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Der Abstinent (eBook)

Roman | »Dickens für das 21. Jahrhundert.« The New York Times

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 2. Auflage
336 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43857-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Abstinent -  IAN MCGUIRE
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»Ein literarischer Noir, dicht und spannend.« Richard Ford Manchester, 1867. Im Morgengrauen hängen die Rebellen. Die englische Polizei wirft ihnen vor, die >Fenians<, irische Unabhängigkeitskämpfer, zu unterstützen. Eine gefährliche Machtgeste seines Vorgesetzten, findet Constable James O'Connor, der gerade aus Dublin nach Manchester versetzt wurde. Einst hieß es, er sei der klügste Mann der Stadt gewesen. Das war, bevor er seine Frau verlor, bevor er sich dem Whiskey hingab. Mittlerweile rührt er keinen Tropfen mehr an. Doch jetzt sinnen die >Fenians< nach Rache. Der Kriegsveteran Stephen Doyle, amerikanischer Ire und vom Kämpfen besessen, heftet sich an O'Connors Fersen. Ein Kampf beginnt, der O'Connor tief hineinzieht in einen Strudel aus Verrat, Schuld und Gewalt.

Ian McGuire, geboren 1964, ist ein britischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Mit >Nordwasser< war er 2016 für den Man Booker Prize nominiert. Der Roman wurde von der >The New York Times< zu einem der zehn besten Bücher des Jahres gewählt und wurde von der BBC zur Serie verfilmt, mit Colin Farrell in einer Hauptrolle.

Ian McGuire, geboren 1964, ist ein britischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Mit ›Nordwasser‹ war er 2016 für den Man Booker Prize nominiert. Der Roman wurde von der ›The New York Times‹ zu einem der zehn besten Bücher des Jahres gewählt und wurde von der BBC zur Serie verfilmt, mit Colin Farrell in einer Hauptrolle.

Erstes Kapitel


Manchester, 22. November 1867

Mitternacht. Feldgeschütze in der Stanley Street, Barrikaden an jeder Brücke und Kreuzung. Die hellen Flammen der Wachfeuer spiegeln sich rötlich schimmernd auf dem schwarzen, bootlosen River Irwell. Im Rathaus in der King Street klopft James O’Connor den Regen von seiner Melone, knöpft den Mantel auf und hängt beides an einen Haken neben dem Pausenraum. Sanders, Malone und vier, fünf andere schlafen in einer Ecke auf Strohsäcken; die anderen sitzen an den Tischen, spielen Whist, plaudern oder lesen den Courier. In der Luft hängt der vertraute Kasernendunst aus starkem Tee und Tabak, links an der Wand verstaubt ein Regal voller Turnkeulen und Medizinbälle, in der Mitte steht ein mit Brettern abgedeckter Billardtisch. Fazackerley, der Sergeant vom Dienst, bemerkt O’Connor und nickt.

»Und?«

O’Connor schüttelt den Kopf.

»Früher oder später wird sich einer blicken lassen«, sagt Fazackerley. »Irgendein besoffener Schwachkopf. Einen gibt’s immer. Warten Sie’s nur ab.«

O’Connor nimmt sich einen Stuhl, Fazackerley füllt eine verbeulte Blechkanne halb mit kochend heißem Wasser aus dem Kessel und rührt zweimal um.

»Östlich von Kingstown ist außer mir kein Ire auf den Beinen«, sagt O’Connor. »Die anderen liegen brav im Bett, folgen dem Rat der Priester und halten sich da raus.«

»Ich dachte, eure Fenians geben nicht viel auf das, was die Pfaffen sagen.«

»Nur, wenn’s ihnen in den Kram passt. So wie wir alle eben.«

Fazackerley nickt, gestattet sich ein Grinsen. Sein Gesicht ist ein borstiger Wust aus Furchen und Flächen, die Augenbrauen sind verwildert, die angegrauten Haare dünn und fettig. Wären da nicht die blassblau leuchtenden Augen – eher wie die eines Neugeborenen oder einer Porzellanpuppe als die eines über Fünfzigjährigen –, würde er vielleicht erschöpft wirken, verwahrlost, doch so strahlt er sogar im Sitzen eine Art verschmitzten Elan aus.

