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Kaum ein Tag ohne Spektakel (eBook)

Erzählungen und Feuilletons
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
232 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8491-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kaum ein Tag ohne Spektakel -  Henrik Pontoppidan
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Zum 80. Todestag des dänischen Nobelpreisträgers von 1917 Henrik Pontoppidan: seine ironischen Erzählungen und Reisereportagen. Es ist höchste Zeit, mit Henrik Pontoppidan einen hierzulande fast vergessenen Klassiker der Moderne (wieder) zu entdecken. Der Band 'Kaum ein Tag ohne Spektakel' versammelt zwölf Erzählungen und acht Feuilletons, die die thematische Bandbreite und die stilistische Spannweite dieses bedeutendsten Vertreters des dänischen Realismus abbilden. Es sind Geschichten, Kritiken, Kolumnen und Reportagen, die sich in einem Spannungsfeld zwischen Romantik und Modernität bewegen. Pontoppidan erzählt vom Leben auf dem Land und in der Großstadt Kopenhagen ebenso wie vom Zusammenstoß dieser beiden Lebenswelten. Er schreibt über existenzielle Krisen, politische Gegensätze und Randexistenzen, aber er liefert auch großartige Reisereportagen - unter anderem aus dem kaiserlichen Berlin - und befasst sich ausgesprochen ironisch mit ganz alltäglichen Dingen wie dem Zustand der dänischen Gaststätten, Hotels und Gasthöfe.

Henrik Pontoppidan (1857-1943) wuchs als Pastorensohn in Ostjütland auf. Nach einem abgebrochenen Ingenieursstudium arbeitete er als Heimvolkshochschullehrer und Journalist. 1881 begann er, Erzählungen zu veröffentlichen. Seine Hauptwerke sind die Romane 'Das gelobte Land', 'Hans im Glück' und 'Totenreich'. Ulrich Sonnenberg, freier Übersetzer und Herausgeber aus dem Dänischen und Norwegischen in Frankfurt a. M. Neben Werken von Hans Christian Andersen, Herman Bang, Knut Hamsun und Johannes V. Jensen übersetzt er zeitgenössische Autoren wie Carsten Jensen, Erika Fatland, Karl Ove Knausgård und Knud Romer. 2013 erhielt er den Übersetzerpreis des Staatlichen Dänischen Kunstrats. Marlene Hastenplug, seit 1997 als Dänisch-Lektorin an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. tätig. Seit 2011 arbeitet sie mit der Henrik Pontoppidan-Gesellschaft zusammen, auf deren Webseite die Übersetzungen ihrer Studierenden veröffentlicht werden. Mit Ulrich Sonnenberg organisiert sie regelmäßige Übersetzungs-Workshops zur Nachwuchsförderung.

Henrik Pontoppidan (1857-1943) wuchs als Pastorensohn in Ostjütland auf. Nach einem abgebrochenen Ingenieursstudium arbeitete er als Heimvolkshochschullehrer und Journalist. 1881 begann er, Erzählungen zu veröffentlichen. Seine Hauptwerke sind die Romane "Das gelobte Land", "Hans im Glück" und "Totenreich". Ulrich Sonnenberg, freier Übersetzer und Herausgeber aus dem Dänischen und Norwegischen in Frankfurt a. M. Neben Werken von Hans Christian Andersen, Herman Bang, Knut Hamsun und Johannes V. Jensen übersetzt er zeitgenössische Autoren wie Carsten Jensen, Erika Fatland, Karl Ove Knausgård und Knud Romer. 2013 erhielt er den Übersetzerpreis des Staatlichen Dänischen Kunstrats. Marlene Hastenplug, seit 1997 als Dänisch-Lektorin an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. tätig. Seit 2011 arbeitet sie mit der Henrik Pontoppidan-Gesellschaft zusammen, auf deren Webseite die Übersetzungen ihrer Studierenden veröffentlicht werden. Mit Ulrich Sonnenberg organisiert sie regelmäßige Übersetzungs-Workshops zur Nachwuchsförderung.

Der erste Gendarm


An einem glühend heißen Junitag hielt der erste Gendarm im Dorf Lillelunde Einzug.

Die Nachricht seiner Ankunft wurde von einem fahrenden Hopfenhändler überbracht. Dieser hatte ihn auf seinem Weg aus der Provinzstadt in einem Wirtshaus sitzen gesehen, knapp eine halbe Meile vom Dorf entfernt. Sein gesatteltes Pferd war im Reisestall angebunden, und in der Kellerstube wurde erzählt, er sei auf dem Weg ins Dorf.

Er konnte also jeden Augenblick erwartet werden. Auch wenn diese Nachricht die guten Lillelunder zweifellos etwas plötzlich erreicht hatte, so kam sie dennoch keineswegs unerwartet. Bereits einige Wochen zuvor hatte der örtliche Polizeibeamte die Gemüter erregt, als er nebenbei erwähnte, dass wohl bald ein paar Männer in blauen Uniformen in der Gegend auftauchen könnten, seitdem herrschte eine Aufregung und Anspannung im ganzen Dorf, als ob heimlich etwas Entscheidendes vorbereitet würde.

