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Wiesengrund (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
300 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518748121 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wiesengrund - Gisela von Wysocki
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Die Geschichte der Annäherung an ein Faszinosum. Und die skurrilen, vergeblichen Versuche, seiner Anziehung zu entkommen.

Wie ein magisches Geschehen erscheint der Salzburger Schülerin Hanna Werbezirk die Stimme eines Autors, der im Nachtstudio von Radio Wien zu hören ist. Es ist die des in Frankfurt am Main lebenden Philosophen, Soziologen und Komponisten Th. W. Adorno. Das unausgeführte »W« seines Namens, das für »Wiesengrund« steht, wird zur poetischen Einstiegsstelle in einen Roman, der sich an die Fersen der jungen Hanna Werbezirk heftet.

Um Wiesengrund in natura zu erleben, geht sie als Philosophiestudentin nach Frankfurt am Main, wo sie in gänzlich neue Sphären hineingerät. Nicht nur in die politischen Turbulenzen der Zeit, sondern vor allem in jenes magische Feld, das sie selbst um den hazardeurhaften Denker errichtet hat. Über die Begegnungen mit ihm erzählt das Buch in einer Vielzahl von emblematischen Miniaturen. Und vom Denken eines Musikers, eines Poeten der Moderne, der die europäische Aufklärung auf seine Weise weiterschreibt.



<p>Gisela von Wysocki, geboren in Berlin, Essayistin, Theater- und H&ouml;rspielautorin, Literaturkritikerin, studierte Musikwissenschaft in Berlin und Wien und Philosophie bei Theodor W. Adorno. Sie promovierte &uuml;ber den &ouml;sterreichischen Dichter Peter Altenberg und wurde f&uuml;r ihre Buchver&ouml;ffentlichungen <em>Die Fr&ouml;ste der Freiheit. Weiblichkeit und Modernit&auml;t. &Uuml;ber Virginia Woolf</em> und <em>Fremde B&uuml;hnen. Mitteilungen &uuml;ber das menschliche Gesicht</em> mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre B&uuml;hnenst&uuml;cke &ndash; <em>Abendlandleben, Schauspieler T&auml;nzer S&auml;ngerin</em> u.a. &ndash; entwarfen neuartige szenische Vorlagen f&uuml;r das Theater. Sie lebt in Berlin.</p>

Gisela von Wysocki, geboren in Berlin, Essayistin, Theater- und Hörspielautorin, Literaturkritikerin, studierte Musikwissenschaft in Berlin und Wien und Philosophie bei Theodor W. Adorno. Sie promovierte über den österreichischen Dichter Peter Altenberg und wurde für ihre Buchveröffentlichungen Die Fröste der Freiheit. Weiblichkeit und Modernität. Über Virginia Woolf und Fremde Bühnen. Mitteilungen über das menschliche Gesicht mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre Bühnenstücke – Abendlandleben, Schauspieler Tänzer Sängerin u.a. – entwarfen neuartige szenische Vorlagen für das Theater. Sie lebt in Berlin.

Äther


Hellwach. Im Dunkeln warte ich ab. Um Mitternacht kommen die Gäste. Sie sind das Beste, was der Tag zu bieten hat. Dieses Mal ist es ein Besucher, der sich stark von den bisherigen unterscheidet. Auf die Schnelle könnte ich nicht sagen, wodurch. Aber ich höre es sofort. Später versuche ich, mich an seinen Namen zu erinnern. Bei seiner Erwähnung bin ich wahrscheinlich damit beschäftigt gewesen, das Radiogerät unter der Bettdecke zu verstauen.

Die Leute, die nachts hier eintreffen, haben keine Mäntel an der Garderobe abzugeben. Sie fläzen sich auch nicht in irgendwelchen Sesseln herum. Mit solchem Allerweltsgebaren halten sie sich gar nicht erst auf. Ich betrachte sie als Elementargeister. Sie hausen in der Luft, schwingen sich durch Frequenzbereiche und teilen sich durch Wellenlängen mit. Was mir an ihnen wichtig ist, sind ihre Stimmen. Sie reden mit mir. Sie teilen mir unerhörte Dinge mit. Wie gesagt, das Beste, was so ein Tag im Angebot hat. Jetzt, in diesem Moment, ist Mitternacht und Nachtstudio-Zeit von Radio Wien. Stützpunkt und Herzstück der Stunde ist ein Gerät der Firma GRUNDIG Radio-Werke. Braunes Holz, grün schillerndes Glas und die Namen diverser Sendestationen.

Mir genügen ein paar Sekunden für die Entscheidung, welcher der weitgereisten Besucher vorgelassen wird. Wer nach Hause geschickt wird, bekommt es mit der weißen Taste zu tun. Die Kandidaten haben wenig Zeit. Es geht um alles oder nichts. Sie haben Neues mitgebracht: dann dürfen sie bleiben. Sie langweilen oder strapazieren mich: die Taste! Weg sind sie. Viel habe ich ihnen nicht zu bieten, sie haben nicht mehr als einen stickigen Hohlraum, eher eine Höhle zu erwarten. Ich kann ihnen aus ganz bestimmten Gründen keinen besseren Empfang bereiten.

