre laute Stimme. Kurz nach der Schule begann ich dann mein Geschichtsstudium. Ich traf in dieser Zeit einige Male auf Esther, gleichzeitig begann ich zum Nationalsozialismus zu studieren und zu forschen. Esthers Geschichte ist immer dabei.

Wenn wir telefonieren, dann sitzt Esther in ihrer Erdgeschosswohnung in Hamburg, ich in meiner Studi-WG in Berlin. Wir können beide das Haus nicht verlassen, denn in Deutschland herrscht Lockdown, die Inzidenzzahlen der Corona-Pandemie sind wieder mal zu hoch. Esther erzählt mir, dass sie sich impfen ließ und nun ungeduldig darauf wartet, wann sie denn endlich wieder Konzerte geben, mit der Politik weitermachen, ihre Freund*innen sehen könne. Sie ist vor Kurzem 96 Jahre alt geworden.

Ein paar Wochen nach unserem letzten Gespräch lese ich morgens eine Nachricht von einem Freund auf dem Handy: »Esther ist letzte Nacht gestorben.«

Es ist Mitte Juli und ich verbringe die Sommertage damit, in Bibliotheken und Cafés zu sitzen und Esthers Leben aufzuschreiben. Aber jetzt, nach ihrem Tod, kommt mir das alles surreal vor. Zu diesem Zeitpunkt setze ich mich seit einem Jahr intensiv mit ihrem Leben auseinander, durfte sie zu ihren schmerzhaftesten Erfahrungen befragen und nun – ist damit Schluss. Richtig begreifen kann ich es noch nicht. Es wird keine weiteren Telefonate mehr geben, kein Treffen in Hamburg, keine Konzerte der Band Microphone Mafia in voller Besetzung.

Abschied von der Zeitzeugenschaft


Wie viel Glück ich hatte, Esther kennenlernen zu dürfen. Wer Zeitzeug*innen in der Schule befragen, die Hand einer Überlebenden schütteln konnte, wer von den Konzentrationslagern aus dem Mund einer*s Berichtenden hörte, konnte eine eigene Beziehung zur Geschichte des Nationalsozialismus aufbauen. Die wahrgenommene Zeit, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart liegt, wird durch Zeitzeug*innen auf ein Minimum verkürzt.

Aus diesem Grund ist das Ableben der Zeitzeuginschaft der tiefgreifendste Wandel der Erinnerungskulturen an den Nationalsozialismus.[2] Ein bisschen Theorie: Weil Erinnerungen sich natürlich voneinander unterscheiden, auch zwischen unterschiedlichen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft, spreche ich hier von Erinnerungskulturen im Plural. (In der Fachwissenschaft wird sogar von Geschichtskulturen, Geschichtswissen oder Geschichtsbewusstsein gesprochen, die nicht nur Erinnerung, sondern jeden Bezug auf die Vergangenheit meinen. Erinnerungskultur benutze ich hier als Quellenbegriff und als politischen Begriff.) Geschichte ist multiperspektiv, weil viele verschiedene Erzählungen parallel nebeneinander existieren.

Und dennoch gibt es eine übergreifende Erinnerungskultur, die für die nationale »Identität der Deutschen« essenziell ist. Ich nenne das die staatstragende Erinnerungskultur.

Sie erzählt, bisher, die Geschichte eines Deutschlands, das nach 1945 wieder gut geworden sei. Das nationalsozialistische Deutschland ist für das Selbstverständnis des heutigen demokratischen Deutschlands und seiner christlichen, weißen[3] Dominanzgesellschaft[4] zur Abgleichsfolie geworden: Was man damals war, ist man heute nicht mehr. Das übergreifende Bekenntnis aller demokratischen Parteien zur Verantwortung für das nationalsozialistische Erbe baut darauf auf, spätestens seit Ende der 1980er-Jahre. Und damit ist es ausschlaggebend für die Richtlinien der Politik Deutschlands, gerade auf internationaler Bühne.

Dabei wird häufig vergessen, dass die deutsche Gesellschaft 1945 nicht einfach von heute auf morgen eine andere war oder dass der rechtsextreme Terror auch nach dem Kriegsende keinesfalls ein Ende fand. Sondern gegenwärtig in die Parlamente gewählt wird. Oder dass die ermordeten Opfer des Nationalsozialismus nie wieder zurückkehren werden, egal wie viele Anstrengungen auch unternommen werden.

Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Kontinuitäten, vor allem juristisch oder in der eigenen Familie, blieb aus. Der Autor Max Czollek nennt das, in Anschluss an den Soziologen Y. Michal Bodemann, »Versöhnungstheater«: In diesem erinnerungskulturellen Stück geht es weniger um das tatsächliche Begreifen der Verantwortung, die aus der Schuld entstand, sondern vielmehr um die Wiedergutwerdung Deutschlands – ohne tatsächliche Wiedergutmachung.[5]

Die vierte Generation der Erinnerungskulturen


Warum schreibe ich das alles? Weil mitten in diesem Selbstverständnis einer wieder gut gewordenen Täternation mit robuster Erinnerungskultur meine Generation geboren wurde. Nach der dritten Generation, also den in...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2024
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Antifaschismus • Antisemitsmus • Auschwitz • Biografie • Erinnerungskultur • Hamburg • Holocaust • Israel • Konzentrationslager • Linke • Mädchenorchester • Nationalsozialsmus • Rassismus • Ravensbrück • Todesmarsch • vierte Generation • Zeitzeugenschaft • Zeitzeugin
ISBN-10 3-8353-8727-8 / 3835387278
ISBN-13 978-3-8353-8727-0 / 9783835387270
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