Selbst die Kinder spürten, dass etwas Unsicheres in der Luft lag. Sie machten sich die abenteuerlichsten Vorstellungen über das, was Gendarmen wohl waren und was geschehen würde, wenn sie kämen. Sie tauchten in ihren unruhigen Träumen als eine Art Ungeheuer mit blutigen Mäulern und fürchterlichen Eckzähnen auf. Denn jedes Mal, wenn sie mit einem zerrissenen Rock oder einer schmutzigen Jacke zu den alten Großmüttern hinter den Spinnrädern kamen, hoben die Alten drohend ihren runzligen Finger und sagten: »Ja, warte du nur, bis die Gendarmen kommen. Die werden dich noch auffressen, du Racker!«

Aber die alten Großmütter wussten es selbst nicht wirklich besser; sie gingen umher und versteckten ihre Besitztümer unter Bettdecken und an geheimen Orten, als ob der Feind wahrhaftig im Lande war. Ja, wenn man einer Äußerung des indiskreten Polizeibeamten Glauben schenken konnte, war es offenbar so, dass selbst dem Landrichter, der neu in der Gegend war, bei dem Gedanken an das bevorstehende Aufeinandertreffen nicht sonderlich wohl war. Er hatte sogar mit einem Antrag an höhere Stellen versucht, die Ankunft der verhassten neuen Ordnungshüter zu vereiteln.

Die Sache war die: Schon damals, als die Gegend bei der ersten Verteilung der Gendarmen im Land übergangen worden war, hatten sich die kriegerischen Lillelunder geradezu benachteiligt gefühlt – weil sie somit daran gehindert wurden, ihnen den Empfang zu bieten, den sie ihnen aus tiefstem Herzen wünschten. Lauthals hatten sie damals erklärt, dass sie zu jedem Widerstand bereit waren, und nun hatten sie einander feierlich geschworen, den ersten Gendarmen, der sich in ihrem Dorf zeigte, nicht ungeschoren davonkommen zu lassen.

Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass sich eine unheimliche Stimmung über ganz Lillelunde ausbreitete, sobald der Hopfenhändler mit seiner Botschaft eingetroffen war. Im Nu versammelten sich schnatternde Schwärme von Kleinbauernweibern mit Säuglingen oder Strickstrümpfen auf dem großen Hügel hinter der Schmiede. Sie waren immer zuerst auf den Beinen, wenn etwas im Gange war. Und obwohl es Mittag war, eilte bald darauf auch das Gesinde aus den Höfen, suchte noch mit der Grütze im Hals die Deiche oder andere hoch gelegene Stellen auf und stierte mit den Händen über den Augen erwartungsvoll gen Norden.

Es dauerte auch nicht lange, bis man in der Ferne auf der weißen Landstraße, die sich durch die Täler schlängelte, eine kleine, sich langsam nähernde Staubwolke entdeckte. Über dieser erschien schließlich ein Pferd, und auf diesem zum Schluss – eine hellblaue Gestalt.

Das war er!

Ein gemeinsamer Ruck ging durch die Menschen auf dem Schmiedehügel und den Deichen. Ruhigen Schrittes näherte er sich auf der staubigen Straße – wie jemand, der nicht hastet, aber weiß, dass er in erster Linie die Aufgabe hat, sich zu zeigen, und die Pflicht, gut auszusehen.

Letzteres war unbestreitbar der Fall, wie er da ganz allein inmitten der großen, friedlichen Landschaft ritt, die Hände kriegerisch auf die Oberschenkel gestützt, seine Knöpfe und Waffen in der Sonne blitzend. Selbst die Kühe auf den Feldern sahen von ihrem Klee auf, stumm vor Staunen.

Währenddessen hatte sich eine Schar von Knechten aus dem Dorf an einem offenen Hoftor am Dorfteich versammelt, wo sie mit langen Porzellanpfeifen und herausfordernd über ein Ohr gezogenen Schirmmützen eine bedrohliche Haltung einnahmen. Die Bauern hingegen hielten sich noch als eine Art Reserve bei ihren Scheunentoren auf, die sie mit ihren breiten Gestalten füllten, während der Kaufmann sich entgegen seiner Gewohnheit ganz unsichtbar gemacht hatte. Ja, er hatte sogar still die Tür seines Ladens geschlossen und hinter den Vorhängen für ein Guckloch gesorgt, von wo aus er den Verlauf des Geschehens in Sicherheit verfolgen konnte.

Als der Gendarm sich allmählich näherte, wurde es im ganzen Dorf so still, dass man bereits von Weitem die Hufschläge seines Pferdes und das Klirren seiner Waffen hören konnte.

Dann ritt er schließlich ins Dorf – aufrecht, ruhig und selbstbewusst – und erfüllte die Gemüter mit dem Ernst und dem Respekt, den ein bis an die Zähne bewaffneter Mann unwillkürlich verbreitet.