Meine Besucher reisen schallwellenverschlüsselt an. Ihnen ist es egal, wo und von wem sie am Ende aufgepickt werden. In einem gut klimatisierten, schön beleuchteten Wohnzimmer. Oder in einer erbärmlichen, luftlosen Unterkunft, die überhitzt und dunkel ist. So wie bei mir. Zu allem Überfluss hat ihre Ankunft lautlos, so unbemerkt wie nur möglich zu geschehen. Nur ich darf von ihnen wissen, nicht der Vater, der im Nebenzimmer mit seinen astronomischen Skalen, Notizen, Büchern und Berechnungen beschäftigt ist. Ich nenne ihn »Alasco«. Nach einem Hauptreihenstern im Sternbild des Kleinen Bären. Hundert Lichtjahre von uns entfernt. Dort würde ich ihn in der Mitternachtsstunde am liebsten sehen. In Wirklichkeit sitzt er nebenan und kann hören, was sich in meinem Zimmer tut.

Kein Laut von der Gasse, sie führt wie ein totes Gleis am Haus vorbei. Salzburg versackt um diese Zeit in einer Stille, die an den nachdrücklichen Ernst der Totenstille erinnert. Sie ist mein Feind. Sie macht, dass meine Besucher so tun müssen, als gäbe es sie gar nicht. In den Augen des Vaters sind es Unruhestifter. Für ihn handelt es sich um unrechtmäßige Begegnungen, die sich unter seinem Dach abspielen. Nach zweiundzwanzig Uhr soll ich schlafen und nicht Radio hören. Deshalb muss ich mich unter die Bettdecke verziehen, zusammen mit meinem Radiogerät. Jenem Gehäuse, in dem meine Gäste mithilfe einer Vielzahl physikalischer Vorgänge ihren großen Auftritt haben. »Denk an deine schlechten Noten, Hanna. Denk an die verpatzten Mathematikarbeiten. Denk an die Matura!«

Die Stimme, ungewohnt streng, passt nicht zum Vater. Eher gehört sie dem Herrn Professor Werbezirk, der sich vor den Fachkollegen der Wiener TU für seine depperte Tochter schämt. Er selbst gibt mir ein Beispiel für entsagungsvolle Ausdauer und Disziplin, schlaflos, in seinem Bemühen, der Entstehungsgeschichte der Sterne auf den Grund zu gehen. Staub zuerst, lückenhaft Koordiniertes auf seinem Weg, einen Körper zu bilden, zu einem Stern zu werden. Ich sehe ihn vor mir, den wachen, wachsamen Alasco. Fast als wäre überhaupt keine Wand zwischen uns. So kommt es, dass sich die Gäste nur im Flüsterton äußern dürfen. Nur als verheimlichte Anwesende. Sie behaupten sich als top secret in einer nur mir zugänglichen Umgebung. Heiß ist es, beengend. Ich muss die Bettdecke immer wieder zur Seite schlagen. Muss auftauchen, Atem holen. Dabei stelle ich jedes Mal überrascht fest, wie unbekannt mir mein Zimmer in der Dunkelheit vorkommt. Ich weiß auf einmal nicht mehr, wo was steht und wie sich der Tisch, die beiden Sessel und die Lampe anordnen im Raum. Oder der Bücherschrank. Dabei habe ich doch jedes Mal nur wenige Minuten, höchstens zwei, vielleicht drei, unter der schallschluckenden Decke zugebracht. Genauestens dosiert ein- und ausatmend, Luft einsparend. So lange es nur geht.

Der Name des heutigen Reisenden, vom Radiosprecher angekündigt, hat nicht mehr als ein schnell vorbeiziehendes Geräusch erzeugt. Ich versuche, es in seinem Nachhall zu erwischen, so, wie man sich beim Schlagen einer Uhr im Nachhinein um die genaue Zahl der Schläge bemüht. Das Resultat ist ein bunter Mix aus Konsonanten. Das Wort »Wesendonck« schält sich heraus, dem aber die »i«- und »u«-Laute fehlen. Auch möglich: Musenkind. Hund oder Mund. Riesenmund! So heißt bestimmt niemand! Viele Nachtstudio-Besucher haben sich schon bei mir zu Wort gemeldet. So also geht's zu bei den belesenen Berühmtheiten, dachte ich oft. Sie machen dir Angebote. Da ist die Welt, und wir haben dies und das über sie herausgefunden. Der Mitternachtsbesucher von heute hat kein Interesse daran, mir etwas zu zeigen. So ist es, das Denken, teilt er mir mit. Es ist ruhelos, und es ist rabiat. Friss, Vogel, oder stirb. Ich zeige mit meinen Worten auf ein Feuer, gibt er mir zu verstehen. Deine Sache, was du damit machst!

Zuerst mal für Luft sorgen. Gerade jetzt gehen die Reserven zu Ende. Ich muss auftanken, mich hinüberretten in die sauerstoffhaltige Region meines Zimmers. In der Regel lässt sich überblicken, in welcher Richtung der Sprecher weitermachen wird. Dieses Mal nicht. Der namenlose Sendbote hinterlässt keine Spuren, nur ein Staunen bei mir.

