Der lange Sommer der Theorie (eBook)
330 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-66854-8 (ISBN)
Philipp Felsch, geb.1972, ist Historiker und Kulturwissenschaftler. Er arbeitet als Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Philipp Felsch, geb.1972, ist Historiker und Kulturwissenschaftler. Er arbeitet als Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Cover 1
Titel 3
Impressum 4
Inhalt 7
Einleitung Was war Theorie? 11
1965 Die Stunde der Theorie 21
1. Bundesrepublik Adorno 23
Reflexionen aus dem beschädigten Leben 26
Kultur nach Feierabend 30
Im literarischen Supermarkt 34
Adorno antwortet 37
Zielen Ihre Bestrebungen auf eine Veränderung der Welt ab? 43
2. In der Suhrkamp-Kultur 47
Neue Linke 49
He didn't write 50
In der Schule des Lesens 54
Theorie im Taschenbuch 56
Geburt eines Genres 58
1970 Ewige Gespräche 65
3. Schlecht gemachte Bücher 67
Theoretische Praxis 70
Zerschlagt das bürgerliche Copyright! 74
Montag, Freitag, Sonntag 78
Die Unordnung des Diskurses 83
4. Wolfsburg Empire 87
Proletarische Öffentlichkeit 88
Im Land der Klassenkämpfe 91
Von der Leichtigkeit, Kommunist zu sein 93
Ein schicksalhafter Glücksfall 95
1977 Französisch im Deutschen Herbst 99
5. Warum Denken fröhlich macht 101
Fluchten aller Art 104
Intensität ist kein Gefühl 107
Merves Lachen 109
Vage Denker 114
6. Der Leser als Partisan 117
Der Tod des Autors 119
Die Lust am Text 121
Für Kinder geeignet 124
Eine andere Produktionsweise 127
Auf dem Wasser liegen 130
7. Foucault und die Terroristen 135
Schweppes in Paris 137
Polittouristen 141
Eine schmutzige Spezies 145
Am Strand von Tunix 146
1984 Das Ende der Geschichte 149
8. Kritik der Bleiwüste 151
Die Meisterdenker 153
Nur für Erwachsene 155
Allein die Schrift 160
Ästhetik der Gegenaufklärung 162
Ein kleiner Materialismus 167
9. Into the White Cube 171
Der Berg der Wahrheit 173
Schlau sein – dabei sein 176
German Issues 181
Die Insel des Posthistoire 185
Immer Ärger mit Duchamp 189
10. Preußentum und Spontaneismus 197
Krieg im totalen Frieden 200
Machiavelli im Sauerland 202
Die Wilde Akademie 206
Auf der Suche nach dem punctum 210
Jacob Taubes' liebster Feind 212
11. Dispositive der Nacht 215
Tyrannei der Intimität 218
Kneipengerede 221
Kunst des Biertrinkens 225
Im Dschungel 227
Über den Wolken 232
Epilog After Theory? 237
Dank 241
Anmerkungen 243
Literaturverzeichnis 294
Bildnachweis 321
Personenregister 322
Fotos Berlin 328
Zum Buch 330
Über den Autor 330
1. Bundesrepublik Adorno
Peter Gente geht ins Kino, 1956
An dem Abend, als der Sender Freies Berlin die Geheimrede von Nikita Chruschtschow ausstrahlte, ging Peter Gente ins Kino. Während die Radiowellen vom Dach des Funkhauses in den Junihimmel stiegen, um die Hörer der geteilten Stadt über die Verbrechen des Stalinismus zu informieren, öffnete sich der Vorhang für Die Schönen der Nacht, eine Komödie von René Clair, die von der Weltflucht eines jungen Mannes handelt, der von großen Erfolgen und schönen Frauen träumt und darüber den Bezug zur Wirklichkeit verliert – bis er am Ende des Films gerade rechtzeitig erwacht, um sich dem echten Leben zu stellen.[1] Gente war begeistert. In seinem Kulturtagebuch bekam der Film die Note 1+. Er ging damals oft ins Kino. Außerdem besuchte er die Theater, die Konzerthäuser und Kulturpaläste von Berlin. Nachdem er mit seinen Eltern aus der sowjetisch besetzten Provinz in die Großstadt gekommen war, hatte er seine Leidenschaft für die Kultur entdeckt. Mit einem Eifer, der für Spätzünder typisch ist, begann er, Romane zu lesen, und was seine Ferienjobs an Geld einbrachten, investierte er in Eintrittskarten.