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Unverschämt jüdisch (eBook)

eBook Download: EPUB
2021
160 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27156-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unverschämt jüdisch - Barbara Honigmann
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Barbara Honigmann über Literatur, das Leben und jüdische Identität
Barbara Honigmann ist eine Klasse für sich: Ob sie von einer lebhaften Begegnung mit einem jüdischen Geschäftsmann im Flugzeug nach New York erzählt, die in der Frage gipfelt: Worüber reden eigentlich Gojim? Oder ob sie davon berichtet, wie sie als Vierzehnjährige in Ost-Berlin den Existentialismus für sich entdeckte. Immer tut sie es mit ihrem feinen Sinn für Komik, und wenn nötig, offen und direkt. Ihr Lebensweg führte sie aus der DDR in den Westen, von Deutschland nach Frankreich, aus der Assimilation in das Tora-Judentum. Im ganz wörtlichen Sinn ist sie 'unverschämt jüdisch' und schreibt darüber so persönlich, humorvoll und lebensklug, wie nur sie es kann.

Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis 2020, dem Jean-Paul-Preis 2021 und zuletzt dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2022. Bei Hanser erschienen, Damals, dann und danach (1999), Alles, alles Liebe! (Roman, 2000), Ein Kapitel aus meinem Leben (2004), Das Gesicht wiederfinden (2007),Das überirdische Licht. Räumlichkehr nach New York, (2008), Chronik meiner Straße (2015), Georg(2019) und die Textsammlung, unverschämt.

Abends in die Iphigenie


Zum Max-Frisch-Preis 2011, Zürich

Im November 1947 reist Max Frisch schon zum zweiten Mal nach Kriegsende nach Deutschland. Nun betritt er zum ersten Mal Berlin und notiert in sein Tagebuch: »Kurt kauft eine kleine Skizze von Liebermann. Ferner gäbe es drei Täßlein aus Meißner Porzellan, einen Aschenbecher aus Messing und vieles andere, was man sonst nicht braucht.«

Das klingt erst einmal nicht so aufregend, Schwarzmarktatmosphäre eben, wenn nicht genau diese »Täßlein« aus Meißner Porzellan im obersten Regal meines Küchenschranks stünden. Ich hole sie nur für seltene Gelegenheiten, für würdige Gäste über vierzig heraus.

Die Meißner Täßlein sind klein und zierlich und sehr zerbrechlich. Sie gehören jetzt mir, aber stammen, genau wie die Zeilen aus Max Frischs Tagebuch, aus einer Vorzeit meines Lebens, einer allerdings nahen Vorzeit, einer Frühzeit, der frühen Nachkriegszeit.

Als der unbestimmt bleibende »Kurt« in Begleitung von Max Frisch im zerstörten Berlin seine kleine Skizze von Liebermann auf dem Schwarzmarkt erwarb, kaufte auch meine Mutter auf dem Schwarzmarkt die Meißner Täßlein und dazu einige Zeichnungen, nicht von Liebermann, sondern von Lovis Corinth. »Alles unerschwinglich teuer, wenn man mit Löhnen rechnet, aber billig, wenn man mit Zigaretten rechnet«, notiert Max Frisch, und meine Mutter hat das oft genauso bestätigt, auf dem schwarzen Markt in Berlin gab es damals für ein paar Zigaretten al-les, erzählte sie manchmal, wenn sie einem Gast Kaffee in das Meißner Täßlein goss oder er die Corinth-Zeichnungen an unserer Wohnzimmerwand bewunderte. Und wenn sie diese Bemerkung machte, klang immer irgendeine Art Spott in ihrer Stimme mit: »Die blöden Deutschen — wenn sie nicht die ganze Welt in Scherben gelegt hätten, könnten sie die Täßlein noch unversehrt in ihren Schränken zu stehen haben.«

Meine Eltern waren ziemlich genau zur gleichen Zeit nach Berlin gekommen wie Max Frisch, aber nicht, wie er, als Beobachter und Besucher der zerstörten Städte Europas; sie waren wiedergekommen, um in Berlin zu leben, zu arbeiten und den Deutschen zu helfen, aus ihrem Schutt wieder auf die Beine zu kommen. Für Juden eine nicht ganz selbstverständliche Motivation.

