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Darling Days (eBook)

Mein Leben zwischen den Geschlechtern
eBook Download: EPUB
2017 | 1., Deutsche Erstausgabe
450 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-74541-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Darling Days - iO Tillett Wright
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Mit sechs will iO kein Mädchen mehr sein. Im New Yorker East Village Ende der 80er sind unorthodoxe Entscheidungen Trumpf: Also gibt sich iO als Junge aus. Und wächst auf in einem rauen, grenzenlosen Wunderland, zwischen Drag Queens, Performancekünstlern und den Freunden seiner [sic!] Patentante Nan Goldin ... Darling Days erzählt von der Suche nach Authentizität an einem verlorenen Ort - ein unwiderstehliches, ein heftiges Buch.
Als eine Gruppe Jungs im Central Park die sechsjährige iO ausgrenzen, ist die Entscheidung gefallen: iO ist jetzt ein Junge. Die Mutter unterstützt den Schritt, schließlich leben die beiden in einem Brownstone, in dem Anderssein gelebt wird, in dem ungarische Filmemacher, alt gewordene Pornostars und Künstler zusammen mit all den anderen Freaks die Gegenkultur feiern. Für iO beginnt ein Leben zwischen den Geschlechtern, befreit von starren Kategorien, am Rande des Chaos und an der Seite einer Mutter, deren Fürsorge außer Kontrolle gerät ...



<p>iO Tillett Wright, geboren 1985 in New York, ist Autor, Künstler, Schauspieler und TV-Moderator. Als Fotograf ist er Begründer der Porträtinitiative »Self Evident Truths Project«, die sich für die Rechte der LGBT-Community einsetzt. iO hält regelmäßig Vorträge an zahlreichen Universitäten zum Thema Geschlechteridentität. Einem größeren Publikum bekannt wurde er mit seinem TED-Talk »Fifty Shades of Gay«.</p>

iO Tillett Wright, geboren 1985 in New York, ist Autor, Künstler, Schauspieler und TV-Moderator. Als Fotograf ist er Begründer der Porträtinitiative »Self Evident Truths Project«, die sich für die Rechte der LGBT-Community einsetzt. iO hält regelmäßig Vorträge an zahlreichen Universitäten zum Thema Geschlechteridentität. Einem größeren Publikum bekannt wurde er mit seinem TED-Talk »Fifty Shades of Gay«.

2   NIEDERKUNFT


Third Street zwischen Second Avenue und der Bowery, Spätsommer 1985

Es war Vollmond in der letzten Augustnacht 1985. Meine Mutter sagte meinem Vater, er solle die Videokamera einschalten, das Baby sei unterwegs.

Draußen war es drückend heiß, die Art von Luft, die man greifen kann. Mutter watet Uptown durch warmen Pudding zu einem Schwimmbad in Hell’s Kitchen. Zwei Wochen vorher, der Bauch so groß wie ein Basketball, hatte sie im Russischen Bad im Bikini für eine junge Fotografin posiert, die ihr gesagt hatte, Schwimmen sei das einzig Wahre, um ihr Becken für die Geburt zu lockern. Von da an war sie jeden Tag schwimmen gegangen.

Geräusche breiten sich im Sommer anders aus. Hupen sind lauter, Schreie durchdringender, Pfiffe machen einen Staffellauf, um arschwackelnden Booty-Shorts mehrere Blöcke weit zu folgen. Mitte der Achtziger flackerten die Straßenlampen der Ninth Avenue über müllübersäten Bürgersteigen, den Karren von Obsthändlern, den ausgespreizten Leibern von Cracksüchtigen, die den Asphalt umarmten, die spitzen Rippen entblößt in der Hitze.

Dreispurig fahrende Autoscheinwerfer durchschneiden die Dunkelheit und machen Dick-Tracy-Comics aus den zahllosen schattenhaften Deals, die in Türeingängen laufen, Pupillen geweitet von Tausenden synthetischen Euphorien, Kids aus den besseren Gegenden in Brooks Brothers und eine Horde Perlenohrringe, aus deren Sicht Hell’s Kitchen »Downtown« war, die Szene, um sich mit Drogen einzudecken. Im Gegenlicht der Scheinwerfer muskelbepackte Transen-Nutten, die auf High Heels zwischen ihren Zwanzig-Dollar-Freiern einherstaksen. Sie haben Teppichmesser in den Strumpfbändern, für den Fall, dass dieser Abend der Abend sein sollte, an dem irgendein dummes Arschloch sich von seinen Rosenkranzkomplexen übermannen lassen würde, nachdem er auf ihren Minirock abgespritzt hat. Rhonda mit ihren fast eins achtzig und breiten Schultern, die Augen chlorgerötet, war perfekt an die hiesige Fauna angepasst.

