Die Dame. Mord im Jahr des Herrn 1439 (eBook)
277 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1567-3 (ISBN)
Schwester Frevisse reist nach London, um dort ihre neue Priorin zu treffen. Unterkunft findet sie bei ihrer reichen Cousine Alice, verheiratet mit dem Grafen von Suffolk. Doch es wird kein ruhiger Besuch bei Verwandten: Alice ist verwickelt in gefährliche Machenschaften mächtiger politischer Parteien und das Haus der Suffolks wird zum Austausch mysteriöser Nachrichten genutzt. Als plötzlich ein geheimer Bote unter unerklärlichen Umständen stirbt, bittet Alice Schwester Frevisse um Hilfe. Kann sie den Mörder finden, bevor es ein weiteres Opfer gibt?
Eine unvergleichliche Detektivin - Schwester Frevisse, die Miss Marple des Mittelalters.
Margaret Frazer lebt mit ihren vier Katzen und viel zu vielen Büchern in der Nähe von Minneapolis, Minnesota. In den USA hat sie sich mit ihrer Serie um Schwester Frevisse über viele Jahre ein Millionenpublikum erschrieben.
1
Es hieß, Coldharbour House sei vor fast hundert Jahren von Sir John Poultney, einem viermaligen Stadtoberhaupt von London, erbaut worden, um der Stadt, die ihm zu beidem verholfen hatte, seinen Reichtum und seine Macht kundzutun. An der Hay Wharf Lane im Stadtbezirk Dowgate gelegen, zog sich sein Besitz – mit Hof, großem Saal und Garten, sozusagen allem, was für den üppigen Lebensstil eines reichen Mannes erforderlich war – am östlichen Ufer der Themse entlang. Sir John Poultney hatte sogar einen Sohn gehabt, der all seinen Reichtum und all seinen Besitz erben sollte, aber wenn dieser ihn auch überlebt hatte, war er doch kinderlos gestorben, und seitdem ging Coldharbour von einer Hand in die andere über, ohne lange in eines Herrn Besitz zu bleiben. Doch die Hände, durch die das Haus ging, waren stets von hohem Adel. Die Grafen von Hereford, Huntingdon und Cambridge hatten es besessen, König Heinrich IV. und später sein Erbe, der Prinz von Wales, und jetzt der Graf von Suffolk mit seiner Gemahlin und ihrem Gefolge, das aus mehr als hundert Personen bestand.
Jane, die gerade die Manschette an den Ärmel des Hemdes nähte, das William an ihrem Hochzeitstag tragen sollte, ließ die Arbeit sinken und hob den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen.
William, dachte sie. Probierte seinen Namen im Geiste aus, als würde er ihr dadurch irgendwie vertrauter werden. William Chesman. Sie sagte probeweise ihren Namen, wie er lauten würde, wenn sie seinen trug: Jane Chesman. Sie fügte probeweise ihrer beider Namen zusammen: Jane und William Chesman. Sie versuchte, sich die Ehe vorzustellen, und konnte es nicht. William Chesman. Der, den der Graf von Suffolk und seine Gemahlin ihr, gütig, wie sie nun mal waren, zum Mann bestimmt hatten.
Oder, um genauer zu sein, der Mann, den sie für Jane gekauft hatten, weil sie die Nichte des Grafen von Suffolk war und daher versorgt sein musste. Und da sie sich geweigert hatte, ins Kloster einzutreten, musste eben ein Ehemann her. Und da es unwahrscheinlich war, dass sie auf andere Art zu einem kommen würde, hatten sie ihr William Chesman gekauft, und irgendwann in naher Zukunft – nach Weihnachten, aber noch vor der Fastenzeit – würde sie mit ihm verheiratet werden. Oder er mit ihr. Wie immer man es sehen wollte.
