Schwarze Magnolie (eBook)
Ihre Kindheit in Nordkorea ist 'ganz normal' - und unvorstellbar: Das Leben von Hyeonseo Lee und das ihrer Familie gehören dem Staat. Es gelten eiserne Regeln, und wer sie nicht befolgt, muss mit dem Schlimmsten rechnen: Hyeonseo ist sieben Jahre alt, als sie zum ersten Mal eine öffentliche Hinrichtung miterlebt.
Um wenigstens einmal den Fesseln des Kim-Regimes zu entkommen und kurz die Freiheit zu spüren, schleicht sich Hyeonseo als Teenager heimlich über die Grenze nach China - aber dann ist ihr der Heimweg versperrt. Zehn Jahre lang schlägt sie sich in China als Illegale durch, bevor sie schließlich nach Südkorea gelangt. Endlich in Sicherheit! Doch als sie einen Notruf ihrer Familie erhält, beschließt sie, ihre Mutter und ihren Bruder aus Nordkorea herauszuholen ...
Die spannende und berührende Geschichte einer außergewöhnlich mutigen jungen Frau.
David John ist Lektor und Autor. Er verbrachte einige Zeit in Nordkorea und lebte unter anderem in Seoul.
Kapitel 1
Ein Zug durchs Gebirge
Eines Morgens im Spätsommer 1977 verabschiedete sich eine junge Frau am Gleis des Bahnhofs von Hyesan von ihren Schwestern und stieg in den Zug nach Pjöngjang. Sie hatte eine offizielle Genehmigung, dort ihren Bruder zu besuchen. Vor lauter Aufregung hatte sie in der Nacht zuvor kaum geschlafen. Sie hielt die Hauptstadt der Revolution für einen mythischen und futuristischen Ort. Eine Reise dorthin war ein seltenes Vergnügen.
Die Luft war noch kühl und roch wegen eines nahe gelegenen Sägewerks nach frischem Holz. Die Luftfeuchtigkeit war noch nicht allzu hoch. Die Frau hatte einen Fensterplatz. Der Zug fuhr los und kroch ächzend zwischen steilen, kiefernbewachsenen Berghängen und über schattige Schluchten die alte Hyesan-Linie entlang Richtung Süden. Hin und wieder sah man weit unten einen rauschenden Fluss. Doch im Laufe der Fahrt nahm die junge Frau die Landschaft immer weniger wahr.
Der Waggon war voller junger Offiziere, die gut gelaunt in die Hauptstadt zurückkehrten. Anfangs empfand sie sie als lästig, doch bald ertappte sie sich dabei, wie sie gemeinsam mit den anderen Passagieren über das Geplänkel der Soldaten lächelte. Die Offiziere luden alle Fahrgäste im Waggon dazu ein, an ihren Vergnügungen – Worträtseln und Würfelspielen – teilzunehmen, um sich die Zeit zu vertreiben. Als die junge Frau eine Runde verlor, sollte sie zur Strafe ein Lied singen.
Im Waggon wurde es still. Sie blickte zu Boden, nahm ihren Mut zusammen, stellte sich hin und hielt sich an der Gepäckablage fest. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr glänzendes schwarzes Haar war für die Reise zurückgebunden. Sie trug ein weißes, mit roten Blümchen bedrucktes Baumwollkleid. Das Lied, das sie sang, stammte aus einem beliebten nordkoreanischen Film aus jenem Jahr mit dem Titel Die Geschichte eines Generals. Sie sang gut, mit weicher und hoher Stimme. Als sie fertig war, brach der ganze Waggon in Applaus aus.
Dann setzte sie sich wieder. Auf dem Gangplatz saß eine Großmutter, ihre Enkelin zwischen den beiden. Plötzlich stand ein junger Offizier in graublauer Uniform vor ihnen. Er stellte sich der Großmutter höflich vor. Dann hob er das kleine Mädchen hoch, setzte sich neben die junge Frau und nahm das Kind auf den Schoß.
»Sag mir, wie du heißt«, waren seine ersten Worte.
