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Ab jetzt ist Ruhe (eBook)

Roman meiner fabelhaften Familie
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
400 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401748-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ab jetzt ist Ruhe -  Marion Brasch
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»Ab jetzt ist Ruhe« - dieser Spruch, den die unruhigen Kinder mit ihrer Mutter aufsagten und der sie in den Schlaf geleiten sollte, liegt wie ein Motto über dem Familienroman von Marion Brasch. Die jüdischen Eltern, die sich im Exil in London kennenlernten, gründeten die Existenz ihrer jungen Familie in Ostberlin, wo der Vater nach dem Krieg seine Ideale als Politiker verwirklichen wollte. Die drei Söhne - zwei davon wurden Schriftsteller, der mittlere Schauspieler - revoltierten gegen die Autorität der Vätergeneration und scheiterten an der Wirklichkeit, während die kleine Schwester Versöhnung und Ausgleich suchte und oft genug damit an Grenzen stieß, auch an die eigenen. Marion Brasch ist mit diesem Roman ein bewegender, oft witziger Rückblick auf die Geschichte ihrer Familie gelungen, gleichzeitig erzählt sie ihr eigenes Leben in einem Land, das es heute nicht mehr gibt.

Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. FISCHER erschienen die Romane »Ab jetzt ist Ruhe«, »Wunderlich fährt nach Norden« und zuletzt »Lieber woanders«.

Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR, später fürs Radio. Bei S. FISCHER erschienen die Romane »Ab jetzt ist Ruhe«, »Wunderlich fährt nach Norden« und zuletzt »Lieber woanders«.

[...] zärtlich, lakonisch und bei aller Tragik oft rasend komisch.

Zwei


»Was wolltest du eigentlich mal werden, als du klein warst, Papa?«

Mein Vater saß im Wohnzimmer, las Zeitung und rauchte. Nachdem ich meine Frage gestellt hatte, schlug er die Zeitung zusammen, legte sie beiseite und sah mich mit diesem Blick an, den ich nicht leiden konnte. Ein Blick, der mir verhieß, dass er mich in den nächsten Minuten mit Sätzen langweilen würde, die ich nicht verstand. Ich bereute schon, diese Frage gestellt zu haben, als dieser Blick plötzlich ganz fern und weich wurde. So, als hätte ihm irgendjemand etwas ins Ohr geflüstert, das einen sofortigen Sinneswandel zur Folge hatte.

»Priester«, sagte er. »Ich wollte Priester werden.«

Mir fiel sofort der mundstinkende Pfaffe von Oma Potsdam ein, und ich musste einen Würgereflex unterdrücken.

»Wir glauben doch aber gar nicht an Gott, oder?«

»Nein.«

»Warum wolltest du dann so was werden?«

»Weil ich da noch an Gott geglaubt habe.«

»Und warum jetzt nicht mehr?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

Und er erzählte mir, wie er und sein Gott mit einem jüdischen Kindertransport nach England kamen. Sie wurden in einem muffigen, engen katholischen Kinderheim untergebracht, das von einer schwammigen ältlichen Irin geleitet wurde. Sister Margaret war immer schlecht gelaunt und ließ keine Gelegenheit aus, meinem Vater klarzumachen, dass er hier nur geduldet sei. Er war mit sechzehn Jahren der älteste Junge in diesem Heim, was sie gnadenlos ausnutzte, indem sie ihn zu jeder noch so schäbigen Drecksarbeit verdonnerte: Er war Hausmeister, Tellerwäscher, Kloputzer. Ohne Bezahlung, versteht sich. Um sich ein paar Shilling zu verdienen, trat er in den Dienst des Bruders der Heimleiterin – eines Jesuitenpaters. Wenigstens sein Job als Messdiener erinnerte ihn ein bisschen an zu Hause, die Rituale waren vertraut. Doch er fühlte sich einsam. Der Kontakt zu seiner Mutter und seinem Stiefvater war gänzlich abgebrochen, und er hatte keine Freunde. Er fing an zu rauchen. Nachts, wenn alle schliefen, schlich er sich hinaus in den kleinen, schmalen Garten des Heims, drehte sich Zigaretten und versuchte, mit seinem Gott zu reden, aber der machte sich rar. Oder vielleicht ging ihm einfach nur der Gesprächsstoff aus. Also dachte mein Vater darüber nach, was es außer Gott sonst noch geben könnte im Leben. Den Traum, Priester zu werden, hatte er noch nicht aufgegeben. Sein Stiefvater – der kluge, belesene, weltgewandte Mann – hatte ihn jedoch gewarnt, bei aller Liebe zu Gott nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dieser Boden war gerade ziemlich fremd und hart. Doch er folgte dem Rat seines Stiefvaters und entschloss sich, eine Lehre zu beginnen. Werkzeugmacher. Er lernte: Werkzeuge zu machen, besser Englisch zu sprechen, erwachsener zu werden. Ungefähr ein Jahr lang. Bis der Krieg England erreichte.

