Blutsbande (eBook)
352 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
9783841213938 (ISBN)
'Ein intellektueller Genuss.' DeutschlandRadio Kultur.
Patchwork, Homo-Ehe, In-vitro-Fertilisation - was die einen als Untergang des Abendlandes bezeichnen, ist für andere eine Öffnung unserer Konzepte von Liebe, Beziehung und Familie. Christina von Braun, eine der renommiertesten Kulturwissenschaftlerinnen des Landes, blickt weit in die Geschichte zurück, um zu erklären, wie sich unsere Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelten. Ihr neues Grundlagenwerk wird unseren Blick auf die Gegenwart verändern.
'Blut ist ein ganz besonderer Saft', sagt Mephisto zu Faust, den er den Pakt mit seinem Blut unterschreiben lässt. Für die Kultur des Westens sind 'Blutsbande' auch die Basis von Verwandtschaft. Das gilt nicht für alle Kulturen. Christina von Braun zeigt in ihrem neuen Standardwerk, auf welchen Vorstellungen die Idee der Blutsverwandtschaft beruht und wie sich diese Vorstellungen im Zeitalter von Genetik und Reproduktionsmedizin verändern. Einerseits verfestigt sich die Idee einer langen Kette von Blutsverwandten. Auf der anderen Seite treten aber auch soziale und kulturelle Definitionen von Verwandtschaft in den Vordergrund: Vertrauen in und Verantwortung für einander ersetzen die Blutsbande.
Christina von Brauns Kulturgeschichte der Verwandtschaft ist so materialreich wie erhellend.
Christina von Braun, geboren 1944, ist Kulturtheoretikerin, Autorin und Filmemacherin. Sie war Professorin an der Humboldt-Universität im Fach Kulturwissenschaft und leitete dort bis 2003 den Studiengang Gender Studies. Sie hat zahlreiche Bücher, Aufsätze und Essays veröffentlicht und mehr als 50 Filme zu kulturellen und kulturhistorischen Themen gedreht. 2013 wurde sie mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei Aufbau 'Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte'.
1. Kapitel:
Verwandtschaft als Sprache
Man ist gewohnt, unter Verwandtschaft Blutsverwandtschaft zu verstehen. Das ist jedoch ein Spezifikum der westlichen Gesellschaft. Die Mehrheit der Menschen auf der Welt geht nicht davon aus, dass sich Verwandtschaft durch Blutsbande konstituiert. Sie wird nach ganz anderen Merkmalen definiert: gemeinsames Wohnen, die Nahrung teilen, sich von demselben Boden ernähren, zusammen arbeiten, miteinander leiden, Erinnerungen teilen, für einander Verantwortung übernehmen. Es hängt von der jeweiligen »kulturellen Logik von Verwandtschaft« ab.1 Bei den Ilongot der Philippinen zum Beispiel heißt es, dass die, die eine gemeinsame Migrations- und Kooperationsgeschichte haben, »einen Körper teilen«.2 Im Amazonasgebiet werden Menschen zu Verwandten, sobald sie dieselben Feinde haben. Solche Auffassungen, so Marshall Sahlins, lehren uns, dass »Verwandtschaft, wie sie sich von Geburt bis zum Tod und sogar jenseits davon konstituiert, ausschließlich Kultur, reine Kultur ist«.3
Die Tatsache, dass sich mehrere Menschen von ein und demselben Boden ernähren, gehört zu den meist verbreiteten Verwandtschaftsdefinitionen. Sie führt etwa dazu, »dass die Kinder zweier Brüder genauso eng verwandt sind wie diese« – aber dies nicht etwa, weil ihre Väter gemeinsame Eltern haben, »sondern weil sie von ein und demselben Boden ernährt wurden«.4 Beim Stamm der Ku Waru bedeutet der Begriff kopong sowohl Sperma des Vaters als auch Milch der Mutter, und er gilt auch als eine der Substanzen von Süßkartoffeln und Schwein. »In der westlichen Ideologie werden ›echte‹ Geschwister einzig durch pränatale Einflüsse determiniert: Die leibliche Existenz jedes Geschwisters beginnt mit dem Ereignis der Konzeption, also mit der Tatsache, dass die genetische Substanz von denselben Individuen beigesteuert wurde.« Bei den Ku Waru dagegen ist die genetische Substanz nachgeordnet. »Vielmehr erscheint kopong in jeder Phase des Prozesses als eine ernährende Substanz, ob diese nun direkt dem Garten entnommen, durch die Geschlechtsorgane des Mannes, die Brust einer Frau kanalisiert oder im Fleisch des Schweines bewahrt und konsumiert wird. Im Gegensatz zur westlichen Sichtweise gibt es hier keinen essentiellen Unterschied zwischen pränatalen und postnatalen Einflüssen.«5 Die Bedeutung der gemeinsamen Nahrung für die Konstitution von Verwandtschaft beinhaltet auch, dass »die Kinder oder Enkel von Immigranten vollkommen integriert sind; sie werden zu den Verwandten der Einheimischen«.6 Dass Sahlins hier den politisch hoch besetzten Begriff der »Integration« verwendet, hebt hervor, wie fremd dem Westen eine solche Integrationspolitik geworden ist: Wie die Debatten um die syrischen Flüchtlinge im Jahr 2016 zeigten, geht es in den modernen Staaten öfter um Ausschluss als um Einschluss – und diese Vorstellung eines hermetischen Kollektivkörpers ist eng verbunden mit dem Konzept der Blutsverwandtschaft.