So lernte meine Mutter meinen Vater kennen.
Er wirkte sehr selbstbewusst und sprach mit einer Pjöngjanger Klangfärbung, die bewirkte, dass meiner Mutter ihr nördlicher Hyesan-Dialekt bäuerlich und derb vorkam. Doch der Offizier nahm ihr schnell ihre Befangenheit. Er sei selbst aus Hyesan, sagte er, lebe jedoch seit vielen Jahren in Pjöngjang und müsse beschämt zugeben, dass ihm der Dialekt abhandengekommen sei. Sie sah die ganze Zeit zu Boden, erhaschte jedoch den einen oder anderen Blick auf ihn. Er war nicht auf die übliche Weise gut aussehend – er hatte dicke Augenbrauen und ausgeprägte, vorstehende Wangenknochen –, doch sein soldatisches Auftreten und seine Selbstsicherheit fesselten sie.
Er sagte, ihm gefiele ihr Kleid, und sie schenkte ihm ein schüchternes Lächeln. Sie zog sich gern gut an, weil sie meinte, so ihr unscheinbares und gewöhnliches Aussehen kompensieren zu können. In Wahrheit war sie hübscher, als sie glaubte. Die lange Fahrt ging schnell vorbei. Während sie sich unterhielten, fiel ihr auf, dass er sie immer wieder mit einer Ernsthaftigkeit ansah, die sie bisher bei keinem Mann erlebt hatte. Davon wurde ihr Gesicht ganz heiß und lief rot an.
Er erkundigte sich nach ihrem Alter. Dann fragte er ganz formell: »Wärst du damit einverstanden, wenn ich dir einen Brief schriebe?«
Sie bejahte und gab ihm ihre Adresse.
Später erinnerte sich meine Mutter kaum an den Besuch bei ihrem Bruder in Pjöngjang. In ihrem Kopf war nur Platz für die Bilder von dem Offizier im Zug und den Lichttupfern im Waggon, wenn die Sonne durch die Bergkiefern schien.
Es kam kein Brief. Die Wochen verstrichen, und meine Mutter versuchte, sich den Mann aus dem Kopf zu schlagen. Er hat eine Freundin in Pjöngjang, sagte sie sich. Nach drei Monaten hatte sie die Enttäuschung verwunden und dachte nicht mehr an ihn.
Eines Abends, sechs Monate später, hielt sich die Familie im Haus in Hyesan auf. Die Temperaturen lagen unter null, doch der Himmel war schon seit Wochen klar und sorgte für einen wunderschönen Herbst und Winter. Die Familie war gerade mit dem Essen fertig, als sie hörte, wie sich jemand in Stahlkappenstiefeln dem Haus näherte und entschieden an die Tür klopfte. Alle wechselten alarmierte Blicke. So spät erwarteten sie niemanden. Eine der Schwestern meiner Mutter öffnete die Tür. Dann rief sie nach ihr.
»Ein Besucher. Für dich.«
Der Strom in der Stadt war ausgefallen. Meine Mutter ging mit einer Kerze in der Hand zur Tür. Draußen stand mein Vater in seinem Soldatenmantel, die Mütze unter dem Arm. Zitternd verbeugte er sich vor ihr und entschuldigte sich, weil er wegen militärischer Übungen unterwegs gewesen sei und nicht habe schreiben dürfen. Sein Lächeln war zärtlich und ein bisschen nervös. Hinter ihm zogen sich die Sterne bis zu den Bergen hinab.
Sie bat ihn ins Warme. Von diesem Abend an waren sie ein Paar.
Die nächsten zwölf Monate kamen meiner Mutter vor wie ein Traum. Sie war noch nie verliebt gewesen. Mein Vater war immer noch in der Nähe von Pjöngjang stationiert, daher schrieben sie einander wöchentlich und arrangierten Treffen. Meine Mutter besuchte ihn auf dem Stützpunkt, und er kam mit dem Zug zu ihr nach Hyesan, wo ihre Familie ihn besser kennenlernte. Die Wochen zwischen ihren Begegnungen füllte sie mit den wundervollsten Planungen und Tagträumen.
