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Ein Leben in Geschichten (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 2. Auflage
192 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61324-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Leben in Geschichten -  Donna Leon
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Donna Leon hat viel erlebt, in Amerika, dem Iran, Saudi-Arabien, Italien natürlich oder in der Schweiz. Kaum aber passiert ihr ein Abenteuer, wird auch schon eine spannende Geschichte daraus. Sie erzählt uns von ihrer Jugend auf der Farm und von Sperrstunden-Pyjamapartys im Iran, Geldnot und einem Fiat 600. Davon, wie sie als »Anstandsdame« nach Italien kam, von der Jagd nach dem perfekten Cappuccino und kleinen Wundern in den Bergen.

Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die ?Brunetti?-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.

Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die ›Brunetti‹-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.

Am Anfang von Anna Karenina heißt es, alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich. Da der Satz von Tolstoi stammt und er vermutlich einschlägige Erfahrungen hatte, will ich ihn gelten lassen, auch wenn ich finde, dass Familien, egal, ob glücklich oder unglücklich, sich vor allem durch ihre Macken unterscheiden. In der Kindheit sehen wir die eigene Sippe noch als Maßstab an, was ganz natürlich ist, schließlich wachsen wir darin auf, übernehmen ihre Redeweise, ihre gesellschaftlichen und finanzpolitischen Ansichten, ihre Art, mit Stress umzugehen, mit Alkohol oder dem Gesetz. Da liegt es nahe, ihr Verhalten normal zu finden, so verschroben es in Wahrheit auch sein mag.

In anderen Familien nehmen wir dagegen durchaus Absonderlichkeiten wahr: Ich habe in dieser Hinsicht als Kind weiß Gott einiges erlebt. Aber wohl aus Mangel an Erfahrung kommen uns auch die Macken anderer Leute erst zum Bewusstsein, wenn wir älter werden. Anfangs sind wir noch so damit beschäftigt, zu lernen und Eindrücke zu sammeln, dass kaum Zeit bleibt für Wertung und Zensur: Kinder sind zunächst einmal nichts weiter als unbefangene Beobachter.

Erst später beginnen wir zu richten oder zumindest eine kritische Haltung einzunehmen; oder vielleicht betrachten wir auch nur das vormals vermeintlich Normale aus objektiver Distanz und erkennen so unsere früheren Irrtümer.

In diesem Zusammenhang denke ich unwillkürlich an Dickens und all die bizarren Nebenfiguren, die seine Bücher bevölkern: an den alten Mann, der, um die Aufmerksamkeit seiner Frau zu erringen, mit Sofakissen nach ihr wirft; an Wemmick und seinen betagten Vater aus Große Erwartungen oder Uriah Heep aus David Copperf‌ield. Als Kind, bei der ersten Lektüre, erscheinen uns diese Figuren fast so unwirklich wie Geschöpfe von einem anderen Stern. Erst der Erwachsene entdeckt beim Wiederlesen, wie viele Uriah Heeps die Welt bevölkern und in wie vielen Ehen unterschwellig aggressiv miteinander umgegangen wird. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn man aus der Erwachsenen- oder gar Altersperspektive auf die eigene Familie zurückschaut und einem aufgeht, dass manches von dem, was sich dort zutrug, wohl ganz schön abgedreht war.

Zu den skurrilen Figuren aus meiner Kindheit gehörten drei Tanten meiner Mutter, die gemeinsam ein Haus mit zwölf Zimmern bewohnten. Die verwitwete Tante Trace war mit einem Apotheker verheiratet gewesen (was den Spekulationen darüber, woran er gestorben war, Tür und Tor öffnete). Ihre beiden Schwestern hießen Tante Gert und Tante Mad und hatten nie geheiratet. Diese drei Frauen lebten in schönster Eintracht zusammen, und als ich alt genug war, um zu ihnen auf Besuch fahren zu dürfen, waren sie bereits im Ruhestand, falls sie überhaupt je gearbeitet hatten.

