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MUSIK-KONZEPTE 203: Franz Martin Olbrisch -

MUSIK-KONZEPTE 203: Franz Martin Olbrisch (eBook)

Ulrich Tadday (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
129 Seiten
edition text + kritik (Verlag)
978-3-96707-900-5 (ISBN)
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Franz Martin Olbrisch, geboren 1952 in Mülheim/Ruhr, teilt seine Werke in Orchester- und Ensemblewerke, Kammermusik und Solostücke, Tape Music, Werke mit visuellem Anteil und Gruppenarbeiten ein. In letzter Zeit hat der Komponist vor allem mit seinen radiophonen Hörstücken für große Aufmerksamkeit gesorgt. Diese Stücke, seine Klanginstallationen, aber auch Orchesterwerke wie 'Craquele' (2010) sowie Bezüge zu Werken anderer Komponisten eines beeindruckend breiten, facettenreichen und vor allem tiefsinnigen Schaffens sind Thema des Bandes. Mit Beiträgen von Miriam Akkermann, Stefan Fricke, Jörn Peter Hiekel, Tobias Schick, Alice Sta?ková und Martin Supper.

Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der 'Musik-Konzepte'.

TOBIAS SCHICK

Fremdbezüge und Transkriptionsverfahren in Franz Martin Olbrischs Instrumentalmusik


Franz Martin Olbrischs Musik weist häufig Fremdbezüge auf. Die Klänge und Musikstücke, auf die sie rekurriert, umfassen ein breites ästhetisches Spektrum: Der Klangverlauf – in Helmut Lachenmanns Klangtypologie würde man von einem »Strukturklang« sprechen – einer fallenden Dose in einem Getränkeautomaten vom Einwurf der Münze bis zur Ausgabe des Getränks als strukturelle Vorlage des großen Orchesterstücks Grain (2005) steht neben dem 2. Satz aus Johannes Brahms’ Klarinettentrio op. 114, einem Paradigma romantischer Innigkeit, auf welchem das Ensemblewerk rewrite 114 (2017) beruht. in nomine (1999) bezieht sich auf den Abschnitt »in nomine Domini« aus dem Benedictus von John Taverners Missa Gloria tibi Trinitas,1couler … für Klarinette und Live-Elektronik (2015) auf Helmut Lachenmanns Trio fluido (1966) und das Orchesterwerk ... suggests that something may be (2020) gleich auf Werke von 17 Komponistinnen und Komponisten zwischen Claude Debussy und der Gegenwart. Nach der Reihenfolge ihres Auftretens im Stück sind dies: Sol-i So (Bambusgarten – Jirisan 1951), Pierre Boulez (Le Marteau sans maître), Helmut Lachenmann (Gran Torso), Mark Andre (über), Morton Feldman (Atlantis), John Cage (FOUR6), Claude Debussy (Des pas sur la neige), Bernd Alois Zimmermann (Stille und Umkehr), Stefan Prins (Generation Kill), Alvin Lucier (Navigations for Strings), Gérard Grisey (Vortex Temporum und Talea), Rebecca Saunders (Still und Traces), Anton Webern (Symphonie op. 21), Edgar Varèse (Arcana). Alexander Schubert (Star Me Kitten), Pierre Henry (Messe pour le temps présent) und Salvatore Sciarrino (Infinito nero).

Im vorliegenden Beitrag sollen die strukturellen Beziehungen zwischen Olbrischs Musik und ihren Vorlagen dargelegt und die ästhetischen Implikationen der jeweiligen Transkriptionsverfahren beleuchtet werden. Dafür wurden mit couler …, rewrite 114 und … suggests that something may be je ein Solostück, ein Ensemble- und ein Orchesterwerk ausgewählt, um die Bandbreite von Olbrischs Komponieren zu veranschaulichen und zugleich zu zeigen, dass die Arbeit mit Fremdbezügen für Olbrisch kein gattungs- oder besetzungsspezifisches Kompositionsverfahren ist.