Für Frauen wie meine Mutter wurde die Bezeichnung Glamazone geprägt. Grace Jones besaß die gleiche Strenge und Statur. Mische einen Teil Einhorn, drei Teile Gewittersturm, zwei Teile verwundeter Kampfstier, dann hast du so ungefähr den Vibe, der meine Mutter umgab. Ein rasender Tiger hätte schlechte Karten gegen sie gehabt. Kinnlanges, blondiertes Haar, kristallblaue Augen. Ihr Kopf ist für den Schulterpolster-Look geschaffen, kantig und akzentuiert, das Gesicht von einer griechisch-römischen Nase dominiert, die sich zu knallroten Lippen hinabschwingt, voll und fein gezeichnet, über einer so eindrucksvollen Kauleiste, dass wir sie ihre Klaviertasten nennen. Ihre Muskeln rollen wie Stahltrossen über ihre schnittigen Knochen, und sie wirft sich in die Brust wie eine Stammeskriegerin, die Hände wie gemacht, um ein Schwert zu führen.

Die Siebziger und Achtziger in New York waren primitive Zeiten, eine Zeit der Raubüberfälle, Drogen und Vergewaltigungen, daher musste ein Profimodel, das auf Miniröcke und hautenge Jeans stand, die Zähne zeigen können. Sie gewöhnte sich einen Killerblick an, bei dem Männer sich einnässten. Einmal schleppte sie eine durchgebrochene Neonröhre durch die Stadt und drohte Straßengangstern damit wie mit einem schartigen Speer.

Aber an jenem Abend war meine Mutter bei allem Temperament gehandicapt und angreifbar. Sie sah aus wie ein Teenager, der seinen Rucksack vorne trägt, denn außer am Bauch hatte sie während ihrer Schwangerschaft kaum zugenommen. Sie trug ihre unbändigen blonden Locken zurückgekämmt, ihre Haut war rein und klar, mit diesem rosigen Strahlen schwangerer Frauen. Ihre knallroten, ultrakurzen Shorts bekam sie schon seit Wochen nicht mehr zu, darum hatte sie immer den Reißverschluss offen und den Bund heruntergerollt. Schwangerschaftskleidung hatte in ihrer Welt nichts verloren.

Als sie Richtung Times Square ging, an dem es vor Fünfundzwanzig-Cent-Peep-Shows und Fünfundzwanzig-Dollar-Nutten nur so wimmelte, trat ein Händler unter seiner Markise hervor und sagte: »Mein Gott, ich hab noch nie so was Schönes gesehen!«

Meine Eltern lebten damals in einem berüchtigten Block: Third Street zwischen Second Avenue und der Bowery, eine heute denkbar harmlose Adresse. Der blutverkrustete Bodensatz von gebrauchten Nadeln und Crack-Pfeifen, der Faulschlamm von Hoffnungslosigkeit, Müll und Mord, die unheimlichen Spuren, die sich in diese miesen Behausungen eingefressen haben, sind längst verblasst und ausgewaschen worden.

Meine Eltern und ihre Szene waren vor dem glänzenden 7-Eleven und den 30-Dollar-Brunch-Specials da, tummelten sich dort in ihren hochgeschnittenen Jeans und aufgeschlagenen Kragen, mit wildtoupierten Haaren und ließen Rap, Jazz und No-Wave aus ihren Ghettoblastern ballern. Bevor das East Village zum »NYU-Viertel« ausgerufen wurde, musste man seinen Dealer vom Münztelefon anrufen und zum Fenster hochbrüllen, um reingelassen zu werden.

Das Bowery Hotel, in dem heute an den Wochenenden Filmsternchen eine glamouröse Bleibe finden, war damals eine rund um die Uhr geöffnete Tanke, die meiner Mutter mitten in der Nacht radioaktives Vindaloo auf Styroportellern servierte. Zwei räudige Köter lungerten zwischen den Zapfsäulen herum, so verdreckt und auspuffgasverseucht, dass der eine ein grünes Fell bekommen hatte, der andere ein blaues.

Die Straße war auch schon an der Schwelle zum vorigen Jahrhundert kein Zuckerschlecken, als man Einwanderer in die Wohnungen gepackt hatte, sechs in jedes Zimmer. Aber selbst 1985, die Stadt ohnehin pleite und im Chaos versunken, in der Schlussphase von Punk und in der Hochphase der Aids- und Crack-Epidemie, stach die Third Street durch ihre besonders raffinierte Gewalttätigkeit heraus, ein Kaleidoskop des Irrsinns.

Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber dem Haus, in dem wir wohnten, befand sich das größte Männerasyl von New York. Damit war der Block die Abladestelle für Obdachlose aus dem ganzen Land gemacht, die eiternde Armbeuge für die Süchtigen des Landes, für die Vagabunden und die Verrückten, das Ellis Island der kriminellen Geisteskranken. Amerika hatte seine Gestörten ein Jahrzehnt lang sich selbst überlassen und unter all diejenigen gemischt, die durch das soziale Netz gefallen waren – die Gescheiterten, Gestrandeten, Vergessenen – und dieses giftige Gebräu, in jedem anderen Winkel des Landes unerwünscht, wurde wie der Müll mit Lastkähnen in unsere Straße verfrachtet und hier gelöscht, was sie für jeden Penner von hier bis Texas zum schwärenden Anlaufpunkt machte. Das Ergebnis war ein permanenter niedrigschwelliger Krawall.

Meine Mutter guckte vom Fenster auf die Leute herunter, die unten wie Ameisen herumquirlten, und sagte: »Guck sie dir an. Amerikas psychisch kranke Randexistenzen, für die sich kein Psychiater interessiert. Um zu überleben, bleibt ihnen bloß die Selbstmedikation, und alles, was sie zur Verfügung haben, sind Hämmer: Heroin, Crack und eine Flasche Night Train.«

Und viele überlebten es nicht. Nachts lagen da so viele Obdachlose schlafend aufgereiht, dass man kaum den Bürgersteig sehen konnte. Hin und wieder kam morgens ein Krankenwagen, um einen »Langschläfer« mitzunehmen, und ließ eine graue Silhouette auf dem Beton zurück, wo die Leiche ausgelaufen war.

Auf der Ecke gegenüber der Tankstelle hatte die Heilsarmee eine Unterkunft für straffällig gewordene Jugendliche eingerichtet, eine Resozialisierungseinrichtung für hoffnungslose Fälle, die praktisch als Vorbereitungsschule für ein Leben auf der anderen Straßenseite fungierte. Im Wochentakt fuhr ein Streifenwagen vor, und zwei Polizisten führten einen Jungen in Handschellen ins Gebäude, den sie wegen Raubes eingelocht hatten oder weil er irgendwo in einem Treppenhaus eine japanische Touristin vergewaltigt hatte.

Um die Mischung perfekt zu machen, unterhielten die Hells Angels ihr Ostküstenhauptquartier und Clubhaus eine Seitenstraße weiter, und gelegentlich heizten sie die Straße lang, dreißig Mann im Pulk, ohne Schalldämpfer an ihren Maschinen, und gaben sich redlich Mühe, irgendwo eine Schlägerei anzuzetteln.

Am 4. Juli jedes Jahres zerlegten sie den ganzen Block. Eine zwei Stockwerke hohe amerikanische Flagge wurde quer über die Straße gespannt und erzitterte unter ohrenbetäubenden Wellen von psychotischem Heavy Metal, der aus stadionrockgroßen Lautsprechern dröhnte, die sie in ihre Clubhaus-Fenster zwängten. In einem Jahr explodierte ein M-80-Böller in einer verschlossenen Mülltonne, und ein dreieckiges Schrapnell aus verzinktem Stahlblech durchschlug den Hals eines puerto-ricanischen Kindes aus der Nachbarschaft und tötete es auf der Stelle.

Die Polizei tat, was sie konnte, um sich außerhalb unseres vier Blocks umfassenden Sperrkreises zu halten, den sie ganz offen als »Arschloch des Universums« bezeichnete. Wir nannten es Zuhause.

Dreieinhalb Monate vor ihrem kurzen Badevergnügen in Hell’s Kitchen, in einer Wohnung, von der aus man dieses ganze Miasma überblickte, war meine Mutter um zwei Uhr morgens auf und kochte sich etwas. Sie hatte die vergangenen zwölf Wochen fieberhaft versucht, ein hartnäckiges Pölsterchen um die Körpermitte abzutrainieren. Mein Vater, der sie im Dunkeln beobachtete, sah ihre linke Hand schützend über dem Bauch liegen und wusste sofort Bescheid. Es war die anmutige, natürliche Pose der Schwangeren, die man auf Tausenden von Fresken und Altarbildern findet.

»Du bist schwanger, Rhonna. Wir bekommen ein Baby.«

Ohne Kontext könnte es als ein...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Darling Days
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 50 shades of gay • Bücher Neuerscheinung • Darling Days deutsch • Drag Queens • Gender • Geschlecht • Geschlechter • lgbti • New York • Nordamerika (USA und Kanada) • Sexualität • ST 4803 • ST4803 • suhrkamp taschenbuch 4803 • TED talk • Transsexuell • USA Nordosten • USA Nordosten: Mid-Atlantic States • Vereinigte Staaten von Amerika USA
ISBN-10 3-518-74541-7 / 3518745417
ISBN-13 978-3-518-74541-0 / 9783518745410
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