Diese frühe Nachkriegszeit ist, wie gesagt, eine Vorzeit meines Lebens, aber sie streckt sich in mein eigenes Leben hinüber und reicht noch immer hinein, als ein Zeitriese sozusagen, eine Zeit, die ich nicht erlebt habe, die vergangen ist, die aber an mir haftet wie eine Haut, durch Überlieferung und Erzählung. Dann haben die das … und es wäre … und es war, und es ist gewesen … und dann und dann und dann … und wenn nicht … so war das.

In den Beobachtungen, wie Frisch sie in seinem Tagebuch notiert hat, finde ich viele Eindrücke wieder, die ich von meinen Eltern oft genauso geschildert bekommen habe: Die Russen sprechen tadelloses Deutsch, sie »nehmen den Geist sehr ernst, offensichtlich entsenden sie ihre besten Leute. […] Unser Gespräch hat keinen einzigen Namen zutage gefördert, der ihnen nicht bekannt ist.«

Meine Eltern arbeiteten zu dieser Zeit mit den russischen Kulturoffizieren der sowjetischen Besatzungsbehörde zusammen, um die deutsche Kultur wieder aufzurichten, Theater, Film, das ganze Pressewesen — natürlich in ihrem, im sowjetischen Sinn. Von diesen Kulturoffizieren, sie waren oft Juden, habe ich meine ganze Kindheit über sprechen gehört, sie müssen sich wohl aus denselben Gründen in die Erinnerung meiner Eltern eingeprägt haben, die Max Frisch nennt, »offensichtlich entsenden sie ihre besten Leute«. Einer dieser Männer hieß Georgi Bespalow, den Namen habe ich so oft gehört, dass ich ihn bis heute nicht vergessen kann und auch gar nicht vergessen will. Sein großes Engagement für die deutsche Kultur hat er später mit mehreren Jahren Gulag bezahlt, den er nach seiner Rückkehr aus den sibirischen Lagern nicht mehr lange überlebte. Das hat mir seine Witwe erzählt, die ich in den siebziger Jahren fast »zufällig« in Moskau traf. Als ich, zurückgekehrt, meinen Eltern diese schlechte Nachricht überbrachte, schwiegen sie verlegen, hätten es wohl lieber nicht gehört. Ach, der Arme.

»Kleiner Empfang durch den Kulturbund, der im Westen verboten ist«, notiert Max Frisch weiter. »Einige bekannte Gesichter, die als Emigranten in der Schweiz gewesen sind … Nachtessen in der sogenannten ›Möwe‹, wo die Künstler ohne Marken speisen können: zwei Kartoffeln, Fleisch, etwas Grünes sogar, Bier.«

Die »Möwe«, eines der wenigen unzerstört gebliebenen kleinen Stadtpalais im Zentrum Berlins, war von den russischen Besatzungsbehörden requiriert und dann den Theaterschaffenden Berlins geschenkt worden, daher, nach dem Stück von Tschechow, der Name »Möwe«. Die »Möwe« blieb auch weiterhin ein Theaterclub, man blieb dort unter seinesgleichen, ein Club eben, nach englischer Art. Später, als man schon überall ohne Marken essen konnte, besuchten meine Eltern noch immer die »Möwe« und nahmen mich oft mit, später ging ich mit Freunden oder Kollegen vom Theater dorthin. In der »Möwe« wurden kleine oder große Feste gefeiert oder Sylvester, oder man ging einfach essen, Kaffee trinken, Leute treffen oder Bücher ausleihen, eine Bibliothek war dort nämlich auch eingerichtet, wir konnten da Theatertexte von Beckett, Edward Bond oder gar Artaud ausleihen, die sonst in der DDR auf irgendwelchen Schwarzen Listen standen.