Alles in allem fand Jane es besser, die Sache nicht allzu eingehend zu betrachten. Sie senkte den Kopf, um den Stich zu beenden, einen ihrer kleinen, regelmäßigen Stiche, und zog die Nadel durch das feine weiße Leinen. Aber es blieb bei dem einen Stich, und da es ihr nicht gelang, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, blickte sie erneut auf und schaute aus dem Fenster. Der Frauensaal von Coldharbour lag hoch oben, am Ende einer langen Wendeltreppe, die vom großen Saal hinaufführte, der selbst weit über dem Hof lag. Von dem gepolsterten Erkersitz des östlichen der beiden nach Süden hinausgehenden Fenster des Frauensaals, wo Jane saß, konnte sie entweder steil hinunter in den Hof blicken, in dem ein ständiges Kommen und Gehen herrschte – Lakaien in blauer Livree, einfache Bedienstete in Grau und Braun sowie gelegentlich jemand in kräftigem Rotbraun oder Grün –, seitlich in eine Ecke des jetzt winterlich kahlen Gartens von Coldharbour hinter dem grüngestrichenen Tor und den hohen grauen Steinmauern, oder über die Mauer hinweg auf die erhabene, glänzende, fließende Dunkelheit der Themse, die niedrigen Häuser von Southwark und den stolzen Kirchturm von St. Mary Overie am jenseitigen Ufer oder noch weiter, auf die fernen Hügel von Surrey.
Das Nonnenkloster, in dem sie für den Rest ihres Lebens geblieben wäre, wenn es nach denen gegangen wäre, lag irgendwo in diesen Hügeln.
Der Gedanke hatte sich ungebeten eingeschlichen, wie Williams Name, und so sorgsam, wie sie es vermieden hatte, über ihn und das Eheleben nachzudenken, schob sie auch den Gedanken beiseite und blickte hinaus auf die Themse. Heute lag der Fluss matt wie Stahl unter dem grauen Novemberhimmel, von dem schneebeladenen Wind zu kleinen, wütenden Wellen hochgepeitscht und vielbefahren wie immer. Eine Myriade geruderter Schiffe war unterwegs, in der Hauptsache die einfachen Boote der Fährleute, aber oft auch regsame Prahme mit kleinen Segeln. Manchmal zog rasch die buntbemalte Prunkbarke eines Edelmanns vorbei, deren doppelte Reihe von Ruderern sich tief vor- und zurückbeugte. Alle waren sie auf dem Weg irgendwohin, flussaufwärts, flussabwärts, zum anderen Ufer, während die Themse einfach weiterfloss, tief und zuverlässig und unaufhörlich. Es war jetzt eine Woche her, dass sie von Ewelme nach Coldharbour gekommen waren, und Jane hatte festgestellt, dass es weit besser war, ihre Gedanken mit der Themse fortfließen zu lassen, als ihnen den Freiraum zuzugestehen, sich anderen Dingen zuzuwenden. Sie wusste, dass das Wasser ein wenig weiter flussabwärts zu cremeweißem Schaum aufgewühlt um die Brückenpfeiler der London Bridge herumtoste, aufgehalten auf seinem Weg zum Meer. An stillen Tagen konnte sie die Wasser hier in Coldharbour rauschen hören, während des Gezeitenwechsels, wenn der Fluss gegen sich selbst ebenso ankämpfen musste wie gegen die Brücke. Aber Jane wusste auch, dass die Themse sich immer, früher oder später, sei es bei Ebbe oder Flut, durchkämpfte und brodelnd ihren Weg bahnte, weiterfloss und immer breiter wurde, bis sie die See erreichte.
Fort.
Im Schlaf und manchmal, wenn sie unvorsichtig war, auch im Wachen, träumte Jane davon, fortzugehen. Träumte davon, an einem Ort zu sein, wo weder ihr Gesicht wichtig war noch das, was sie sein sollte, sondern nur das, was sie tatsächlich war.
Es war eine nutzlose Träumerei. Wenn es ihr gelungen war, in ihren vierundzwanzig Lebensjahren etwas zu lernen, dann das: Ihr Gesicht und das, was sie war, waren die beiden Dinge, von denen sie nie frei sein würde. Das Kloster hatte die einzige Fluchtmöglichkeit dargestellt, und die hatte sie abgelehnt. Also blieb noch die Ehe. Mit William Chesman.
