Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand (eBook)
340 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76106-9 (ISBN)
<p>Miron Bia?oszewski, 1922 in Warschau geboren, wurde nach der Niederschlagung des Aufstands in verschiedene Gefangenenlager deportiert. Nach seiner Rückkehr im Februar 1945 arbeitete er als Lokalreporter. 1955 gründete er in seiner Wohnung das »Teatr Osobny«, das Sartre, Grotowski, Mro?ek, Ró?ewicz und Kantor zu seinen Gästen zählte. Er gilt als wichtigster Repräsentant der »linguistischen Poesie«, der seit einiger Zeit als Klassiker der urbanen Subkultur entdeckt wird. Er starb 1983 in Warschau.</p>
Am Dienstag, den 1. August 1944 war es bedeckt, nass, es war nicht besonders warm. Am Nachmittag bin ich wohl hinaus auf die Chłodna gegangen (damals meine Straße, Hausnummer 40), und ich erinnere mich an die vielen Straßenbahnen, Autos, Menschen und dass mir gleich an der Ecke Żelazna das Datum einfiel, der 1. August, und ich dachte bei mir etwa in diesen Worten:
»1. August – Fest der Sonnenblumen«. Allerdings ist mir das so in Erinnerung, dass ich die Chłodna in Richtung Kercelak vor mir hatte. Doch woher die Assoziation mit Sonnenblumen? Weil sie um diese Zeit blühen, ja verblühen, weil sie reif werden … Und damals, da war ich naiver und sentimentaler, ungewieft, so stand einem der Sinn in diesen Zeiten, naiv, ursprünglich, irgendwie sorglos, romantisch, mit Untergrund, Krieg … Also – irgendwo musste dieses Gelb ja sein – das Licht, dieses Schlechtwetter mit diesem Hervorkommenwollen (und ja dann auch Durchbrechen) der Sonne, auf den roten Trambahnen, wie es in Warschau so ist.
Ich werde aufrichtig sein, mich auf das alles in Tatsächlein besinnen, vielleicht zu detailliert, aber dafür wird es nur die Wahrheit sein. Jetzt bin ich fünfundvierzig, dreiundzwanzig Jahre ist es her, ich liege auf der Couch, unversehrt, lebendig, frei, bei guter Gesundheit und Laune, es ist Oktober, Nacht, das Jahr 67, Warschau hat wieder eine Million dreihunderttausend Einwohner. Ich war siebzehn Jahre alt, als ich mich eines Abends ins Bett legte und zum ersten Mal Artillerie hörte. Das war die Front. Es muss der 2. September 1939 gewesen sein. Mein Schrecken damals war berechtigt. Fünf Jahre später – und die so wohlbekannten Deutschen spazierten in Uniform durch die Straßen.
(Ich benutze hier die Bezeichnung »Deutsche«, und nicht nur hier, denn sonst hört es sich künstlich an. Die Wlassow-Leute1 wurden ja auch oft für Ukrainer gehalten. Wir wussten, dass die Nazis nicht nur Deutsche waren. Wir sahen es sogar. 1942, nach der Liquidierung des kleinen Ghettos, waren es die Letten, die mir in Erinnerung geblieben sind. Mit Gewehren. Ganz in Schwarz. Sie standen längs der Sienna. Dicht an dicht. Auf dem arischen Gehsteig. Und tage- und nächtelang behielten sie unverwandt die Fenster auf der jüdischen Seite der Sienna im Blick. Das waren Reste von Fensterscheiben in den Rahmen, mit Federbetten zugestopft. Leichenflaum. An der Straße – dieser einen Straße – verlief von der Żelazna bis zur Sosnowa keine Mauer, sondern Stacheldraht. Der Länge nach. Die Fahrbahn, die Pflastersteine – auf der anderen Seite standen Unkraut und Hahnenfuß schon hoch – waren ganz schrundig und grau verkohlt. Und trotzdem hockten die da. Und zielten. Und ich weiß noch, wie ab und zu einer schoss. Dort in die Fenster hinein.)
An diesem 1. August also hatte meine Mutter so gegen zwei Uhr Nachmittag gesagt, ich solle zu Teiks Kusine in die Staszica gehen und Brot holen; offensichtlich war kein Brot da, und sie hatten das so abgemacht. Ich ging los. Und als ich zurückkam, das weiß ich noch, waren überall sehr viele Menschen, und es ging schon drunter und drüber.
»Auf der Ogrodowa haben sie zwei Deutsche getötet«, hieß es.
Ich bin wohl nicht dorthin gegangen, wohin ich sollte, denn da ging es sofort los mit Festnahmen, trotzdem muss ich wohl doch über die Ogrodowa gegangen sein. Der Aufruhr dort in Wola kann auch ganz lokal begrenzt gewesen sein, denn ich traf mich dann später mit Staszek P., dem Komponisten, und Staszek sagte lachend:
»Und meine Mutter hat noch gesagt, heute ist so ein ruhiger Tag.«
Staszek hatte selbst jede Menge Tiger gesehen.