Die ersten lebenden Wesen, die er erblickte, waren eine Schar Schulkinder, die verängstigt durch einen Bretterzaun schauten, hinter dem sie sich zusammengedrängt hatten. Als er sie sah, lächelte er und grüßte sie mit einem freundlichen Nicken, worüber sie derart die Besinnung verloren, dass sie sich zitternd im Gras versteckten. Die anderen Bewohner der Straße hingegen, die diese Szene hinter Fenstern und von den Haustüren beobachtet hatten, schauten sich gegenseitig an, so als wollten sie sagen:

»Hm! Er wirkt eigentlich ganz harmlos. Er hat den Kindern sogar zugenickt!«

Als der Gendarm zum Dorfteich kam, ritt er ein Stück in ihn hinein, um das Pferd trinken zu lassen. Und erst mitten im strahlenden Licht der Sonne und dem funkelnden Wasser, in dem sich das ganze glänzende Bild klar widerspiegelte, kamen Pferd und Reiter wirklich zur Geltung. Alle mussten in diesem Augenblick gegen ihren Willen zugeben, dass es ein hübscher Anblick war und gleichsam Schönheit über das ganze Dorf brachte. Der Gendarm war aber auch ein fescher Kerl mit einem gezwirbelten Schnurrbart und einem kleinen, schwarzen Spitzbart. Die himmelblaue Uniform saß wie ein Brett über dem breiten Rücken. Er hatte kniehohe Reiterstiefel und Korporalschnüre an den Ärmeln.

Zwei Mädchen, die an einem Zaun standen, stießen sich gegenseitig an, und die eine flüsterte vorsichtig, da es niemand von den Umstehenden hören sollte:

»Hör mal – ein hübscher Mann ist er aber schon!«

Nun erschien es aber den versammelten Knechten am Tor der passende Zeitpunkt zu sein, um mit ihrer geplanten Demonstration zu beginnen. Doch auch sie waren so eingenommen vom Neuartigen dieses Erscheinungsbildes, dass sie ganz in der Betrachtung versunken waren. Mit verstohlener Missgunst beäugten sie das forsche Käppi mit der langen weißen Nackenschnur, den schweren Reitersäbel, der in der Sonne wie Silber glitzerte, die Revolver- und Patronentasche aus geflecktem Robbenleder. Und nicht zuletzt mussten sie auch das Pferd bewundern, ein schlanker, hellbrauner Wallach mit Vorderbeinen wie Peitschenstöcke und einem Fell, so fein und blank, dass man sich darin spiegeln konnte.

Als das Pferd genug getrunken hatte, klopfte der Reiter ihm mit seiner behandschuhten Hand auf den Hals, worauf er es langsam wieder Richtung Straße wendete, um seinen Weg fortzusetzen.

Nun kam Bewegung in die Knechte am Tor. Bedrohlich rückte man zusammen und sah hinüber zu der anderen Schar von Männern aus dem Dorf, die sich allmählich in allen Toren rund um den Dorfteich gesammelt hatten. Da erblickten sie den großen Lars Hedegaard, der sich in seiner ganzen Breite und mit seinem mächtigen, feuerroten Bart mitten in sein geöffnetes Scheunentor gestellt hatte, das genau an dem Weg lag, den der Gendarm entlangreiten sollte – und alle verstanden sofort, dass es dort beginnen musste.

Wie erwartet hielt der Reiter auch bei ihm an, und in diesem Augenblick wurde es so totenstill im Dorf, dass überall deutlich zu hören war, wie der Gendarm fragte, ob dies hier der Weg nach Bunkeby sei.

Der stramme Soldatengruß, der die Frage begleitete, und der unerwartet höfliche Ton, in dem sie gestellt wurde, verwirrten den großen Bauern einen Moment, ja, schmeichelten ihm offenbar. Er wurde ganz rot im Gesicht, und es gelang ihm gerade noch, so zu reagieren, dass er den Gruß des Gendarmen nicht erwiderte und ein wenig mürrisch antwortete: »Das ist er wohl«.

Der Gendarm dankte, gab seinem Pferd die Sporen und trabte unter nahezu triumphierendem Waffengeklirr aus dem Dorf.

Die Knechte am Tor sahen sich ratlos an. Nun war der letztmögliche Moment gekommen. Ein kleiner nach einem Lehramtsstudenten aussehender Kerl mit einer großen Kokarde am Hut und einem wild begeisterten Blick, der sich die ganze Zeit hinter den anderen gehalten hatte, hob drohend die Hand und rief, bleich vor Kampfeslust:

»Vorwärts, Brüder!«

Aber eben da verschwand das letzte Stück des schnurbesetzten Käppis des Gendarmen hinter dem Hügel, und der große Lars...

Erscheint lt. Verlag 26.7.2023
Nachwort Nils Gunder Hansen
Übersetzer Ulrich Sonnenberg
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Berlin • Dänemark • das Gelobte Land • Gasthöfe • Gaststätten • Großstadt • Hans im Glück • Hotels • Ironie • ironisch • Klassiker • Kolumnen • Kopenhagen • Krisen • Kritiken • Landleben • Modernität • Ostjütland • Randexistenz • Realismus • Reisereportagen • Reportagen • Romantik • Spannungsfeld • Stil • Totenreich
ISBN-10 3-8353-8491-0 / 3835384910
ISBN-13 978-3-8353-8491-0 / 9783835384910
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