Mit der Gastfreundschaft der Briten war es von einem Tag zum anderen vorbei, und alle Deutschen, ob Juden oder Kommunisten, galten als feindliche Ausländer und mussten weg. Weit weg. Und so kamen mein Vater und sein Gott in ein Internierungslager in Kanada.

»Die Schule meines Lebens«, erklärte mein Vater mit einer Stimme, die mich schaudern ließ, weil sie so ganz anders war als die, mit der er mir gerade seine Geschichte erzählt hatte. Sein eben noch so weicher, ferner Blick war der Miene gewichen, die ich nicht mochte: fest und streng und autoritär. »Die Schule meines Lebens.« Die Schule, in der die Bibel gegen das »Kommunistische Manifest« eingetauscht wurde und die »Genesis« gegen Darwins »Entstehung der Arten«.

Die Geschichte, wie aus einem katholischen Juden ein Kommunist wurde, erzählte mein Vater am liebsten. Für mich war es die langweiligste Geschichte der Welt. Sie handelte von langen Gesprächen mit alten Kommunisten. Es war eine Geschichte ohne Abenteuer, gespickt mit Worten, die ich nicht verstand: Marxismus, Klassenkampf, Revolution, Mission der Arbeiterklasse. Ich schaltete auf Durchzug. Ich war gerade mal sieben und hatte ganz andere Sorgen: »Papa, ich muss mal!«

 

Im Sommer fuhren wir auf die Insel Hiddensee und bezogen dort für vier Wochen einen Bungalow in einer Feriensiedlung für höhergestellte Parteifunktionäre. Meine Mutter bekam immer schlechte Laune, wenn wir dort ankamen.

»Seht euch diese Baracken an! Fehlt bloß noch der Lagerkommandant!« Sie wusste genau, dass ihre Sticheleien meinen Vater verletzten. Genauso wie ihr Aktionismus, nachdem wir angekommen waren. Bevor sie nämlich die Koffer auspackte, stellte sie die komplette Einrichtung um. Das war ihre Art, gegen die Uniformierung des Urlaubs zu protestieren und Individualität zu demonstrieren. Viel Spielraum hatte sie allerdings nicht für ihre kleine Rebellion, da die Zimmer des Bungalows so winzig waren, dass man die Wände vermutlich um die Möbel herum gebaut hatte. So konnte sie das Inventar lediglich einmal in Uhrzeigerrichtung verschieben und das Geschirr im Küchenschrank anders einräumen.

Begleitet wurde dieses sich Jahr für Jahr wiederholende Einzugsritual durch schlimme – mal englische, mal wienerische – Flüche, denen mein Vater sich unter dem Vorwand entzog, er werde im Dorf mal nach dem Rechten sehen, während meine Brüder und ich die Badesachen aus den Koffern wühlten und an den Strand flüchteten.

Wenn wir ein paar Stunden später zurückkamen, saß mein Vater rauchend vor dem Bungalow, während meine Mutter erschöpft auf dem Sofa lag und die obligatorische Erklärung abgab, im nächsten Jahr würden sie keine zehn Pferde mehr in dieses elende Lager bringen. Meine Brüder stießen sich grinsend in die Seite, und mein Vater schüttelte mit vorwurfsvoller Miene den Kopf. Und ich? Ich war zu klein, um zu verstehen, dass sie es nicht so meinte. Und es sollte ein paar Jahre dauern, bis ich begriff, dass es dieser Sarkasmus war, der sie lange davor bewahrte, bitter oder depressiv zu werden. Schwarzer Humor als Überlebensstrategie – bis auch das nichts mehr half.