Zusammen mit ein paar Freundinnen spielten sie von morgens bis abends Karten, mit Vorliebe Bridge. Sonntags gingen sie zur Kirche, folglich wurde da nicht gespielt, es sei denn, die Kirche veranstaltete einen Bridgeabend. Und Gert schummelte. Meine Mutter steckte mir das genüsslich, denn Gert war eine eifrige Kirchgängerin. Mit den Jahren hatte sie sich eine Taktik des Zauderns und Schwankens zurechtgelegt, die ihrem Partner so deutlich signalisierte, was Sache war, als hätte sie ihr Blatt offen auf den Tisch gelegt. »Oh, ich denke, ich riskiere mal ein Herz.« – »Also ich weiß nicht, ob ich’s wagen kann, mit zwei Kreuz rauszukommen?« Da ich nie Bridge gespielt habe, kann ich diese Botschaften nicht entschlüsseln; uns genügte es zu wissen, dass die Tante schummelte. Mit einer Partie, die vier Stunden dauerte, ließ sich gerade mal ein Dollar gewinnen. Aber sie schummelte. Andererseits spendete sie Jahr für Jahr mehrere Tausend Dollar für wohltätige Zwecke und war unheimlich großzügig gegenüber jedem Mitglied ihrer weitverzweigten und in der Regel undankbaren Familie; trotzdem schummelte sie.

Gert hatte außerdem eine farbige Freundin, eine ziemliche Seltenheit im New Jersey der 1950er-Jahre, aber unsere Tante hatte es durchgesetzt, dass diese Frau in ihre Bridgerunde aufgenommen wurde. Da keine der anderen Damen sie als Partnerin wollte, spielte sie immer mit Gert zusammen, und weil sie schlecht spielte, verloren die beiden regelmäßig. Trotzdem hielt Gert an ihr als Partnerin fest. Und natürlich durf‌te sie auch bei keinem Weihnachtsessen fehlen.

Wenn ich an Gert denke, fallen mir lauter kleine Eigenheiten ein: Blumen legte sie nachts immer in den Kühlschrank, damit sie länger hielten; wenn ein Kind über ihren Rasen lief, griff sie prompt zum Telefon und beschwerte sich bei den Eltern; sie ging nie ohne Hut aus dem Haus. Als sie nach dem Tod von Mad und Trace allein zurückblieb, ließ sie sich nicht dazu bewegen, das große Haus zu verkaufen und sich eine kleinere Wohnung zu suchen. Zumindest nicht bis zu den Rassenkrawallen in Newark, bei deren Ausbruch Gert sich einredete, als Nächstes würden die aufgewiegelten Massen aus dem Schwarzenviertel sich zusammenrotten, raubend und plündernd die Hauptstraße stürmen und schließlich ihr Haus zerstören. Und obwohl sie in Wahrheit sichere fünfzehn Kilometer vom Ghetto entfernt lebte, verkauf‌te sie nun doch ihr stolzes Eigenheim und zog in eine mickrige kleine Sechszimmerwohnung. Kurz darauf starb sie und hinterließ einen Schrank voll Laken und Handtücher, die zu ihrer Aussteuer gehört hatten. Allesamt ungebraucht, genau wie die wunderschöne handbestickte Tischwäsche, von der ich heute noch sechs Servietten besitze.

 

Onkel Joe, der Klempner, war auch so ein Original aus unserer Familie. In seiner Jugend hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als Farmer zu werden, aber sein Vater bestand darauf, dass er ein Handwerk erlernte, also wurde Joe Klempner, und zwar ein guter, obwohl der Beruf ihm keinen Spaß machte. Als ich ihn einmal fragte, was man als Klempner denn so alles wissen müsse, antwortete er lapidar: »Dass Freitag Zahltag ist und Scheiße nicht bergauf fließt.«

Er war wohl um die vierzig, als er der Stadt den Rücken kehrte und hinauszog auf eine Farm im Norden New Jerseys, wo er, statt sich mit Abflussrohren und Ausgüssen abzugeben, den ganzen Tag auf seinem Traktor saß, säte und erntete und dabei glücklich war wie ein Kind. Vor seinem Haus errichtete er einen kleinen Holzstand zum Verkauf von Schnittblumen und Gemüse. Abends studierte er Samenkataloge und wohl auch den Kurs seiner Wertpapiere, denn er starb als Multimillionär.

