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Die glückliche Moskwa (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76437-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die glückliche Moskwa - Andrej Platonow
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Eine junge Frau kommt Mitte der dreißiger Jahre nach Moskau, um ihr Glück zu suchen. Moskwa, »Tochter der Revolution«, ist ein starkes, prachtvolles Geschöpf, eine Fallschirmspringerin, der Wind ist ihr Element. Beim Besuch einer Metrobaustelle stürzt sie in den Schacht und verliert ein Bein. Ihrer Attraktivität tut dies keinen Abbruch. Bei zahllosen erotischen Abenteuern lernt sie Männer kennen - darunter einen Ingenieur, eine Chirurgen und einen aus der Gesellschaft ausgestoßenen Intellektuellen -, die sich unsterblich in sie verlieben. Für Moskwa ist Sex nur eine physiologische Notwendigkeit. Unter Glück versteht sie etwas anderes, etwas Zukünftiges. Zum Leben mit einem einzelnen Mann fühlt sie sich nicht geschaffen, und solange sie ihre Entsprechung, ihr Glückskorrelat noch nicht gefunden hat, gibt sie dem Alleinsein den Vorzug.

Die glückliche Moskwa, Platonows letzter, erst Anfang der neunziger Jahre entdeckter Roman, trägt unverkennbar symbolische Züge. Im Vergleich mit der Baugrube und Tschewengur fast traditionell und auf schreckliche Weise heiter geschrieben, verkörpert sich in seinen Figuren der martialische Untergang der Menschheitsutopie - zu einer Zeit, als das Leben laut Stalin »besser, fröhlicher« geworden war.



<p>Andrej Platonow, 1899 in Woronesch geboren, begann mit 14 Jahren zu arbeiten, absolvierte später das Eisenbahnertechnikum und war in den 20er Jahren als Ingenieur für Bewässerungstechnik und Elektrifizierung tätig. Seit 1918 publizierte er Lyrik, Erzählungen und journalistische Arbeiten. Seine Hauptwerke, <em>Tschewengur</em> (1926) und <em>Die Baugrube</em> (1930), konnten nicht erscheinen. Platonow starb 1951. Erst in den 80er Jahren setzte seine Wiederentdeckung ein.</p>

1


Ein dunkler Mensch mit brennender Fackel lief auf der Straße in die trübselige Nacht des Spätherbstes. Ein kleines Mädchen sah ihn aus dem Fenster ihres Hauses, aufgewacht aus trübseligem Schlaf. Dann hörte sie einen kräftigen Gewehrschuss und einen armen traurigen Schrei – wahrscheinlich hatte man den mit der Fackel laufenden Menschen getötet. Bald erklangen ferne häufige Schüsse und das Getöse einer Menschenmenge im nahen Gefängnis … Das Mädchen schlief ein und vergaß alles, was es dann an den anderen Tagen sah: Sie war noch zu klein, und Gedächtnis und Verstand der frühen Kindheit wurden in ihrem Körper für immer vom nachfolgenden Leben überwuchert. Doch bis in die späten Jahre erstand und lief in ihr unverhofft und traurig der namenlose Mensch – im fahlen Licht des Gedächtnisses – und erstarb wieder im Dunkel der Vergangenheit, im Herzen des herangewachsenen Kindes. Inmitten von Hunger und Schlaf, im Moment der Liebe oder bei einer anderen jungen Freude ertönte plötzlich fern, in der Tiefe des Körpers wieder der traurige Schrei des Toten, und die junge Frau änderte auf der Stelle ihr Leben – sie hörte auf zu tanzen, wenn sie beim Tanzen war, sie arbeitete konzentrierter und zuverlässiger, wenn sie beim Arbeiten war, sie schlug die Hände vors Gesicht, wenn sie allein war. In jener unwirtlichen Nacht des Spätherbstes hatte die Oktoberrevolution begonnen – in jener Stadt, in der Moskwa Iwanowna Tschestnowa damals lebte.