Sie erzählte mir einmal, dass zu der Zeit alles von einer Art magischem Schimmer umgeben war. Die Menschen in ihrer Umgebung schienen ihren Optimismus zu teilen, und vielleicht bildete sie sich das nicht einmal ein. Die Welt erlebte gerade den Höhepunkt des Kalten Krieges, Nordkorea aber seine besten Jahre. Mehrere Rekordernten nacheinander lieferten Nahrungsmittel im Überfluss. Gemessen an den Standards der kommunistischen Welt war die Industrie des Landes modern. Südkorea, unser Todfeind, versank politisch im Chaos, und die verhassten Yankees hatten gerade eine empfindliche Niederlage gegen die kommunistischen Kräfte in Vietnam einstecken müssen. Die kapitalistische Welt schien im Verfall begriffen. Das ganze Land war zuversichtlich, dass wir die Geschichte auf unserer Seite hatten.
Als es Frühling wurde und der Schnee auf den Bergen dahinschmolz, reiste mein Vater nach Hyesan, um meiner Mutter einen Heiratsantrag zu machen. Sie nahm ihn unter Tränen an. Ihr Glück war vollkommen. Und zu alledem verfügten beide Familien über einen guten songbun, was ihnen ihre gesellschaftliche Stellung sicherte.
Songbun ist das Kastensystem Nordkoreas. Eine Familie wird als loyal, wankelmütig oder feindselig betrachtet, je nachdem, wie sich die Verwandten des Vaters kurz vor, während und nach der Staatsgründung 1948 verhalten haben. Stammte der Großvater von Arbeitern und Bauern ab und hatte im Koreakrieg auf der richtigen Seite gekämpft, galt seine Familie als loyal. Befanden sich jedoch Landbesitzer unter den Vorfahren oder Beamte, die während der Kolonialbesetzung für die Japaner gearbeitet hatten, oder auch nur irgendjemand, der während des Krieges nach Südkorea geflohen war, wurde die Familie als »feindselig« eingestuft. Innerhalb dieser drei groben Einteilungen gibt es einundfünfzig Unterkategorien, von der herrschenden Kim-Familie ganz oben bis zu politischen Gefangenen ohne Hoffnung auf Entlassung ganz unten. Ironischerweise hatte der neue kommunistische Staat eine soziale Hierarchie hervorgebracht, die komplexer war und über mehr Schichten verfügte als selbst jene der Feudalherrschaft. Die Mitglieder der feindseligen Klasse, etwa vierzig Prozent der Bevölkerung, lernten, nicht zu träumen. Sie wurden auf Kolchosen und in Minen geschickt und mussten körperlich hart arbeiten. Menschen, deren Familien als wankelmütig galten, konnten niedere Beamte oder Lehrer werden oder fernab der Machtzentren beim Militär tätig sein. Nur die Loyalen durften in Pjöngjang leben, der Arbeiterpartei beitreten und ihren Beruf frei wählen. Niemand erfuhr je, welche konkrete Position er im songbun-System einnahm, aber die meisten Leute spürten es wohl intuitiv, so wie in einer Herde von einundfünfzig Schafen jedes Tier genau weiß, wer in der Rangordnung über ihm steht und wer darunter. Die tückische Attraktivität des Systems...
| Erscheint lt. Verlag | 13.7.2015 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | The Girl with Seven Names – A North Korean Defector's Story |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Schlagworte | Biografie • Biographien • China • Chinesische Geschichte • eBooks • Flucht • Flucht aus Lager 14 • GULAG • Im Land des Flüsterns • Kim Il Sung • Kim Jong Il • Kim Jong Un • Korea • Menschenrechte • Nordkorea • nord- und südkoreanische Politik • Regime • Südkorea |
| ISBN-10 | 3-641-14648-8 / 3641146488 |
| ISBN-13 | 978-3-641-14648-1 / 9783641146481 |
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