Das Zimmer empfängt mich mit einer unnatürlichen, betretenen Stille. Unter dem Plumeau, knapp oberhalb der Hörbarkeitsgrenze, zieht währenddessen die pausenlose Wortflut weiter, gleich bin ich wieder dabei. Noch ein paar tiefe Atemzüge, das kostet Zeit. Wieder ein Bruchstück, das mir fehlen wird. »Domizile des Augenblicks«, so hat der Radiosprecher den Beitrag genannt. Ich komme gerade noch rechtzeitig in mein Bettenbergdomizil, um den unbekannten Gast über Franz Schubert sagen zu hören, seine Musik habe sich des Potpourris bedient, um zu eigenem Leben zu finden. Schuberts Musik ein Melodienreigen? Ich atme aus, wenig. Vorsichtig. Jeder Atemzug eine Verknappung der Reserven. Bedenken Sie die Heruntergekommenheit des Potpourris, möchte ich dem Mann aus dem Radio zurufen. Seine Armseligkeit! Sein Kurorchesterniveau, Herr WiesenmundundUntergrund! Der geschäftige Mitteilungsstrom ähnelt einem schnellfahrenden Zug. Einem Zug, der sich in Bögen und Schleifen eilig vorwärts bewegt. Ein von Geisterhand beschleunigtes Vehikel.

Kaltblütig ist dieser Nachtstudio-Gast. Eine Ahnung sagt mir aber, er werde auf irgendeine Weise noch das Ruder herumreißen. Wie ein Kind verlasse ich mich darauf, dass Franz Schubert nicht im Desaster enden wird. Ich setze darauf, dass die Rettung zum Greifen nah ist. Dass es nur eines winzigen Schlenkers bedarf, um den zum Brettlmusiker herabgestuften Komponisten auszulösen. Ich halte durch unter dem heißen Deckbett. Eine Plage, das menschliche Atmungssystem! In diesem Moment fällt das Wort »Symphoniesatz«, und die mächtige Stimme breitet lauter Wörter vor mir aus, die mit »K« beginnen. Konflikt. Konfrontation. Kraftprobe. Ludwig van Beethoven geistert als Gebieter durch das Gelände, ein mithilfe von Kollision und Zuspitzung zu Höhepunkten befähigter Meister. Vom Krieg der Strukturen ist die Rede. Tonfolgen entpuppen sich als Führungskräfte. Klangliche Motive stehen auf Kriegsfuß miteinander.

Das Herz schlägt. Angestrengt. Beschleunigt. Ich bin ein verschwitztes Schlafanzugbündel. Schubert, höre ich, ist ein Symphoniesatz-Deserteur. Ein musikalischer Überläufer. Mein Kopf muss aufgebläht aussehen. Und puterrot. Eine Minute noch, dann platze ich. Schubert, ein Abtrünniger. Abgestellt auf Nebenschauplätze. Die Verkörperung des Wiener Gmiat – ein Fahnenflüchtiger! Das ist der Stand der Dinge. Der Mitternachtsbesucher hat Hand an sie gelegt, ich erkenne sie nicht wieder. Aus sehr weitem Abstand blicken sie zu mir hinüber. Die Stimme bahnt schnelle Verbindungen, sie hat schon auf mich abgefärbt. Sindbad der Seefahrer baut sich plötzlich vor mir auf. Ein schäbiges, lose verkeiltes Wrackteil ist neben ihm zu sehen. Der aus Holz und Hanfseilen verknotete Klumpen hat ihm geholfen, sich vor dem riesigen Vogel Rock in Sicherheit zu bringen. Das schäbige Potpourri! Der Rettungsanker! Es fügt sich alles, aber wie unter anderem Namen.

So lange wie überhaupt nur möglich werde ich durchhalten in meinem bettverhangenen Käfig. Das Potpourri der Lieder und Ländler schaut nicht auf erhobene Häupter, sondern auf gebrochene Herzen, sagt die Stimme. Sie ist als ätherisches Erzeugnis, als ungreifbare Welle vitaler als ich in diesem Moment. Es hat sich an diesem Abend kaum die Gelegenheit ergeben, dem nächtlichen Studiogast wie sonst immer meine Einwände, meine Zurechtweisungen zuzuzischeln. Der geisterhafte Besucher hat mich nicht dazu kommen lassen, den aufgebrachten Zwischenrufer, das gescheitere Gegenüber zu spielen. Es wird wieder Zeit, ich muss mich aus der Decke winden. Ohne den Lautstärkeregler zu vergessen. Ohne zu versäumen, ihn auf die leiseste Stufe zu stellen, bevor ich mit dem Kopf nach...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung 2020 • Frankfurt am Main • Heinrich-Mann-Preis 2017 • Italo-Svevo-Preis 2022 • Liebesgeschichte • Philosophie • ST 5036 • ST5036 • Sterne • Studentenbewegung • suhrkamp taschenbuch 5036 • Theodor W. Adorno • Wir machen Musik
ISBN-13 9783518748121 / 9783518748121
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