Krise der Aufklärung (eBook)
208 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78404-4 (ISBN)
Die Aufklärung ist in Gefahr. Die Vermarktung von Information und Kommunikation hat Fehlinformationen profitabel gemacht, die Öffentlichkeit ist zu einem Raum der Täuschung und Aufwiegelung geworden. Eine zunehmende und ungehemmte Ausbreitung von Grausamkeit und Gewalt scheint die Folge zu sein. Michael Hampe überlegt in diesem Buch, ob ein neues Verständnis von »Selbst« und »Freiheit« auch zu einer Erneuerung der Aufklärung beitragen kann. Und ob Erziehung Menschen so zu verändern vermag, dass sie der Erosion der aufgeklärten Kultur etwas entgegensetzen und aufgeklärte Lebensformen begründen.
<p>Michael Hampe, geboren 1961, studierte Philosophie in Cambridge und Heidelberg sowie Biologie in Heidelberg. Danach lehrte er in Dublin, Kassel und Bamberg und ist seit 2003 Professor für Philosophie an der ETH Zürich sowie Mitglied am dortigen Zentrum Geschichte des Wissens (ZGW).</p>
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Einleitung
Ludwig Wittgenstein schrieb in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in seinen Vermischten Bemerkungen:
Die apokalyptische Ansicht der Welt ist eigentlich die, daß sich die Dinge nicht wiederholen. Es ist z.B. nicht unsinnig, zu glauben, daß das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; daß die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch die von der endlichen Erkenntnis der Wahrheit; daß an der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und daß die Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft. Es ist durchaus nicht klar, daß dies nicht so ist.[1]
Der Philosoph Ben Ware hat in seinem Aufsatz »Wittgensteins apokalyptische Subjektivität« Wittgensteins Philosophieverständnis mit Bezug auf dieses Zitat so expliziert:
Philosophie wird [von Wittgenstein, M.H.] als eine Tätigkeit dargestellt, durch die man die Welt neu zu sehen lernt. Ihr Ziel ist es […], den Griff fester Sehgewohnheiten zu lockern, routinierte Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu destabilisieren und uns an einen Punkt zu bringen, von dem aus es möglich ist, das Alltägliche durch eine dialektische Optik zu betrachten.[2]
Ben Ware bezieht dieses Bemühen Wittgensteins um die Entwicklung der Fähigkeit, Dinge in einer neuen Perspektive, in einem anderen Licht als bisher zu sehen, vor allem auf die wissenschaftliche Erkenntnis und das moderne Fortschrittsdenken, man könnte auch sagen: auf unsere Einstellung zur modernen Aufklärung. Das, was wir als wissenschaftlichen Fortschritt und als einen Prozess der 14Befreiung von Illusionen, Aberglauben, von philosophischen und theologischen Dogmen sehen, könnte nach Wittgenstein auch die Bewegung hinein in »eine Falle« sein. Das, was mit der wissenschaftlich-technischen Zivilisation im 16. und 17. Jahrhundert begonnen hat, könnte auch als Anfang vom Ende der Menschheit gedeutet werden, oder: Man kann lernen, die Geschichte auch so zu sehen. Wir müssen die eigenen Erfahrungen nicht nur anhand der »Standarderzählungen« vom Fortschritt organisieren. Anders als mancher Apokalyptiker sagt Wittgenstein jedoch nicht, dass es so ist, also dass mit dem Prozess, der um 1600 in Europa in Gang gekommen ist, tatsächlich der Anfang vom Ende der Menschheit angebrochen ist. Aber man kann, so scheint er nahelegen zu wollen, diese Möglichkeit zu erwägen lernen.
Denn es ist nicht vollständig bestimmt, wie wir einen Entwicklungsprozess deuten und bewerten, zumal wenn unklar ist, wann er zu Ende sein wird. So galt bis zu den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert die Aufklärung als ein großartiges Projekt. Danach änderte sich die Einschätzung. Auch die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1944 ist als eine Einübung in eine andere Perspektive auf die Aufklärung vor dem Hintergrund der Weltkriegserfahrungen und des Holocausts deutbar.