Ihr Vater starb an Typhus, und das hungrige verwaiste Mädchen ging aus dem Haus und kehrte nicht wieder zurück. Mit schlummernder Seele, ohne Menschen und Räume zu erinnern, ging sie und aß sich ein paar Jahre durch die Heimat, wie in der Leere, bis sie im Kinderheim und in der Schule zu sich kam. Sie saß auf der Schulbank am Fenster, in der Stadt Moskau. Auf dem Boulevard hatten die Bäume bereits aufgehört zu wachsen, ohne Wind waren die Blätter von ihnen abgefallen und bedeckten die verstummte Erde – für einen langen kommenden Schlaf; es war Ende September und das Jahr, als alle Kriege zu Ende gingen und der Verkehr wieder aufgebaut wurde.

Schon zwei Jahre war das Mädchen Moskwa Tschestnowa im Kinderheim, hier hatte man ihr einen Vornamen, Nachnamen und sogar einen Vatersnamen gegeben, denn das Mädchen erinnerte sich an ihren Namen und die frühe Kindheit sehr ungenau. Ihr schien, der Vater habe sie Olja genannt, aber sie war sich nicht sicher und schwieg wie eine Namenlose, wie jener umgekommene nächtliche Mensch. Da bekam sie zu Ehren der Stadt Moskau den Vornamen, den Vatersnamen zum Gedenken an Iwan, den gewöhnlichen russischen Rotarmisten, der im Kampf gefallen war, und den Nachnamen als Zeichen der Ehrlichkeit ihres Herzens, das noch nicht unehrlich zu sein vermochte, obwohl es lange unglücklich war.

Das klare und aufgehende Leben Moskwa Tschestnowas begann an jenem Herbsttag, als sie in der Schule am Fenster saß, schon in der zweiten Klasse, den Tod der Blätter auf dem Boulevard betrachtete und interessiert das Schild am gegenüberliegenden Haus las: »Arbeiter-und Bauern-Lesebibliothek A. W. Kolzow«. Vor der letzten Unterrichtsstunde gab man allen Kindern zum ersten Mal in ihrem Leben Weißbrot, eine Frikadelle und Kartoffeln und erzählte ihnen, woraus Frikadellen gemacht werden – aus Kühen. Zugleich bekamen sie die Aufgabe, bis zum nächsten Tag einen Aufsatz über die Kuh zu schreiben, wer schon eine gesehen hatte, und ebenso über das eigene künftige Leben. Am Abend, nachdem sich Moskwa Tschestnowa an Weißbrot und der gehaltvollen Frikadelle satt gegessen hatte, schrieb sie am gemeinsamen Tisch, als ihre Freundinnen bereits schliefen und das kleine elektrische Licht schwach brannte, einen Aufsatz. »Erzählung des Mädchens ohne Vater und Mutter über ihr künftiges Leben. Sie lehren uns jetzt Verstand, aber Verstand ist im Kopf, draußen ist nichts. Man muss ehrlich mit Arbeit leben, ich will das künftige Leben leben, da soll es Kekse, Marmelade, Schokolade geben, und dass man immer auf dem Feld an Bäumen vorbei spazieren gehen kann. Sonst werde ich nicht leben, wenn es so ist, habe ich keine Lust und mag nicht. Ich will gewöhnlich leben, mit Glück. Darüber hinaus gibt es nichts zu sagen.«

Später lief Moskwa von der Schule weg. Sie wurde nach einem Jahr zurückgebracht und in einer Vollversammlung bloßgestellt, weil sie sich als Tochter der Revolution undiszipliniert und unethisch verhalten habe.

»Ich bin keine Tochter, ich bin eine Waise!«, antwortete Moskwa und begann wieder fleißig zu lernen, als wäre sie nirgendwo in Abwesenheit gewesen.

Von der Natur mochte sie am meisten den Wind und die Sonne. Sie liebte es, irgendwo im Gras zu liegen und zuzuhören, worüber der Wind, gleich einem unsichtbaren, sehnsüchtigen Menschen, im Dickicht der Pflanzen tuschelte, und die Sommerwolken zu sehen, die fern über allen unbekannten Ländern und Völkern dahinzogen; von der Beobachtung der Wolken und Weiten bekam Moskwa in der Brust Herzklopfen, als wäre ihr Körper hoch emporgehoben und dort allein gelassen worden. Dann ging sie über die Felder, über die einfache schlechte Erde und sah sich alles wachsam und vorsichtig an, sie lebte sich erst in der Welt ein und freute sich, dass alles hier zu ihr passte, zu ihrem Körper, dem Herzen, der Freiheit.