Die frühe Nachkriegszeit muss, da sie noch so lange nachgeklungen hat, eine sehr intensive Zeit gewesen sein. Aber auch ein seltener Moment der Hoffnung auf einen gelingenden Aufbruch aus dem Schlamassel nach der großen Katastrophe. Max Frisch beschreibt die Landschaft und Szenen vom Leben auf dem zerstörten Planeten:

»Später zum Brandenburger Tor. […] Stille wie in den Bergen, nur ohne das Rauschen eines Gletscherbaches. In den Zeitungen gibt es eine Spalte für tägliche Überfälle, es kommt vor, dass man eine kleiderlose Leiche findet … Ein Hügelland von Backstein, darunter die Verschütteten, darüber die glimmernden Sterne; das letzte, was sich da rührt, sind die Ratten. Abends in die Iphigenie.«

Irgendeine Hoffnung müssen meine Eltern in diesem Moment, in dem Hügelland von Trümmern, zwischen Verschütteten, Ratten und der »Iphigenie«-Aufführung, gefunden oder sich erhalten haben, die vielleicht sogar ihren Ausdruck in dem Entschluss fand, ein Kind, mich, in die Welt zu setzen. Meine Eltern waren nämlich nicht mehr sehr jung, von derselben Generation wie Max Frisch, aber sie gehörten nicht zu den Verschonten, wie Frisch sich im Vorspruch zu seinem Tagebuch selbst bezeichnet. Er legte offensichtlich großen Wert auf diese Bemerkung, er erklärt sich als einer, der außerhalb steht und dessen Beobachtungen aus dieser sicheren Distanz stammen.

Meine Eltern waren relativ Verschonte, da sie im englischen Exil die Nazizeit überleben konnten, und ich bin eine Nachgeborene. Eine von der sogenannten zweiten Generation. Diese Zählung allein markiert den tiefen Einschnitt der Jahre der Judenverfolgung und des Kriegs, wir zählen ein Davor und ein Danach. Die Jahre dazwischen folgen ganz anderen Zählungen, Anzahl der Länder und überschrittenen Grenzen des Exils, Zahl der Verstecke und Zahl der Tage in den Verstecken, Zahl der Lager, Zahl der Toten und Ermordeten. Sie lassen sich schwer erzählen.

An die Nachgeborenen wendet sich Bertolt Brecht:

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut,

in der wir untergegangen sind,

gedenket,

wenn ihr von unseren Schwächen sprecht,

auch der finsteren Zeit,

der ihr entronnen seid.

Frisch erwähnt das Gedicht mehrmals in seinem Tagebuch und widmet Brecht auch in seinem zweiten Tagebuch (19661971) noch einmal Erinnerungen an ihre Begegnungen. Er hatte Brecht wenige Tage nach dessen Rückkehr aus dem Exil in Zürich kennengelernt und blieb ihm dann in einer kollegialen Freundschaft verbunden, hat ihn oft besucht.

Der Name Brecht hat eine besondere Farbe in diesem »Klang« der frühen DDR-Zeit, der »Möwe«, des Neuanfangs. In seinem Tagebuch, viel mehr einem sehr knappen Arbeitsjournal, erwähnt Brecht übrigens auch die »Möwe«: »die koffer aus der schweiz sind noch unterwegs, die COURAGE im deutschen theater geht immer noch ausverkauft, helli hat büroräume in der ›möwe‹, ein ensemble ist zusammengestellt.«

Bertolt Brecht ist, glaube ich, eine der seltenen Meisterfiguren, denn das war...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Essays • Georg Roman • Judentum • Kafka • Literaturpreise • #ohnefolie • ohnefolie • Proust
ISBN-10 3-446-27156-2 / 3446271562
ISBN-13 978-3-446-27156-2 / 9783446271562
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