Die dunkle Seite Gottes (eBook)
208 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783695175642 (ISBN)
Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt. Er wurde 2008 mit dem Friedrich-Glauser-Debütpreis ausgezeichnet. Von Rainer Gross sind bisher über siebzig Romane und Erzählungen erschienen. Dies ist sein erstes Sach-buch.
Aufbruch
Ich sitze im Gottesdienst. Sonntagmorgen, feine Kleider, frischrasierte Wangen, Handschlaggruß und Liederbuch, all die bekannten Gesichter, ein paar unbekannte darunter. Abkündigungen, gemeinsames Singen, draußen zwitschern die Amseln, im Sommer hinter den Fenstern.
Ich wäre jetzt vielleicht lieber draußen. Freude am Leben. Herr, nimm alle Hindernisse weg, mach mich offen für Deine undsoweiter. Ich rede mit Gott mal wie ein Sohn mit seinem Vater: devot, aufsässig, mal wie mit einer Geliebten: schwärmerisch, selig, mal wie mit einem Freund: ehrlich, kritisch, mal wie mit einem Retter: dankbar, unterlegen. Aber es hilft alles nichts: Gott ist nicht da.
Er ist nicht wirklich bei mir, in mir, in allem. Er ist immer dort und ich hier. Ob um mich herum oder im Himmel oder sonstwo, immer ist sein Dort nicht mein Hier. Etwas trennt mich von ihm. Die Transzendenz, fällt mir ein, aber schließlich ist er Mensch geworden, also bitte: Wo ist seine Immanenz? Wo ist er?
In meinem Herzen. Sicher. So klein, dass ich ihn wegdrücken, überhören, ignorieren, hätscheln kann. Zu wem rede ich, wenn ich bete? Wohin? Und dann die Frage, ob ich gehört oder erhört werde, ob das einen Unterschied mache, und die Gewissheit, dass er mich immer hört.
Aber da kommt mir mein Bedürfnis nach einem echten Erlebnis in die Quere, das, was manche in der Gemeinde abschätzig »Gefühle« nennen.
Was ich meine, ist: Andacht, Ehrfurcht, Ergriffensein von der Präsenz des Heiligen, Gestimmtheit, den Atem Gottes spüren. Was ich meine, ist: Gottesbegegnung. Nicht übernatürlich, sondern im Glauben. Eine leichte Gänsehaut im Nacken, weil man eine Anwesenheit spürt. Das hätte ich schon gern. Ich glaube, dass man Gott spüren kann.
Ich glaube, dass wir einen Sinn für Gottes Nähe haben.
Ich glaube, dass wir Gott in der Welt wahrnehmen können.
Ich glaube, dass Gott auf irgendeine Weise in seiner Schöpfung anwesend ist.
Viele Kulturen, viele Menschen seit Tausenden von Jahren reden davon.
Ich glaube ..., sage ich.
Und jetzt muss ich mich fragen: Was glauben diesbezüglich meine Sitznachbarn? Was glaubt der Pastor? Was die Ältesten, die Diakone, der Bibelkreisleiter?
Glauben wir nicht alle dasselbe?
Woran glauben wir?
Wir glauben, dass Gott in Jesus Christus sich offenbart hat.
Wir glauben, dass Gott uns in Jesus Christus seine Liebe ein für alle Mal bewiesen hat.
Wir glauben, dass Gott eine Person ist, die Erde und Himmel erschaffen hat.
Wir glauben, dass Gott Licht ist und kein Dunkel in ihm? Trotzdem singen wir an Weihnachten gedankenlos Jochen Kleppers steilen Satz aus seinem Lied Die Nacht ist vorgedrungen: »Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.«
Reden wir mit Gott, als stünde er neben uns, als sähen wir wie Moses den Unsichtbaren? Oft reden wir doch mit Gott, als thronte er dort oben im Himmel oder drüben, in einer anderen Dimension.
Wir reden mit Gott, als könnte unsere Sprache ein Medium des Unsagbaren sein. Wir seufzen und stöhnen und der Heilige Geist übersetzt es.
All das tun wir. Und wir tun es zurecht.
Aber das ist nicht alles.
Lassen Sie uns darüber nachdenken, was das eigentlich bedeutet: Offenbarung. Was für eine unausdenkliche Tat Gottes das war, dass er sich uns offenbart hat, dass er uns eine helle, sichtbare Seite zugekehrt hat. Wie der Mond.
Und wir wollen nicht vergessen, dass es auch eine dunkle Seite Gottes gibt, einen Gott, der sich verbirgt und verhüllt, dessen Gesicht aus Schatten besteht, die wir deuten und deuten. Wie die dunkle Seite des Mondes, die wir nie zu sehen bekommen.
Einen Gott, in dem wir immer schon sind und es oft nicht erkennen. Ein Dunkel, so tief und abgründig wie das Sein, unfassbar, ein Geheimnis.
Ein kleiner Exkurs: Stimmt es, dass Gott im Dunkel wohnen will? Jochen Klepper hat sich diesen Satz nicht ausgedacht; er zitiert ein Bibelwort. In 1. Könige 8 Vers 12 heißt es:
Da sprach Salomo: Die Sonne hat der Herr an den Himmel gestellt. Er hat aber gesagt, er wolle im Dunkel wohnen.
Salomo spricht diese Worte im Zusammenhang mit der Einweihung des Tempels in Jerusalem. Er erwähnt, dass Gott zwar den Tempel mit Licht erfüllt, aber auch gesagt hat, dass er im Dunkel wohnen will.