»Die haben die Dragoner durch Deansgate trotten sehen«, fährt O’Connor fort. »Die Kanonen und die Barrikaden. Die sind nicht so dumm, wie Sie glauben.«

»Na, zumindest drei von denen werden heute um acht Uhr ziemlich dämlich aus der Wäsche kucken.«

Fazackerley legt den Kopf zur Seite, imitiert einen Gehängten, doch O’Connor beachtet ihn gar nicht. Neun Monate sind inzwischen vergangen, seit er aus Dublin hierher versetzt wurde, und er hat sich an die Sitten seiner englischen Kollegen gewöhnt. Ständig machen sie ihre Witze, sticheln, lassen nichts unversucht, um ihn zu provozieren. Oberflächlich sind sie freundlich, aber hinter dem Grinsen und Gelächter spürt er Misstrauen. Was hat der hier verloren?, fragen sie sich. Taucht hier einfach auf und will uns vorschreiben, wie wir unsere Arbeit machen sollen … Sogar Fazackerley, bei Weitem noch der angenehmste, behandelt ihn meist nur als lustiges Kuriosum, als sonderbare Abnormität, wie einen durchreisenden Apachen oder einen Tanzbären. Andere wären beleidigt, aber O’Connor nimmt es hin. Manchmal, denkt er, hat man es leichter, wenn man missverstanden wird.

»Maybury will Sie sehen«, sagt Fazackerley, richtet sich auf. »Er ist oben bei Palin.«

»Maybury und Palin? Was wollen die von mir?«

Fazackerley lacht.

»Sie sind hier das Orakel vom Dienst, Constable O’Connor. Die wollen von Ihnen hören, was die Zukunft bringt.«

»Hätten sie mal vorher auf mich gehört, dann wäre Charley Brett womöglich noch am Leben.«

»Kann sein, aber behalten Sie das besser für sich. Unsere glorreichen Herren und Meister mögen es nicht, wenn man ihnen ihre Fehler unter die Nase reibt.«

»Angeblich soll Palin sowieso gefeuert werden, sobald der Sturm sich gelegt hat. In Pension geschickt.«

»Ach, hier wird zu viel getratscht«, winkt Fazackerley ab. »Sie würden wohl gern selbst das Ruder übernehmen, was? Chief Constable O’Connor, hm?«

Fazackerley prustet los, als hätte er einen großartigen Witz gemacht. O’Connor trinkt seinen Tee aus, zupft sein Wams zurecht und befiehlt dem Sergeant vom Dienst in aller gebotenen Höflichkeit, sich zu verpissen.

Oben lauscht er einen Augenblick an der Bürotür. Maybury kennt er ganz gut, aber den Chief Constable hat er bislang nur bei dienstlichen Anlässen und aus der Ferne gesehen – auf einem Podium oder hoch zu Ross. Palin ist kurz gewachsen, wirkt soldatisch und zumindest in der Öffentlichkeit steif und etwas reizbar. Am Tag des Hinterhalts war er nirgends zu erreichen, weshalb trotz der eindeutigen Warnsignale niemand etwas unternahm. Ein leitender Beamter hat seinen Posten wegen des Debakels schon verloren, jetzt munkelt man, Innenminister Gathorne Hardy habe sich persönlich eingeschaltet und auch Palin müsse demnächst seinen Hut nehmen. Zwangspension irgendwo auf dem Land und ein Lebensabend in Komfort und Wohlstand, schlimmer kommt es für einen wie ihn sowieso nie.

O’Connor hört die beiden durch die Tür – Palins leise Stimme, Mayburys gelegentliche Einwürfe –, versteht jedoch kein Wort. Er klopft, das Gespräch verstummt, und Maybury ruft ihn herein. Keiner der beiden lächelt oder steht von seinem Stuhl auf. Maybury – mittelgroß, untersetzt, Backenbart, Feuermal auf der Wange – nickt ihm knapp zu. Palin beäugt O’Connor misstrauisch, als hätte er ihn schon einmal irgendwo gesehen, wüsste aber nicht mehr genau, wo. Beide Männer sind in Hemdsärmeln, Palin raucht eine Zigarre. Auf dem Tisch stehen ein Senftopf und eine Flasche Essig, Wurstgeruch vermischt sich mit dem blauen Dunst.

»Der Sergeant sagt, Sie wollen mich sehen, Sir«, wendet O’Connor sich an Maybury.

Maybury sieht Palin an, will ihm den Vortritt lassen, doch der schüttelt den Kopf.

»Ihren Bericht, Constable«, befiehlt Maybury, als gehöre es eben zu O’Connors Job, mitten in der Nacht dem Chief Constable von Manchester persönlich Meldung zu machen.

O’Connor zieht sein Notizbuch aus der Innentasche und blättert durch die Seiten.