Nach Abschluss der neunten Klasse suchte Moskwa wie jeder junge Mensch unbewusst den Weg in ihre Zukunft, in die glückliche Enge der Menschen; ihre Hände sehnten sich nach Tätigkeit, ihr Gefühl suchte Stolz und Heldentum, in ihrem Verstand triumphierte im Voraus ein noch geheimnisvolles, aber erhabenes Schicksal. Die siebzehnjährige Moskwa brachte es nicht über sich, irgendwo hineinzugehen, sie wartete darauf, eingeladen zu werden, als hielte sie die Gabe ihrer Jugend und herangewachsenen Kraft für kostbar. Daher wurde sie zeitweilig einsam und merkwürdig. Ein zufälliger Mann lernte Moskwa eines Tages kennen und besiegte sie mit seinem Gefühl und seiner Liebenswürdigkeit, da heiratete ihn Moskwa Tschestnowa und verdarb ein für alle Mal ihren Körper und ihre Jugend. Ihre großen Hände, geeignet zu kühner Tätigkeit, begannen ihn zu umarmen; das Herz, das Heldentum gesucht hatte, begann nur den einen listigen Mann zu lieben, der sich an Moskwa klammerte, als wäre sie sein unabdingbarer Besitz. Aber eines Morgens fühlte Moskwa eine so bedrückende Scham über ihr Leben, ohne recht zu wissen, weshalb, dass sie ihren schlafenden Mann zum Abschied auf die Stirn küsste und das Zimmer verließ, ohne auch nur ein zweites Kleid mitzunehmen. Bis zum Abend ging sie über die Boulevards und am Moskwa-Fluss entlang, fühlte allein den Wind des niesligen Septemberwetters und dachte nichts, war müde und wie leer.

In der Nacht wollte sie zum Schlafen in irgendeine Kiste kriechen, eine leere Imbissbude des Moskauer Handelstrusts oder sonst etwas finden, wie sie es früher in ihrer unbehausten Kindheit getan hatte, stellte aber fest, dass sie längst groß geworden war und nirgendwo unbemerkt hineinpasste. Sie setzte sich in der Dunkelheit des späten Boulevards auf eine Bank und schlummerte ein, in der Nähe hörte sie Diebe und obdachlose Rowdys herumstreichen und murmeln.

Um Mitternacht setzte sich ein unauffälliger Mann auf dieselbe Bank, in der geheimen und behutsamen Hoffnung, dass ihn diese Frau plötzlich von sich aus liebgewinnen könnte, denn er war wegen der Sanftmut seiner Kräfte außerstande, hartnäckig um Liebe zu werben; er suchte eigentlich weder die Schönheit des Gesichts noch den Liebreiz der Gestalt – er war einverstanden mit allem und mit dem höchsten Opfer seinerseits, wenn ihm nur ein Mensch ein treues Gefühl entgegenbrächte.

»Was wollen Sie?«, fragte ihn die erwachte Moskwa.

»Nichts«, antwortete der Mann. »Nur so.«

»Ich will schlafen und weiß nicht wo«, sagte Moskwa.

Der Mann erklärte ihr sogleich, dass er ein Zimmer habe, um aber jedem Verdacht hinsichtlich seiner Absichten vorzubeugen, solle sie lieber ein Zimmer im Hotel mieten und dort in einem sauberen Bett schlafen, eingehüllt in eine Decke. Moskwa willigte ein, und sie gingen. Unterwegs forderte Moskwa ihren Begleiter auf, sie irgendwo zum Lernen unterzubringen – mit Verpflegung und Wohnheim.

»Was lieben Sie denn am meisten?«, fragte er.

»Ich liebe den Wind in der Luft und noch so dies und das«, sagte die erschöpfte Moskwa.

»Also die Schule für Luftfahrt,...

Erscheint lt. Verlag 13.11.2019
Übersetzer Lola Debüser, Renate Reschke
Sprache deutsch
Original-Titel Sčastlivaja Moskva
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Fallschirmspringen • Fallschirmspringerin • Liebe • Osteuropa • platonow • Russland • Sčastlivaja Moskva deutsch • Sowjetunion • Sozialismus
ISBN-10 3-518-76437-3 / 3518764373
ISBN-13 978-3-518-76437-4 / 9783518764374
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