Das Universitätsorchester Bielefeld (eBook)
200 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-4828-6 (ISBN)
„Comme un Personnage Dramatique“
Über Camille Saint-Saëns‘ zweites Klavierkonzert
Lara Venghaus & Michael Hoyer
Schon die Kindheit des 1835 in Paris geborenen Komponisten Camille Saint-Saëns war von seiner Begeisterung für das Klavier geprägt. Aufgewachsen in der Obhut seiner Mutter und einer Großtante, die eine versierte Pianistin war, lernte er bereits mit zweieinhalb Jahren Noten zu lesen und selbst Klavier zu spielen. So mag es kaum verwundern, dass es sich bei seiner ersten erhaltenen Komposition aus dem März 1839 um ein Klavierstück handelte, und auch in seinen nächsten kompositorischen Versuchen widmete er sich Formen, in welchen das Klavier eine zentrale Rolle einnahm, konkret der des Klavierlieds und der der Sonate, hier für Violine und Klavier. Seine herausragenden Fähigkeiten an diesem Instrument ermöglichten ihm zudem im Mai 1846 einen ersten öffentlichen Auftritt in der ruhmreichen Salle Pleyel in Paris als Pianist und brachten ihm Vergleiche mit Wolfgang Amadeus Mozart ein.
Während jedoch der von ihm verehrte, vierzehn Jahre ältere Franz Liszt auch in der modernen Rezeption noch vornehmlich als Klaviervirtuose und erst danach als Komponist wahrgenommen wird, hat sich der Ruf Camille Saint-Saëns in der Nachwelt vor allem auf seine kompositorische Tätigkeit konzentriert. Im Gegensatz zu seinen französischen Zeitgenossen widmet er sich bereits vor 1870 der Kammermusik und Sinfonik und sah sich selbst eher in deutscher Tradition verwurzelt; so bezog er sich auf Komponisten, die wir heute gemeinhin der Epoche des Barock zuordnen wie Bach und Händel, auf die Meister der sogenannten Wiener Klassik sowie die häufig unter dem Begriff der Romantiker zusammengefassten Tonsetzer Schubert, Weber, Mendelssohn und Schumann. Aus dem Studium ihrer Werke leitete er ein Ideal ab, welches sich aus solidem Handwerk und einer Priorisierung der Form speiste. Ferruccio Busoni beschreibt Saint-Saëns in seinen Erinnerungen an ihn, erschienen als Nachruf in der Vossischen Zeitung, als jemanden, der „das Komponieren als eine angenehme Geistesübung zu pflegen“ schien.
Die Verwirklichung seines Ideals suchte er zu erreichen, indem er „die traditionellen Gattungen, insb. diejenigen in Sonatensatzform, durch Varianten, Ableitungen, Umstellungen usw. zu erneuern“ suchte, wie Peter Jost in seinem Artikel in der MGG ausführt. Erneuern, nicht verwerfen und durch neue ersetzen, denn:
Zum musikalischen Revolutionär fehlten Saint-Saëns der Wille zum Umsturz und die Verachtung des Bestehenden. Als Sohn der Julimonarchie des Bürgerkönigs Louis-Philippe hatte er die Ehrfurcht vor der bestehenden Ordnung so gründlich internalisiert, daß vermutlich in all seinen Kompositionen sich kein Stück findet, das nicht in Vielfachen einer viertaktigen Periode organisiert ist. Seine breite musikgeschichtliche Kenntnis und das Bewußtsein, daß künstlerisches Schaffen sich niemals in bloßer Reproduktion erschöpfen darf, verliehen jedoch seinem Komponieren einen Hang zum Unorthodoxen, der sich vornehmlich in einer nicht selten willkürlich erscheinenden Kombination von Elementen unterschiedlichster Vorbilder niederschlug. So erinnert der erste Satz des 1868 entstandenen zweiten Klavierkonzerts in seinem Habitus an das Konzert in Form einer Gesangsszene von Louis Spohr, der zweite Satz scheint jener Schlichtfassung eines Rondos von Mozarts Hand nachgebildet, in der zweimal dasselbe Couplet auftritt, während der dritte auf die Adaptionen der Musik aus dem französischen Kolonialreich vorausweist, die das Spätwerk Saint-Saëns‘ bevölkern. Ob sich der Komponist tatsächlich auf die genannten Vorbilder bezog, ob er diese überhaupt kannte oder ob er lediglich in phantasierender Nachahmung des ihm Vertrauten handelte, läßt sich schwerlich ermitteln. Insgesamt sticht an dem Werk ein Zug von Grobschlächtigkeit und Mechanik hervor, der dem in Chopins Feinsinnigkeiten verliebten oder von Liszts etalierter Bravour faszinierten Publikum avers aufgestoßen sein dürfte.