»Da sind Panzer, groß wie Häuser.«
Sie waren also unterwegs. Jemand hatte gesehen, wie an der Mazowiecka 11 tausend Berittene (unsere Leute) ankamen. Es sah also nicht überall gleich aus. Aber es war noch nicht fünf, die »Stunde W«. Staszek und ich sollten zur Chłodna 24 gehen, zu Irena P., einer Freundin von mir aus der Untergrunduni. (Unser Polonistikseminar war Ecke Świętokrzyska und Jasna, im zweiten Stock, da saßen wir auf Schulbänken, Handelsschule Tynelski nannte sich das.) Wir sollten also um fünf bei ihr sein (um sieben war ich mit Halina verabredet, die in der Chmielna 32 wohnte, bei meinem Vater und Zocha), und weil es noch zu früh war, gingen wir die Chłodna von der Żelazna bis zur Waliców hinunter und zurück. Ein Küster rollte auf den Eingangsstufen einen Teppich aus und stellte grüne Bäume in Kübeln auf, für eine Prunkhochzeit. Plötzlich sehen wir, wie der Küster alles wieder wegräumt, den Teppich aufrollt, die Kübel mit den Bäumen wegschafft, ganz schnell, das hat uns zu denken gegeben. Und am Tag davor, glaube ich, also am 31. Juli, war Roman Ż. gekommen, um sich von uns zu verabschieden. Man hörte gerade die sowjetische Front, Panzerblitze und gleichzeitig Bomber über den deutschen Stadtteilen. Wir gingen also bei Irena vorbei. Es war noch vor fünf. Wir reden, auf einmal Schüsse. Dann irgendwie schwerere Waffen. Geschütze waren zu hören. Und überhaupt alles Mögliche. Und dann ein Schrei:
»Hurraaa!«
»Der Aufstand!«, sagten wir uns sogleich, wie alle in Warschau.
Seltsam. Denn dieses Wort hatte man vorher noch nie im Leben gebraucht. Nur in Geschichte, es kam in Büchern vor. Bis zum Überdruss. Und hier, schlagartig … ist es da, und zwar so mit »Hurraaa« der Menge, und Tamtam. Dieses »Hurraaa« und Tamtam, das war die Eroberung des Gerichtsgebäudes von der Ogrodowa aus. Es regnete. Wir hielten Ausschau, versuchten so viel wie irgend möglich mitzubekommen. Irenas Fenster gingen auf den zweiten Hinterhof mit einer roten Mauer am hinteren Ende, und hinter der Mauer zog sich ein weiterer Hof bis an die Ogrodowa, mit einem Sägewerk, mit Schuppen, Holzstapeln, Wagen. Wir schauen, da kommt einer in deutscher Felduniform, mit Feldmütze und Armbinde, er springt über die Mauer aus jenem Hof dort in unseren. Er sprang auf unseren Mistkübel mit Deckel. Vom Kübel auf einen Hocker, vom Hocker auf den Asphalt.
»Der erste Aufständische!«, riefen wir aus.
»Ach, Mironek, weißt du, dem würde ich mich glatt ergeben«, sagte Irena hingerissen zu mir, durch den Vorhang hindurch.
Gleich darauf kamen Leute von der Ogrodowa auf den anderen Hof gerannt und packten Bretter und Wagen für die Barrikaden.
Später – das weiß ich noch –, nachdem Staszek Nudeln gekocht und wir gegessen hatten, spielten wir irgendein Spiel, blätterten in »Gargantua« von Rabelais (für mich die erste Begegnung mit ihm). Und gingen schlafen. Natürlich wurde es nicht still. Die ganze Zeit nicht. Nur die schwereren Kaliber sind leiser geworden, das wusste man später. Irena ging also in ihrem Zimmer schlafen. Und Staszek und ich im Bett ihrer Mutter, im Zimmer der Mutter, die nicht aus der Stadt nach Haus gekommen war, versteht sich. Es regnete. Niesel. Es war kühl. Man hörte die Maschinengewehre – dieses Rattern. Serien, mal näher, mal ferner. Und bunte Leuchtraketen. Ab und zu. Am Himmel. Darüber sind wir wohl eingeschlafen.
Von Bombardierungen hatte ich so richtig zum ersten Mal 1935 gehört. Als die italienischen Faschisten Abessinien angriffen. Da saß die hinkende Mania bei uns, sie hatte Kopfhörer auf und hörte Radio, und auf einmal verkündete sie:
»Addis-Abeba wird bombardiert.«
Ich stellte mir das Haus in der Wronia vor, das von Tante Natka, ich weiß nicht, warum ausgerechnet das, und den fünften Stock, dass wir da auf dem Treppenabsatz sind, zwischen viertem und fünftem Stock. Und mit der Treppe zusammen einstürzen. Danach habe ich sofort gedacht, dass das doch unmöglich ist. Aber – wie sieht es denn aus?
Was war am 2. August 1944? Im Westen lief seit Juni die Offensive der Alliierten durch Frankreich, Belgien, Holland. Und von Italien aus. Die russische Front stand an der Weichsel. In Warschau brach der zweite Tag des Aufstands an. Das Dröhnen von Explosionen weckte uns auf. Es regnete.
Man begann sich zu organisieren. Blockweise. Wachen. Ummodeln der Keller. Ummodeln der Duchgänge zu Tunneln. Nächtelang. Barrikaden. Zuerst dachten die Leute, alles sei geeignet, so wie die mit den Brettern und Karren vom Sägewerk an der Ogrodowa. (Die ganze Ogrodowa – die konnten wir ja aus den Fenstern sehen – war polnisch geflaggt – ein merkwürdiger Feiertag!) In den Höfen Versammlungen und Beratungen. Bestimmen – wer, was. Wohl auch schon...
| Erscheint lt. Verlag | 16.7.2019 |
|---|---|
| Übersetzer | Esther Kinsky |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Angabe fehlt |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Literatur ► Briefe / Tagebücher | |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Bibliothek Suhrkamp 1508 • BS 1508 • BS1508 • Droste-Preis 2024 • Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung 2024 • Kleist-Preis 2022 • Osteuropa • Polen • Untergrund • Urbizid • Warschau • Warschauer Aufstand |
| ISBN-10 | 3-518-76106-4 / 3518761064 |
| ISBN-13 | 978-3-518-76106-9 / 9783518761069 |
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