Die Nahrung verbindet nicht nur die Lebenden untereinander, sondern diese auch mit den Verstorbenen. Auf den Pentecost Inseln des südlichen Pazifik, so Margaret Jolly, »verschmelzen die Bewohner mit dem Land«. Aber sie sind nicht die Eigentümer des Bodens, ebenso wenig wie sie »Eigentümer« ihrer Kinder sind. Das Land ist vielmehr »Teil der menschlichen Substanz«.7 Die Iban von Kalimantan in Südostasien verleihen dem Boden sogar eine generationenübergreifende Bedeutung: Da die menschlichen Überreste der Verstorbenen den Boden »ernähren«, ist der Reis, so der Anthropologe Clifford Sather, für sie »die Transsubstantion unserer Ahnen«.8 Die Verwendung des Begriffs ›Transsubstantiation‹, der für die christliche Welt theologisch besetzt ist, hat hier eine ganz andere Bedeutung. In der christlichen Transsubstantiationslehre verwandelt sich das Zeichen (Hostie und Wein) beim Heiligen Abendmahl in das reale Fleisch und Blut Christi – ein Stoff, von dem sich der gläubige Christ ernährt, um an der Unsterblichkeit Gottes teilzuhaben. Es handelt sich um eine »geistige Nahrung«, die zu einer physiologischen wird, um ihren Zweck als Speise erfüllen zu können. Bei den Iban dagegen haben die Nachfahren durch die Nahrung Anteil am Geist der Ahnen – und damit an einer Form von Unsterblichkeit, die von der Generationenkette vorgegeben ist.
Heute, wo durch eine weltweite Migration unterschiedliche Kulturen aufeinanderstoßen, werden sich die Industrieländer damit vertraut machen müssen, dass die Bezeichnungen ›Vater‹, ›Mutter‹, ›Bruder‹ oder ›Schwester‹ nicht notwendigerweise in der DNA ihre Entsprechungen finden. Diese Begriffe können sich genauso gut auf eine Verwandtschaft beziehen, in der den Sozialbeziehungen mehr Bedeutung beigemessen wird als dem Blut.
1. Verwandtschaftsformen
Die von Ethnologie und Anthropologie2* erforschte Vielfalt der Verwandtschaftsdefinitionen zeigt nicht nur, dass es neben dem Konzept der Blutsbande noch viele andere Vorstellungen von Verwandtschaft gibt; sie zeigt auch, dass das Blut, da wo es überhaupt eine Rolle spielt, nicht zwingend biologisch begriffen wird. Bei der von Janet Carsten untersuchten Bevölkerung von Malaysia zum Beispiel erwerben Menschen dasselbe »Blut«, weil sie in demselben Haus leben und auf demselben Herd kochen. »Ein Fötus, so heißt es, besteht aus dem Blut der Mutter und dem Samen des Vaters. Doch nach der Geburt wird das Blut des Kindes zunehmend von der Nahrung geformt, die auf dem heimischen Herd zubereitet wird.« Das schließt auch alle ein, die nicht blutsverwandt sind. »In dem Maße, in dem Menschen zusammenleben und ihre Mahlzeiten teilen, findet eine Angleichung ihres Blutes statt. […] Das Zusammenleben in einem Haus und die gemeinsamen Mahlzeiten machen sie zu Verwandten, auch wenn die, die unter einem Dach wohnen, nicht durch sexuelle Prokreation verbunden sind.«9
Ein anderes Beispiel sind die von Sharon Elaine Hutchinson untersuchten Nuer des Südsudan, wo das Blut von zentraler – mythischer wie weltlicher – Bedeutung ist. Dort entwickelten sich unter dem Einfluss der sozialen und politischen Umwälzungen unterschiedliche Parameter für die Bewertung von Verwandtschaftsbeziehungen: Sie reichen von Blut über Vieh bis zu Geld, Papier und Waffen. Ein Kind wird in den ersten Monaten seines Lebens als »Blut« bezeichnet, und ebenso werden auch Nahrungsmittel mit Blut gleichgesetzt und Blut wiederum mit Milch