Meine Mutter wollte nicht hier sein. Nicht in dieser tristen Feriensiedlung. Wenn wir spazieren gingen, schaute sie mit sehnsuchtsvollem Blick auf die schönen reetgedeckten Strandhäuser, die von Künstlern und Intellektuellen bewohnt wurden. Diese Leute lebten das Leben, das doch eigentlich ihr Leben hätte sein sollen. Das Leben einer Schauspielerin oder Sängerin. Ein leichtes, schönes, unbekümmertes Leben. So war es geplant. Davon hatte sie schon in London geträumt, als sie sich mit ihrer kleinen Theatertruppe Abend für Abend in eine Welt flüchtete, die mit dem grauen Leben im Exil nichts zu tun hatte. Theater spielen, um das Heimweh und die Fremdheit zu vergessen.

Dort hatte sie meinen Vater kennengelernt. Er kam zu jeder Vorstellung, trug immer denselben Anzug und saß immer in der dritten Reihe. In diesem Teil der Geschichte waren sich beide einig. Doch während mein Vater behauptete, er habe meine Mutter gleich am ersten Abend angesprochen und zum Wein eingeladen, dauerte es in der Version meiner Mutter Wochen, bevor es dazu kam.

Da stand er nach den Theatervorstellungen mit seinen Kumpels in der Ecke und schielte zu ihr hinüber. Schüchtern. Sie kannte ihn schon. Und sie kannte ihn anders. Bei den wöchentlichen Gemeinschaftsabenden der Emigranten stand er vorn und predigte das neue Deutschland, das sie alle nach dem Krieg aufbauen würden. Da war er nicht schüchtern. Er sprach mit fester Stimme und glaubte jedes Wort, das er sagte. Er war sehr überzeugend. Und er war schön mit seinem dunklen Haar, das ihm ins Gesicht fiel, wenn er zu leidenschaftlich gestikulierte. Er hatte Augen, die auch dann zu lächeln schienen, wenn er über ernste Dinge sprach. Und er sprach eigentlich immer über ernste Dinge. Meine Mutter verliebte sich in diesen Mann, der so anders war als die Jungs, die sie kannte. Er war genauso alt wie sie, gerade zwanzig. Doch er hatte die Ernsthaftigkeit eines Erwachsenen, der genau wusste, was er wollte.

Wenn er da vorn stand, sprach er mit großer Leidenschaft von Dingen, die sie eigentlich nicht interessierten. Was hatte sie mit Deutschland zu schaffen? Sie kam aus Wien, die deutschen Nazis hatten sie gedemütigt und ihre Familie auseinandergerissen. Die Träume dieses Mannes da vorn gingen sie nichts an, doch sie fühlte sich zu ihm hingezogen, und irgendwann sprach sie ihn einfach an.

»Hätte ich das nicht getan, wärst du jetzt nicht hier. Und ich auch nicht. Und das wäre vielleicht nicht das Schlechteste.« Sie schickte Scherzen wie diesem manchmal einen gespielten Seufzer hinterher und grinste. Ein Grinsen, das sofort die Dunkelheit aus ihren Worten zog. Das konnte sie gut.

 

Mein Vater liebte meine Mutter. Er heiratete sie, und ein halbes Jahr später wurde mein ältester Bruder geboren. Aber noch mehr als seine kleine Familie liebte mein Vater seinen Glauben an das Himmelreich auf Erden, das er in dem Land errichten wollte, das ihn um seine Jugend gebracht hatte. Deutschland. Der Krieg war zu Ende. Im Osten war die Sonne aufgegangen. Mein Vater und seine Freunde machten diese Sonne zu ihrem Symbol. Glaube, Liebe, Hoffnung – das ging auch ohne Gott. Der Teufel sollte ihn holen. Und mein Vater sagte zu meiner Mutter:

»Komm mit, wir gehen nach Deutschland.«

»Was soll ich da, ich bin keine Deutsche.«

»Wir sind Kommunisten.«

»Ich komme aus Wien. Ich bin Jüdin. Ich geh nicht nach Deutschland.«

»Ich werde gehen. Und wenn du nicht mitkommst, bleibst du hier allein mit deinem Sohn.«

Sie weinte. Mein Vater ging nach Deutschland und ließ sie allein. Meine...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2012
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Autobiographie • Berlin • DDR • Ein Buch von S. Fischer • Familiengeschichte • Flucht • Freundschaft • Kommunismus • Literatur • Ost-Deutschland • Pop • Thomas Brasch
ISBN-10 3-10-401748-4 / 3104017484
ISBN-13 978-3-10-401748-8 / 9783104017488
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