Von den Theologen wird diese Aussage so verstanden, dass Gott auch in den dunklen Bereichen des Lebens bei uns sein will.
Ich sehe darin aber noch eine zweite Bedeutung, eingedenk der Geschichte von Mose, der Gott nur von hinten sehen darf und deshalb zu seinem Schutz in einen Felsspalt gestellt wird1 . Gott antwortet ihm auf seine Bitte, die Herrlichkeit des HERRN sehen zu wollen, in Vers 20: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
Gott verbirgt sich in seiner ganzen Herrlichkeit vor dem Menschen, um ihn zu schützen. Wir können also Gottes Angesicht nicht schauen; aber wir können Gott in dem Verborgenen, in dem er wohnt, begegnen.
Das Dunkel birgt ein Geheimnis. Hat denn der offenbarte Gott noch ein Geheimnis?
Ja, er ist das Geheimnis. Wenn wir das im Blick behalten, dann erscheint uns auch das Offenbarte als Geheimnis und längst nicht so selbstverständlich und banal, wie wir oft damit umgehen.
Das Geheimnis Gottes nun verbirgt sich im Evangelium. Das Geheimnis des Glaubens, von dem Paulus spricht2, ist die Tatsache, dass er seinen Sohn für uns opferte aus Liebe, ist die Liebe Gottes in Jesus Christus.
Diese Liebe völlig zu erfassen, die ganze Fülle Gottes zu begreifen3, bleibt lebenslange Aufgabe des Glaubenden.
Ich verlasse nachdenklich und unzufrieden den Gottesdienst. Es ist eine menschliche, allzumenschliche Gemeinschaft. Wo da der Geist wehen soll, ist mir manchmal schleierhaft.
Ich vermisse eine Ergriffenheit, eine Begeisterung, eine Sehnsucht nach Gottes Nähe. Dazu braucht es, denke ich, wieder ein Suchen nach Gott, ein Entdecken und Erforschen. Ich beschließe plötzlich, dass ich mich wieder aufmachen will, Gott zu suchen. Aus der hermetischen Gemeindewelt auszubrechen und Gott außerhalb der Gemeinde zu suchen.
Draußen, in der Welt.
In den Völkern und Kulturen. In der Natur. Im menschlichen Geist, der schon seit Jahrtausenden über Gott nachdenkt. In den Religionen, die alle ein wenn auch fragmentarisches Wissen von Gott haben. Im Alltag. In den Dingen. Im Innewohnen Gottes in seiner Schöpfung.
Ich will in die dunkle Seite Gottes eintreten, nun, da ich sein sonnenhelles Antlitz kenne, nun, da ich ihm glaube, dass er es mir liebend zukehrt.
Ich will erfahren, wo Gott noch ist, wo er immer schon war und ich ihm immer schon am nächsten.
Ich will heraus finden, ob die Welt tatsächlich gottlos ist, ein Ort nur der Täuschungen und Irrwege.
Gott ist ja nicht fern von uns, wie Paulus den neuigkeitslüsternen Athenern auf dem Marsfeld verkündet, in ihm weben und leben und sind wir, sagt er4 Menschen können das seit Jahrtausenden wissen, und ich will es wie sie erleben, erfahren, erkennen, jetzt, da ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.
Es wird kein anderer Gott sein, den ich da finden werde; darauf vertraue ich. Es wird der Gott sein, der mich geschaffen hat, weil er will, dass es mich gibt, und der für mich gestorben ist, damit ich sein kann, was ich eigentlich bin.
Aber ich werde ihn mit anderen Augen sehen. Mit Augen, die sich ans Dunkel gewöhnt haben, mit Händen, die nicht greifen, sondern tasten, mit Ohren, die nicht hören, sondern lauschen auf die Stille.
Ich werde Gott begegnen in dem, was immer schon da ist, dem Selbstverständlichsten und Staunenswertesten, und die Welt wird sich öffnen wie ein Fenster und das weite Land enthüllen, dessen Bürger ich im Glauben längst bin.
Auch das ist eine Art von Offenbarung, natürlich. Man kann es mit den Theologen revelatio generalis oder allgemeine Gotteserkenntnis nennen im Sinne von Römer 1, und auch sie hat – davon bin ich überzeugt – ihr gottgegebenes Licht. Auch wenn sie nicht zum Entscheidenden führt, zu Jesus Christus, zu einem eindeutig liebenden Gott.
Es ist tatsächlich eine Offenbarung, die wir vergessen haben über aller Sonntagspredigt, über Sakrament und Soteriologie, über Vaterunser und Liederbuchvers.
Eine Offenbarung, die uns in fremden Kulturen und Religionen entgegentritt, die wir dort wiedererkennen können, in Teilen, in Sätzen, in Symbolen und Bildern, in Erfahrungen, und das sollen wir laut Paulus: Alles prüfen und das Gute behalten5.
Das Gute – was kann das sein?
Ein Gott, wie ich ihn bisher nicht kenne oder nicht für wahr gehalten habe.
Ein Schöpfer, der größer und herrlicher ist, als ich geglaubt habe.
Eine Präsenz, die ich ausgeblendet habe in meinem ständigen Ich-hier und Gott-dort.
Ein Wunder des Seins, in das ich schon längst gehöre und das mir heraus hilft aus der Isolation eines zweifelnden Subjekts, eines Ichs, das die Zusammengehörigkeit mit seiner Welt...
| Erscheint lt. Verlag | 8.10.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
| Schlagworte | Gott • Quantenphysik • Spiritualität • Taoismus • Zen |
| ISBN-13 | 9783695175642 / 9783695175642 |
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