I couler … für Klarinette und Live-Elektronik


couler … für Klarinette und Live-Elektronik (2015) ist von leisen, fein nuancierten und ins Geräuschhafte spielenden Klängen gekennzeichnet und weist damit eine für Franz Martin Olbrischs Musik typische Klanglichkeit auf. Über weite Strecken dominieren vor sich hin tröpfelnde, perkussive Impulse durch Zungenstöße (»Slaps«) unterschiedlicher Art, die sich mit (häufig unterblasenen) Tremoli und genau definierten, von Olbrisch in aller Regel selbst am Instrument ausprobierten Mehrklängen abwechseln.2 Auf diese Klanglichkeit verweist auch der Titel, dessen Mehrdeutigkeit durch die drei Punkte am Ende des Wortes zum Ausdruck gebracht werden soll. Olbrisch schreibt über die Bedeutungen von »couler« in seinem Werkkommentar:

»Als couler goutte à goutte bezieht es sich vor allem auf die tropfenartige Klanglichkeit, welche weite Teile des Klarinettenparts bestimmt. Dort kommt es besonders in den immer wieder auftretenden drop-slaps zum Ausdruck. Die Assoziation zum wässrig Liquiden lässt sich über verschiedene Stadien des Tröpfelns und Rinnens (couler lentement) weiter führen bis zum strömenden Lauf des couler à flots. Alle diese Schattierungen durchziehen das Stück mit seinen Trillern und Tremoli, die später immer deutlicher als wellenartige Figur der Klarinette auftreten.«

Das Changieren brüchiger Liegeklänge und die fortwährende Variation kurzer Figuren lässt den Eindruck einer Musik entstehen, die ständig in Bewegung ist, ohne sich im eigentlichen Sinne zu entwickeln oder gar einem Ziel zuzustreben. Eine mittlere Dauer der durch Pausen getrennten Phrasen von etwa drei bis acht Takten führt dazu, dass sich kaum eindeutige formale Zäsuren ausmachen lassen und die Form des etwa zehnminütigen Stückes ziemlich flach erscheint.

Ein Jahr später arbeitete Olbrisch das Klarinetten-Solostück zu einer Triofassung für Klarinette, Cello und Klavier mit dem Titel … stesso … um (2016). Wie schon der Titel besagt, können beide Werke als zwei Versionen desselben Stücks aufgefasst werden. Der Klarinettenpart der beiden Stücke ist identisch. Die Stimmen von Cello und Klavier verlaufen mit diesem meist synchron und haben die Funktion, den Klarinettenklang unterschiedlich einzufärben und zu kontextualisieren. Ihr zwischen weitgehender Übereinstimmung und mäßig großen Abweichungen changierendes Verhältnis gleicht dem live-elektronischen Setting von couler ..., das von nur dezenten Transformationen des Klangspektrums geprägt ist. Dadurch bleibt der Klarinettenklang fast immer erkennbar. Zeitliche Verzögerungen führen zur Entstehung einer Art »Klangschweif«, der dem Solopart folgt. Erst gegen Ende wird der Solopart durch stärkere Verfremdungen überformt. Die Elektronik basiert auf der live aufgenommenen Soloklarinette und einem vorab aufgezeichneten Soundfile, die beide in Echtzeit verarbeitet werden. Der Klarinettenpart wird in fünf spektrale Bereiche aufgeteilt, die mit unterschiedlichen Verzögerungen zwischen 75 und 150 ms und invertierter Lautstärke (die leisen Teile verstärkt, die lauten leiser) wiedergegeben werden, zugleich aber auch eine Granularsynthese aus den Klängen der vorher aufgenommen vier oberen Spektren steuern. Die so elektronisch verarbeiteten Klänge werden zusammen mit fünf weiteren auf dem Soundfile basierenden Granularsynthesen auf fünf Lautsprecher verteilt.