Der erste Satz wird von einem motivlosen Klaviersolo eröffnet, das, säße da nicht ein Orchester auf der Bühne, eher eine Rhapsodie oder Fantasie für das Pianoforte erwarten ließe. Wenn dann endlich das Orchester einsetzt, geschieht dies in einer Form, wie in der Oper ein Accompagnatorezitativ eingeleitet zu werden pflegt. Tatsächlich schließt sich daran ein Gesangsthema des Klaviers an, zu dem das Soloinstrument selbst die Begleitung beiträgt, ehe bei seiner Wiederholung das Orchester diese Aufgabe übernimmt. Auch der folgende Dialog zwischen Soloinstrument und Orchester hat etwas Rezitativisches und mündet in einen zweiten, nun in die Paralleltonart B-Dur versetzten Gesangsteil, an den sich ein von virtuosem Passagenwerk dominierter, jeder Motivik sich enthaltender Abschnitt anschließt. Die Wiederaufnahme des ersten Gesangsthemas erfolgt sodann im Orchester und gestattet dem Klavier die Fortsetzung seiner virtuosen Selbstdarstellung. Eine ausgedehnte, erst rein solistische, später spärlich mit einigen Tönen des Orchesters hinterlegte Kadenz, die allerdings auf motivische Elemente aus dem Anfang des Satzes zurückgreift, mündet schließlich in die orchestrale Einleitung, welche eingangs das Rezitativ eröffnete und nun den Satz abschließt.
Der zweite Satz beginnt mit einem Paukensolo, welches das Bewegungsmuster vorbildet, das den Satz fast ununterbrochen beherrscht. Ein achttaktiges Klaviersolo wird umgehend vom Orchester wiederholt, in leichter Abwandlung an das Klavier zurückgegeben und weiter in beliebigem Spiel zwischen beiden Akteuren hin- und hergeworfen. Das Wiederholungshafte dieses Vorgangs steht dabei so stark im Vordergrund, daß trotz der hie und da vorgenommenen Abwandlungen der Begriff einer Verarbeitung nicht in den Sinn kommen kann. Abgelöst wird diese Phase von einem Walzer, zu welchem zuerst die Begleitfigur des Klaviers auffordert, ehe Fagott und tiefe Streicher seine Melodie auch wirklich intonieren. Deren fällige Wiederholung übernimmt zwölf Takte später das Klavier, das darauf die Gelegenheit für eine Reihe brillanter Skalengänge ergreift. An die Wiederaufnahme des ersten Themas schließt sich eine Phase an, in der diesem entnommene Zitate mit Elementen freier Virtuosität abwechseln. Ein nach Moll versetzter Nachklang des Walzers ruft das diesmal von der linken Hand des Klaviers und den tiefen Streichern intonierte Paukenthema wieder auf, mit welchem der Satz in leichter Verkürzung gleichsam von vorne beginnt. Eine kurze Coda auf der Basis von Elementen des ersten Themas setzt den Schlußpunkt hinter ein Stück Musik, das viel Esprit verströmt, ohne sich groß um seine geistige Substanz zu bekümmern.
Der Finalsatz gehört in das Gebiet einer musique incatatoire, einem musikalischen Beschwörungsritus, wie er später in den Werken des jungen Strawinsky und seiner Zeitgenossen (Milhaud, Honegger) begegnet. Sein Material besteht hauptsächlich aus einer skalenförmig absteigenden dreitönigen Triolenfigur, die in rasender Folge vom Klavier achtmal hintereinander abgespult und dann vom Orchester in derselben Weise reproduziert wird. Ihrem massiven Ansturm gegenüber verblaßt das anschließend vom Klavier vorgetragene Thema zur Lappalie. Daß diesem sofort von einem neuerlichen Einbruch des triolischen Geratters der Mund gestopft wird, demonstriert, welches Moment in diesem Satz die Herrschaft ausübt: nicht die tänzelnde Figur des Themas, sondern der gewalttätige Wirbel des kaum geformten Stoffs. Später, als dann die Triolen von stupide repetierten Achteln des Orchesters abgelöst werden, verfällt das Klavier in nicht enden wollende Serien von Trillern, als durchführe die kultische Gemeinschaft, die zuvor frenetisch die Trommel rührte, nun ein orgiastisches Beben. Beide Elemente wechseln sich mehrfach ab, wobei im weiteren Verlauf die Trillerketten mit choralartigen Sequenzen von ganztaktig fortschreitenden Bläserakkorden hinterlegt sind. Eine dreifach auftretende Vierergruppe von massigen Klavierakkorden leitet endlich die Coda ein.
Ob Saint-Saëns eigener Bericht über die Uraufführung, in welchem er die Kritik wiedergibt, der erste Satz des Konzertes sei zusammenhanglos und das Finale komplett verfehlt, ausschließlich die Meinung des Publikums oder auch einen eigenen Eindruck widerspiegelt, ist heute freilich nicht mehr zu ermitteln. Erwiesen ist jedoch, wie sich dem Vorwort Wolfgang Birtels zur Partitur entnehmen lässt, dass die Umstände der Entstehung und Uraufführung durchaus als widrig bezeichnet werden können. Am Anfang stand die Idee Saint-Saëns, für seinen ebenfalls als Pianist und Komponist tätigen Freund Anton Rubinstein, der aus Russland stammte, ein Konzert in Paris zu organisieren, damit dieser sich erstmals auch als Dirigent würde präsentieren können. Da für die Nutzung der Salle Pleyel, in welcher Saint-Saëns 22 Jahre zuvor als Pianist debütierte, aufgrund von Umbauarbeiten jedoch noch drei Wochen Wartezeit überbrückt werden mussten, nutzte Saint-Saëns diese zur Komposition des hier besprochenen Klavierkonzertes, welche er binnen siebzehn Tagen vollendete. Freilich mangelte es dadurch an...
| Erscheint lt. Verlag | 20.3.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik |
| ISBN-10 | 3-7693-4828-1 / 3769348281 |
| ISBN-13 | 978-3-7693-4828-6 / 9783769348286 |
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