»Ich habe den ganzen Tag mit meinen Informanten in der Stadt gesprochen. Heute Nacht sollten wir nichts zu befürchten haben. Die Hinrichtung wird problemlos über die Bühne gehen. Sollte es zu Vergeltungsmaßnahmen kommen, dann später, wenn es wieder ruhiger ist. Nachdem sämtliche Soldaten die Stadt verlassen haben.«

»Es wird von Vergeltung geredet?«

»Ach, geredet wird immer, Sir, aber vorerst nichts, was wir allzu ernst nehmen müssten.«

»Die Fenians haben also Angst vor uns«, freut sich Palin, als läge dieser Schluss klar auf der Hand. »Unsere Machtdemonstration zeigt Wirkung.«

»Vorerst, ja«, stimmt O’Connor zu. »Aber in ein, zwei Monaten dürften die Dinge anders liegen.«

»Inwiefern?«, fragt Maybury.

»Die Hinrichtung wird die Leute gegen uns aufbringen. Schon jetzt sind viele überzeugt, dass die Urteile ungerecht sind und das mit Sergeant Brett schlimmstenfalls Totschlag war, aber ganz sicher kein Mord. Wenn die drei Männer hängen, werden andere nachrücken. Am Ende könnte die Fenian Brotherhood in Manchester sogar gestärkt aus der Sache hervorgehen.«

Palin runzelt die Stirn, richtet sich im Stuhl auf.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagt er. »Das klingt ja, als wollten Sie sagen, eine so harte Strafe könnte andere zu ähnlichen Verbrechen ermuntern. Wie soll das gehen? Wo läge da der Sinn?«

O’Connor blickt Hilfe suchend zu Maybury, doch der hebt nur die Brauen und lächelt ausdruckslos zurück.

»Es ist immer gefährlich, Märtyrer zu schaffen, Sir.«

»Märtyrer?«, ruft Palin aus. »Das sind doch keine Märtyrer! Gewöhnliche Verbrecher sind das. Kaltblütige Polizistenmörder.«

»Ich persönlich sehe das natürlich auch so, Sir, aber die herrschende Meinung unter den Iren lautet anders.«

»Dann ist die herrschende Meinung eben Unsinn. Sind Ihre Landsleute wirklich so dumm? Lernen die es denn nie?«

O’Connor antwortet nicht gleich. Er denkt daran, wie der alte Aufrührer Terence MacManus 1861 tot aus Kalifornien heimgeholt wurde und halb Dublin in braunem Nebel und strömendem Regen dem Trauerzug beiwohnte. Die Leute hingen aus den Fenstern, standen dicht gedrängt rund um den Mountjoy Square. Als der Zug das Tor des Friedhofs Glasnevin erreichte, war er fast drei Kilometer lang. Zwanzigtausend Dubliner, und kaum ein Flüstern zu vernehmen, als MacManus ins Grab gelegt wurde. Gibt man den Fenians eine Leiche, kann man Gift darauf nehmen, dass sie ihren Vorteil daraus ziehen werden. Bevor sie Terence Bellew MacManus heimbrachten, hatte sich für die Fenians kaum jemand interessiert, doch schon am nächsten Tag galten sie als heldenhafte Nachfolger der Männer von ’48. Wer klug ist, unterschätzt niemals die Macht der Toten, aber Palin ist nicht klug. Niemand von denen ist klug.

»Die meisten meiner Landsleute sind arm und ungebildet, Sir«, erklärt O’Connor schließlich. »Das nutzen die Fenians aus. Sie versprechen ihnen Freiheit und ein Ende ihrer Leiden.«

»Die Fenians sind Fanatiker.«

»Stimmt, Sir, aber Fanatiker sind hartnäckig.«

»Wir auch«, erwidert Palin. »Das ist doch gerade der Punkt, Constable. Das Empire ist stark und standhaft; es hat schon schlimmere Meutereien überstanden. Vielleicht sollten Sie Ihre Freunde bitten, diese Botschaft zu verbreiten. Unsere Feinde sollen wissen, dass sie sich für eine hoffnungslose Sache opfern.«

»Das ist nicht …«

O’Connor will selbst antworten, doch Maybury fällt ihm ins...

Erscheint lt. Verlag 23.4.2021
Übersetzer Jan Schönherr
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Abenteuerroman • bücher 2021 • England • Fenian Brotherhood • Geheimdienst • Geschichte • Gewalt • Historischer Abenteuerroman • Historischer Kriminalroman • Historischer Roman • irisch englischer Konflikt • Irland • Irlandkonflikt • Kriminalroman • Krimi Noir • Manchester • Mord • Nordirlandkonflikt • Nordwasser • Pennsylvania • Rache • Realismus • Rebellion • Romane 2021 • Spionageroman • Unabhängigkeit • USA • Vergeltung • Verrat
ISBN-10 3-423-43857-6 / 3423438576
ISBN-13 978-3-423-43857-5 / 9783423438575
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