Wir alle kennen Debatten, in denen darüber gestritten wird, wie die Entwicklung der Menschheit über die letzten 400Jahren zu bewerten sei. Nicht nur scheint es unmöglich, solche Streitigkeiten zu entscheiden, sofern es lediglich um die Feststellung von Tatsachen geht. Denn schon auf den Wahrheitsgehalt von Tatsachenfeststellungen kann man sich gegenwärtig in einer Öffentlichkeit kaum einigen, in der einer großen Anzahl von Menschen ein Bewusstsein für Überprüfungsverfahren von wissenschaftlichen Behauptungen fehlt, sehr viele jedoch gleichzeitig großes Interesse daran haben, Recht zu behalten. Es geht bei diesen Streitigkeiten nicht einfach um Tatsachenfeststellungen, sondern um Bewertungen von Tatsachen und die Organisation von historischen »Gestalten« in unseren Köpfen. Für die positive Bewertung dieser Prozesse – etwa als Fortschrittsbewegung –, scheinen Tatsachen zu sprechen wie Reduktion der Kindersterblichkeit, Alphabetisierung von Menschen durch öffentliche Schulen, Eindämmung von Infektionskrankheiten durch Antibiotika usw. Andere Tatsachen schlagen dagegen negativ zu 15Buche: die Völkermorde in den großen Vernichtungskriegen, den totalitären Systemen des Faschismus und des Stalinismus sowie durch den Kolonialismus, der Einsatz und die Existenz von Nuklearwaffen, die Erderwärmung und das Artensterben. Was man für die Zukunft erwartet, hängt davon ab, welche Tatsachen man als Indikatoren für die relevanten Entwicklungsaspekte der historischen Gestalt namens »Aufklärung« als »Figur« und welche man als »Hintergrund« darstellt. Der Streit geht also nicht so sehr um das, was der Fall ist. Vielmehr geht es um die Gewichtung von Tatsachen als Symptomen für die zu erwartende weitere Entwicklung. Zu diesem Zweck wird zeitliche Gestalt, die man als »Aufklärung« anspricht mit normativen Termini beschrieben. Was waren die letzten 400Jahre in Europa eigentlich: ein Prozess der Befreiung und Befriedung, der Anerkennung des Wertes eines jeden einzelnen Menschen oder der lange Anlauf in die digitale Unmündigkeit und ökologische Katastrophe?
Mit der aufklärerischen europäischen Moderne verhält es sich ähnlich wie bei Wittgensteins berühmtester Kippfigur, der Hasenente. Während man diese sowohl als einen Hasen als auch eine Ente sehen kann, lässt sich die Aufklärung als eine lange Katastrophe, aber auch als Befreiungsbewegung auslegen. Es gibt allerdings einen Unterschied: Anders als bei der Hasenente wird der Aspektwechsel bei der Bewertung der modernen Aufklärung von einer emotionalen Gestimmtheit begleitet: Es fühlt sich bitter an, die Geschichte der Moderne als eine Bewegung hinein in eine Falle zu sehen, aus der die Menschheit eventuell nicht mehr herauskommt. Denn »unsere« moderne Kultur ist auf Fortsetzbarkeit und Fortschritt im Streben nach Freiheit und Wohlergehen angelegt. Es ist schwer erträglich, sich vorzustellen, dass »uns« im gegenwärtigen politischen US-Amerika und in der globalen ökologischen Krise, »die Rechnung« für ein kollektives Fehlverhalten präsentiert wird, für eine Reihe von Fehlentscheidungen von Gemeinschaften, deren Mitglieder in ihrer Existenz weitgehend auf ein Konsumentendasein reduziert wurden und die durch eine allein nach Profitmaximierung strebende Unternehmerclique nach allen Regeln der digitalen Abrichtungskunst manipuliert werden. Dass all das, woran viele Menschen über Generationen hinweg mit großen Hoffnungen gearbeitet haben, aufhören und unterm Strich mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht haben wird, ist ein beunruhigender Ge16danke. In der anderen Perspektive gibt es dagegen weiterhin Anlass zur Hoffnung. Denn hier sind gegenwärtige Krisen nicht Vorboten des Untergangs, sondern Herausforderungen, deren Bewältigung zu neuen Erkenntnissen und Technologien führen wird, wie das bisher immer gewesen ist. Die Menschen werden in Zukunft nach der Überwindung dieser Krisen mit bisher nicht geahnten Fähigkeiten und Freiheiten ausgestattet sein. Auch wenn die gegenwärtigen Entwicklungen furchteinflößend und mit Leid verbunden sein mögen: Sie werden die Menschen zu neuen »Höhen« tragen.
Texte, die versuchen, »das Sehen« so zu schulen, dass es gelingt, die Verhältnisse in einem anderen bewertenden Licht zu sehen als bisher, sind Instrumente. In ihnen manifestiert sich nicht der Anspruch darauf, eine »endgültige Lehre«, eine »unumstößliche Gewissheit« oder »letzte Wahrheit« zu liefern, sondern mit ihnen lässt sich geistige Beweglichkeit trainieren, die vor Fanatismus schützen und Verständigungsprozesse fördern kann.
Die Cartesische Vorstellung, es könnte eine Lehre, eine Theorie, eine Wahrheit geben, die absolut gewiss ist und uns zu »Herren und Besitzern der Natur« macht,[3] war ein Kennzeichen der frühen wissenschaftlichen Aufklärung Europas und ihres Fortschrittsglaubens. Im 19. Jahrhundert ist diese Vorstellung verschwunden, nachdem Charles Sanders Peirce den Fallibilismus etabliert hatte (auch wenn der Fortschrittsglauben zunächst noch erhalten blieb).[4] Seitdem hangelt sich die Wissenschaft von einem Irrtum zum nächsten, lernt alte Irrtümer zu vermeiden, indem sie eine Weile neuen, noch nicht durchschauten, anhängt. Sie ist bescheidener geworden. Die Frage, ob sie sich dabei...
| Erscheint lt. Verlag | 12.10.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Aufklärung • Bücher Neuerscheinung • Erziehung • Fake News • fehlinformationen • Freiheit • Kritik • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Philosophie • Selbstbestimmung • Spätmoderne • STW 2481 • STW2481 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2481 • Täuschung |
| ISBN-10 | 3-518-78404-8 / 3518784048 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78404-4 / 9783518784044 |
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