Ableitung der Zeitstruktur aus Helmut Lachenmann, Trio fluido


Die Zeitstruktur von couler … und … stesso … ist von Helmut Lachenmanns Kammermusikwerk Trio fluido (1966) abgeleitet, das Franz Martin Olbrisch im Jahr 2001 während eines Forschungsaufenthalts in der Paul Sacher Stiftung Basel analysierte. Bei der Transkription von Lachenmanns Skizzen stellte er fest, dass dieser mit Permutationen von Zwölftonreihen gearbeitet hatte. Diese erklingen nicht, bestimmen aber die zeitliche Struktur des Trios, indem sie die Anfangs- und Endpunkte verschiedener Klangtypen definieren.

Notenbeispiel 1 zeigt in den obersten beiden Systemen Lachenmanns Zwölftonreihen, die dem Permutationsschema 2 – 6 – 1 – 7 – 3 – 8 – 12 – 9 – 4 – 11 – 5 – 10 unterliegen.3 In Zeile 3 ist daraus eine rhythmische Struktur abgeleitet. Ihre Tonfolge entspricht den Tonhöhen des dritten Takts, die in der Reihenfolge ihres Auftretens ab Anfang markiert werden.4 Das vierte Notensystem zeigt den Beginn von Olbrischs Klarinettenpart mitsamt den dazugehörigen Griffen. Auf den ersten Blick lässt sich die rhythmische und diastematische Beziehung zur Zeile darüber herstellen. Die untersten drei Zeilen zeigen Lachenmanns Skizzen für die Einsatzfolge der drei Instrumente Klarinette (K), Marimbaphon (M) und Bratsche (B). Sie weisen ebenfalls eine große Ähnlichkeit mit Zeile 3 auf, sind aber nicht deckungsgleich. Offensichtlich hat Olbrisch auf ein früheres Skizzenstadium zurückgegriffen als Lachenmann selbst, bei dem die aus den Zwölftonpermutationen gewonnene Rhythmusstruktur stärker vermittelt ist.

Notenbeispiel 1: Transkription von Lachenmanns Skizzen zu Trio fluido durch Franz Martin Olbrisch, mit dem Beginn der Klarinettenstimme von couler … in Notensystem 4 (Datei »Ableitung aus Trio fluido.pdf«, Privatarchiv Olbrisch)

Die mehrstufige Transformation führt dazu, dass die endgültige Partitur von Trio fluido ohne Kenntnis der Skizzen keine Rückschlüsse auf das zugrunde liegende Strukturmodell mehr erlaubt. Indem Olbrisch auf ein anderes Skizzenstadium rekurriert und zugleich mit anderen Klangtypen arbeitet als Lachenmann selbst, werden aber auch die Parallelen zwischen den beiden Werken vollkommen überdeckt. Die Skizzen zu Trio fluido geben die zeitliche Struktur von couler … vor und ähneln zugleich einem Gerüst, das nach dem Kompositionsprozess wieder abgebaut werden kann.

II rewrite 114 für großes Ensemble und Live-Elektronik


Auch in rewrite 114 für großes Ensemble und Live-Elektronik (2017) erinnert wenig an das zugrunde liegende Referenzwerk, denn der langsame Satz aus Johannes Brahms’ Klarinettentrio op. 114 wird weitreichend umgeformt. Brahms’ spätromantische, samtig-satte Klangwelt mit ihren zarten, aber zugleich vollen und warmen Klängen wird von Olbrisch merklich aufgeraut und in eine brüchige, vielfach geräuschhafte Klanglandschaft verwandelt, in der Mikrotonalität und inharmonische Mehrklänge dominieren. Aber auch die anderen Aspekte der Vorlage werden bis zur Unkenntlichkeit transformiert.

Phänomenologische Betrachtung des Werkverlaufs


rewrite 114 setzt ein mit einem geräuschhaft rasselnden...

Erscheint lt. Verlag 16.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik
ISBN-10 3-96707-900-7 / 3967079007
ISBN-13 978-3-96707-900-5 / 9783967079005
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