[2] Herbert von Karajan dirigierte die Berliner Philharmoniker. Im Berliner Ensemble, das wegen des Wechselkurses zwischen West- und Ostmark unschlagbar billig war, saß Brecht noch leibhaftig in der Loge. Und in den Lichtspielhäusern waren Filme aus Frankreich und Italien zu sehen, deren Ästhetik mit Opas Kino brach.[3] Am Vorabend der Nouvelle Vague ließ sich Gente von Fellini verzaubern, von Hitchcock, Orson Welles und Jean Cocteau. «Bürgerliche Romane gelesen; allgemeiner Kulturkonsum», rekapitulierte er später in einer Selbstkritik vor sozialistischen Genossen.[4]
Karl Marx hat einmal bemerkt, die Deutschen seien die philosophischen, aber nicht die historischen Zeitgenossen ihrer Gegenwart.[5] Auch in Gentes Leben kam die große Politik nur als Hintergrundrauschen vor. Von Chruschtschows Rede, mit der im Osten das Tauwetter und im Westen die Ernüchterung der linken Intelligenz begann, scheint er kaum Notiz genommen zu haben.[6] Dabei befand er sich im Epizentrum des Kalten Krieges. Doch war vielleicht gerade Berlin der falsche Ort, um einen stabilen Wirklichkeitssinn auszubilden. Dazu lagen hier zu viele Wirklichkeiten nebeneinander: die Ruinen des Weltkriegs und die Monumente des Wirtschaftswunders, der Kurfürstendamm mit seinen Buttercremetorten und die Stalinallee mit ihrem Zuckerbäckerstil. Für Maurice Blanchot, den Gente später zu seinen Lieblingsautoren rechnete, war Berlin «weder eine Stadt, noch zwei Städte», sondern «ein Ort, wo sich die Reflexion auf die zugleich notwendige und unmögliche Einheit in jedem vollzieht, der dort wohnt und der, dort wohnend, nicht nur die Erfahrung von einem Wohnort, sondern auch die von der Abwesenheit eines Wohnortes macht».[7]
So kann es klingen, wenn eine politische Situation zu metaphysischen Spekulationen Anlass gibt. Doch 1956 erblickte Gente die Welt noch nicht im Licht der Theorie. In runden Schriftzügen, die seine Jugend verraten, hielt er seine Kino- und Theaterabende fest. Seine Listen sind das Protokoll einer Suche, die gerade aufgrund ihrer minimalistischen Prosa vor gestautem Begehren zu vibrieren scheint. Gente brannte darauf, einen Platz in der Welt der schönen Künste zu finden.[8] Unter dem Einfluss prägender Lektüreerlebnisse sollte er seine Suche bald auf den Kanon der Hochkultur begrenzen. Im Jahr des Tauwetters war sein Geschmack aber noch nicht ausgegoren. In seinem Tagebuch mischen sich Musicals mit Autorenkino und Puccini mit Hollywood und Brecht. Den gemeinsamen Nenner musste er aus eigener Kraft herstellen. Dazu verteilte er die Zensuren des Gymnasiums, auf dem er selbst bis vor kurzem zur Schule gegangen war. Sie bildeten das vergleichsweise bescheidene Instrumentarium einer Kulturkritik in Zahlen, die sich um High- und Lowbrow unbekümmert zeigte. Die unwesentlich ältere Susan Sontag, die in Chicago ihr Kulturpensum absolvierte, notierte in ihrem Tagebuch damals schon versierte Kurzkritiken.[9] Die Spanne von Gentes Noten reichte dagegen nicht weiter als von der herausragenden 1++ für den Diener zweier Herren, aufgeführt vom Mailänder Piccolo Teatro, bis zur mäßigen 3 für Puccinis La Bohème. Als Verehrer der Kultur war Gente ein großzügiger Lehrer, der sein Spektrum mehrfach nach oben erweitern musste, weil er von Anfang an zu viele Einser gab.