Auf der anderen Seite des Raumes begannen Aneys und Millicent eine weitere ihrer nicht sonderlich leidenschaftlichen Zankereien darüber, welche Farbe eine der Blumen auf dem Kissenbezug haben sollte, den sie gerade bestickten. Für die beiden gehörte Streiten ebenso zum Sticken wie die Stiche, aber für alle anderen war es ermüdend, sich das anzuhören. Und da Lady Alice ihr, eher stillschweigend als offen, eine Art Autorität über die anderen Edelfrauen in ihrem Gefolge eingeräumt hatte, wahrscheinlich weil sie mit keiner eine Freundschaft verband, die hätte beschädigt werden können, sagte Jane zu den beiden, um den Streit zu beenden: »Dieser Rosaton ist zu grell. Ein dunkleres Rosa wäre besser.«
Aneys und Millicent verstummten, überrascht darüber, unterbrochen zu werden. Dann fragte Millicent zweifelnd: »Glaubt Ihr wirklich?«
Jane unterdrückte die Bemerkung, dass sie es wohl glauben musste, wenn sie es gesagt hatte. Nach der Anzahl der gedankenlosen Äußerungen zu urteilen, die aus dem Munde der Leute kamen, war es wohl keine Binsenweisheit, dass man vor dem Reden nachdenken sollte, aber sie gab sich damit zufrieden, geduldig zu antworten: »Bei diesem Rosaton wäre der Gegensatz zu dem dunklen Grün zu stark. Wenn sie den Kissenbezug ansehen, würden alle Leute nur denken, wie rosa diese Blume doch ist.«
»Aber ich mag Rosa«, wandte Millicent ein. Dann erhellte sich ihr Gesicht. »Und sowieso wird die meiste Zeit jemand darauf sitzen, so dass es überhaupt nicht zu sehen ist!«
»Dann spielt es auch keine Rolle, wenn wir es hier versticken und nicht da«, griff Aneys prompt ihre Seite des Arguments wieder auf.
»Ja, aber …«, entgegnete Millicent, und Elizabeth erhob sich von ihrem Kissen und blickte ihnen über die Schulter, derweil die neben ihnen sitzende Katherine bemerkte: »Könntet ihr nicht …«
Am anderen Ende des Raums sah Lady Alice von der Abrechnungsrolle auf, die vor ihr auf dem Tisch lag, und der amüsierte Blick voll versteckten Lachens, den sie Jane zuwarf, besagte, sie könne die Mädchen ruhig ihren zahmen Streitereien überlassen, wenn sie sich denn unbedingt zanken wollten. Obwohl Meister Bruneau neben ihr stand und sich gerade vorbeugte, um ihr etwas auf der Pergamentrolle zu zeigen, hob Lady Alice eine Hand und winkte Jane zu sich. Er beriet die Gräfin in der Frage, wie viele Fässer Wein aus den Kellern Coldharbours mit dem Karren nach Wingfield Manor geschafft werden sollten, jetzt, wo die Straßen endlich zugefroren waren – Jane hatte dem Gespräch mit halbem Ohr zugehört, während sie ihre Gedanken schweifen ließ.
Bereitwillig legte Jane ihre Näharbeit zur Seite und ging zu ihr. Der Frauensaal war wesentlich länger als breit, demnach nicht gut proportioniert, aber wunderschön eingerichtet. Auf dem Fußboden lagen spanische Teppiche mit komplizierten Mustern, in lebhaften Schattierungen aus Granatrot und Saphirblau, Smaragdgrün und Gold gewebt, und an den Wänden hingen französische Gobelins, auf denen die Geschichte von Tristan und Isolde erzählt wurde. Tisch und Stühle, die lange Sitzbank vor dem Kamin und selbst die Hocker waren aus geschnitzter und polierter goldener Eiche, und die Deckenbalken waren mit grünblättrigen Weinranken und bunten Vögeln bemalt. Die Fensterscheiben waren aus klarem Glas, und auf den Fensterläden glänzten die Familienwappen des Grafen und der Gräfin von Suffolk. Alles in allem war der Raum ebenso kultiviert, freundlich und reich wie Lady Alice selbst, und es sagte viel über die Gräfin von Suffolk aus, dass Jane sich hier nicht nur willkommen fühlte, sondern ebenso zu Hause wie an...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2018 |
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Reihe/Serie | Schwester Frevisse ermittelt |
Übersetzer | Anke Grube |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Maiden’s Tale / 08 Sister Frevisse |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | 15. Jahrhundert • Adel • Autobiografie • Bote • Briefe • Bruder Cadfael • England • England im Mittelalter • Englischer Adel • Ermittlerin • Ermittlungen • Geheime Nachrichten • Graf von Suffolk • historischer Krimi • Historischer Kriminalroman • Intrige • Kloster • Königshof • Krimi • Margaret Frazer • Mittelalter • Mittelalter Krimi • Mittelalter Roman • Mord • Nonne • Peter Tremayne • Schwester Fidelma • Schwester Frevisse • Schwester Frevisse ermittelt • Verbrechen • Verwandte • Verwandtschaft • weibliche Ermittlerin • weibliche Heldin |
ISBN-10 | 3-8412-1567-X / 384121567X |
ISBN-13 | 978-3-8412-1567-3 / 9783841215673 |
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