 

Mein drei Jahre älterer Bruder und ich, wir haben beide die lebensbejahende Einstellung unserer Mutter geerbt, und auch der fast völlige Mangel an Ehrgeiz, der unser Leben bestimmt hat, stammt wohl von ihr. Mein Bruder verfügt zudem in hohem Maße über jenes Talent, das die Italiener als arte di arrangiarsi bezeichnen – die Kunst, sich zu helfen zu wissen, ein Problem zu umschiffen, immer wieder auf die Füße zu fallen.

Nichts belegt das besser als die Geschichte vom Erdaushub. Vor seiner Pensionierung verwaltete mein Bruder zuletzt eine Wohnanlage mit etwa hundert Einheiten. Er kümmerte sich um Mietverträge und -zahlungen und war verantwortlich für den Unterhalt der Gebäude. Irgendwann beschlossen die Eigentümer, die Anlage auf Gasheizung umzustellen, was bedeutete, dass die alte Ölheizung mitsamt dem Vorratstank unter einem der Parkplätze entfernt werden musste.

Das Abrissteam rückte an, montierte die alte Heizung ab, grub den Tank aus und schaff‌te ihn fort. Und dann standen auch schon die Inspektoren vom Umweltschutzverband vor der Tür und behaupteten, der Tank habe ein Leck gehabt, durch das Öl in den Boden gesickert sei; mithin sei das ringsum aufgehäuf‌te Erdreich erstens verunreinigt und zweitens beschlagnahmt und könne nur gebührenpflichtig von einer eigens darauf spezialisierten Speditionsfirma abtransportiert werden.

Mein Bruder war schon länger in der Stadt ansässig und daher etwas besser über die Beziehungen zwischen den Inspektoren und jener Speditionsfirma informiert als vielleicht der Durchschnittsbürger; diese Kenntnisse verdankte er seinen Jagdfreunden, von denen einige einem Verband angehörten, der – hm, wie soll man das unverfänglich formulieren? –, also der in seinen Geschäftspraktiken nicht immer ganz gesetzestreu war. (Wir befinden uns in New Jersey, liebe Italiener, und es geht ums Baugewerbe, capito?) Und so hegte mein Bruder denn seine Zweifel, was den tatsächlichen Verunreinigungsgrad des Erdaushubs betraf.

Durch einen glücklichen Zufall hatte er gerade zwei Wochen Urlaub vor sich, und am Abend vor der Abreise rief er einen seiner Jagdfreunde an, der als Fuhrunternehmer zufällig diverse Bauprojekte mit Füllmaterial belieferte und zufällig auch dem bewussten Verband angehörte. Mein Bruder erzählte ihm, dass er für einige Zeit verreisen würde, und bedeutete dem Freund, dessen Namen er mir nie verraten hat, er könne sich während der nächsten vierzehn Tage gerne den Erdaushub rings um den Schacht seines ehemaligen Öltanks abholen. Er müsse lediglich dafür Sorge tragen, dass die Laster ohne Kennzeichen und nur bei Nacht führen.

Mein Bruder und seine Frau kehrten zwei Wochen später braun gebrannt und gut erholt aus ihren Ferien zurück. Als er aus dem Taxi stieg, das sie vom Flughafen nach Hause gebracht hatte, nahm er als gewissenhafter Verwalter als Erstes die Gebäude und den Grund in Augenschein, die seiner Obhut unterlagen.

Schockiert über den Anblick, der sich ihm bot, schlug er sich an die Stirn und rief: »O Gott, man...

Erscheint lt. Verlag 24.8.2022
Übersetzer Christa E. Seibicke, Werner Schmitz
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Abenteuer • Amerika • Autobiografisch • Donna Leon • Geschichten • Italien • Leben • Schreiben • Schweiz • Venedig
ISBN-10 3-257-61324-5 / 3257613245
ISBN-13 978-3-257-61324-7 / 9783257613247
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