und Samen verglichen. Der Ernährungswert einer Substanz wird in Einheiten von Blut gemessen, wobei Milch den höchsten Wert hat. Diese »Blutsverwandtschaft« entsteht also durch das Teilen von Nahrung; die gemeinsam verzehrte Speise macht zwei Männer zu »Blutsbrüdern«, die zur gegenseitigen Verteidigung verpflichtet sind. Auch ist es ihnen verboten, nahe Verwandte des anderen Mannes zu heiraten: Es ist also die Speise, die das Inzesttabu etabliert. Blut wird hier als Recheneinheit gedacht, und auch Vieh (von dem man sich ernährt) gilt »als symbolischer Träger für menschliches Blut«.10
Das ist etwas ganz anderes als der Wertmesser Vieh der griechischen und römischen Antike. Dieser wurde abgelöst vom Geld, was sich in der Ableitung pecunia (Geld) von pecus (Vieh) zeigt und in unserem Begriff des »Pekuniären« erhielt.11 Auch bei den Griechen konnte das Vieh mit Menschenleben verrechnet werden (beim Freikauf von Sklaven zum Beispiel). Doch die von den Nuern praktizierte Gleichsetzung von Vieh und Menschenblut bewegt sich auf einer anderen Ebene: Vieh ist nicht ein neutraler Wertmesser, sondern substituiert menschliches Leben. »Stirbt ein Nuer ohne einen Erben, ist seine Familie verpflichtet, Vieh zu sammeln und ihn mit einer ›Geisterfrau‹ zu verheiraten, die ihm Kinder schenkt. Ebenso kann eine unfruchtbare Frau zu einem ›sozialen‹ Mann werden und sich (mit der Währung Vieh) eine Frau ›kaufen‹, die ihr Kinder schenkt.«12
In manchen Kulturen wird Vieh auch geopfert, um die menschliche Fortpflanzung zu sichern. In dieses ›Tauschgeschäft‹ (Opferriten sind Tauschgeschäfte mit den Gottheiten) werden in der neueren Zeit auch Papier, Geld und Gewehre einbezogen. Während das Geld als steril gilt,3* bestenfalls geeignet für einen transitorischen Handel, gilt Papier als gleichwertig mit Blut und Vieh. Es scheint ausgestattet mit übermächtigen Kräften. Das hängt einerseits mit der Erfahrung einer übergeordneten Macht des Staates zusammen, die sich in schriftlichen Erlassen ausdrückt, entspricht andererseits aber auch dem Wunsch nach Bildung: Papier symbolisiert Wissen; Schulen und andere Bildungsmöglichkeiten sind rar und begehrt. Die Symbolik von Gedrucktem als Repräsentation des Staates ist ein Import aus der westlichen Kultur. Die Gewehre wiederum repräsentieren männliche Potenz. Deshalb werden sie nicht nur im Kampf gegen Feinde eingesetzt, sondern dienen auch dem Brautkauf, anstelle von Vieh. Über lange Zeit betrachtete die westliche Anthropologie schriftlose Kulturen als statisch und ahistorisch. Aber die von den Nuern praktizierte Vermischung von Tradiertem und Importiertem zeigt, wie sehr sich vorschriftliches und historisches Denken der Schriftgesellschaften verbinden und gemischte Formen von Beziehungsgeflechten hervorbringen.
Blut rangiert in seiner Bedeutung zumeist hinter anderen Substanzen; dafür bietet das von Barbara Bodenhorn untersuchte Beispiel der Iñupiat Nordalaskas ein gutes Beispiel.13 Für diese Kultur entstehen bleibende Verwandtschaftsbeziehungen nicht durch Biologie; viel wichtiger sind frei gewählte Bindungen, die durch Namensgebung, Adoption oder durch die...
| Erscheint lt. Verlag | 19.1.2018 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Schlagworte | Blutsverwandtschaft • Familie • Gender-Studies • Homo-Ehe • Reproduktionsmedizin |
| ISBN-13 | 9783841213938 / 9783841213938 |
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