Reflexionen aus dem beschädigten Leben
Im Jahr darauf, 1957, hatte Gente ein Erweckungserlebnis. Allerdings ereignete es sich nicht im Kulturbetrieb, wo er nach seiner Zukunft suchte, sondern an der Basis der Lohnarbeit. Für die junge Bundesrepublik, die in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre schon auf die Vollbeschäftigung zusteuerte, ist die Szene symptomatisch. Am Fließband in den Spandauer Siemenswerken, wo Gente jobbte, um das Jurastudium zu finanzieren, das er auf Wunsch seines Vaters angefangen hatte, hörte er zwei Kommilitonen zu, die sich über einen gewissen Adorno unterhielten, der ihnen aus irgendeinem Grund unumgänglich schien. Was genau es war, das seine Aufmerksamkeit fesselte, wusste er später nicht mehr mit Sicherheit zu sagen. Auf jeden Fall muss der Eindruck tief gewesen sein. «Adorno stellte bisherige Lebensweise in Frage», heißt es lapidar in der bereits erwähnten Selbstkritik vor den Genossen.[10] Gente besorgte sich Adornos bekanntestes Buch, die Minima Moralia, und las sich darin fest, obwohl ihm die wenigsten der dichten Aphorismen verständlich waren.[11] Doch der Autor, der behauptete, dass nur solche Gedanken wahr sein könnten, «die sich selber nicht verstehen», betrachtete den hermetischen Tonfall offenbar als Teil seiner Botschaft.[12] Die schwierige Sprache, deren Bedeutung sich nur mit Geduld erschloss, trug zur Wirkung eines Buches bei, neben dem die Bücher, die Gente bisher gelesen hatte, plötzlich belanglos wirkten.[13]
Adornos Reflexionen aus dem beschädigten Leben, wie die Minima Moralia im Untertitel heißen, wurden 1957 noch als Geheimtipp gehandelt. Sechs Jahre nach Erscheinen deutete wenig darauf hin, dass in dem Buch ein philosophischer Bestseller schlummerte, von dem bis heute über 120.000 Stück verkauft sind. Mitten im Wirtschaftswunder, zwischen Opel Rekord und Eiscafé, irritierte das Buch Gente mit dem Denkstil eines noch kaum bekannten Frankfurter Philosophiedozenten, der, egal, wohin er schaute, nur Unheil sah. «Das Leben lebt nicht», stand als Warnung schon auf der ersten Seite. Es folgten Variationen auf dieses Paradoxon. In Miniaturen, die seine Erfahrung im amerikanischen Exil verdichteten, entlarvte Adorno die modernen Verhältnisse als Verblendungszusammenhang. Was lebendig und authentisch schien, war in Wirklichkeit längst abgestorben; was weiter nach vorne strebte, verdankte sich einem geisterhaften Bewegungsdrang.[14] Die Welt der Gegenwart war eine Welt nach der Katastrophe. «Das Unheil geschieht nicht als radikale Auslöschung des Gewesenen», heißt es an einer Schlüsselstelle, «sondern indem das geschichtlich Verurteilte tot, neutralisiert, ohnmächtig mitgeschleppt wird.» Daher die Atmosphäre des Gespenstischen in den Minima Moralia, deren Seiten von Untoten bevölkert sind. Unter den Gestalten, die Adorno ihrer unheimlichen «Post-Existenz» überführte, befanden sich insbesondere die Errungenschaften der vergangenen bürgerlichen Epoche – wie der Liberalismus, der Sozialismus oder das Gastgewerbe, das im Zeitalter des room service in einem Zustand der «Totenstarre» angekommen sei. Dass die Bewohner der aufgeklärten Hemisphäre nicht mehr richtig schenken, wohnen oder eine Tür schließen konnten, sind weitere, längst berühmte Beispiele, die zeigen, dass Adorno im Kleinsten auf das Schrecklichste stieß. «Die Welt ist das System des Grauens», lautete sein Urteil über die Gegenwart. Zwei Jahrzehnte vor Apocalypse Now hatte das die düstere Wucht von Coppolas Colonel Kurtz, der eine Schnecke über sein Rasiermesser kriechen lässt. Und im Hintergrund lief im Radio Freddy Quinn.[15]
Im Nachkriegsmief der fünfziger Jahre stellte Adorno klar, dass es in Deutschland «nichts Harmloses» mehr geben könne, denn im Hintergrund seiner Diagnose der tödlich erstarrten Gesellschaft standen die Konzentrationslager.[16] «Sie schufen einen Zwischenzustand, lebende Skelette und Verwesende», hat er an anderer Stelle über die Urszene geisterhaften Lebens notiert.[17] Bei Peter Gente müssen solche Bilder Kindheitserinnerungen wachgerufen haben. Gegen Ende des Krieges waren Häftlinge aus dem in der Nähe gelegenen Arbeitslager auch in seiner Heimatstadt Halberstadt aufgetaucht. Dass es Stollen gab, in denen diese Gestalten Flugzeuge montierten, kursierte unter den Kindern als Gerücht – das die Eltern mit Stillschweigen quittierten. Dafür schwieg sich Gente für den Rest seines Lebens über seine Eltern aus. Der Bruch, der nicht zuletzt durch seine...
| Erscheint lt. Verlag | 13.3.2015 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Literatur ► Historische Romane | |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Geisteswissenschaften ► Philosophie | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | 1960er • 1970er • 1977 • 1980er • 68er • Adorno • Bewegung • Denken • Deutsche Herbst • Deutschland • Intellektuelle • Kalter Krieg • Kultur • Revolte • Studentenbewegung • Theorie |
| ISBN-10 | 3-406-66854-2 / 3406668542 |
| ISBN-13 | 978-3-406-66854-8 / 9783406668548 |
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