Größe zeigen (eBook)
350 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78376-4 (ISBN)
Bis heute weiß Kate Manne genau, was sie zu jedem wichtigen Anlass in ihrem Leben wog: an ihrem Hochzeitstag, an dem Tag, an dem sie Professorin wurde, an dem Tag, an dem ihre Tochter geboren wurde. Solange sie denken kann, wollte sie dünner sein. Sie wurde wegen ihres Gewichts belächelt und gemobbt. Und sie hat darauf reagiert: mit extremen Diäten. Manne versteht sich als feministische Philosophin, aber dem kulturellen Gaslighting, das dazu zwingt, den Hunger zu ignorieren, konnte sie sich nicht entziehen. Nun hat sie diesem Thema ein international gefeiertes Buch gewidmet, dass intime Geschichten mit wissenschaftlichen Analysen und scharfsinnigen philosophischen Einsichten verbindet.
Manne untersucht, wie Fettfeindlichkeit funktioniert, wie sie uns dazu bringt, verheerende Annahmen über die Attraktivität, die Stärken und den Intellekt einer Person zu treffen, und wie sie sich mit anderen Systemen der Unterdrückung überschneidet. Fettphobie ist verantwortlich für Lohnunterschiede, medizinische Vernachlässigung und schlechte Bildungsergebnisse. Sie ist eine Zwangsjacke, die unsere Freiheit einschränkt. Daher muss sie bekämpft werden mit einer neuen Politik der »Körperreflexivität«, die klarmacht, dass unsere Körper in der Welt für uns selbst existieren - und für niemanden sonst.
Kate Manne ist Associate Professor of Philosophy an der Cornell University, außerdem schreibt sie u. a. für die <em>New York Times</em>, die <em>Washington Post</em>, den <em>Guardian </em>und <em>Time</em>. Ihr Buch <em>Größe zeigen. Wie wir Fettfeindlichkeit bekämpfen können</em> war ein Finalist des National Book Award 2024 und wurde vom <em>New Yorker</em> zu einem der besten Bücher des Jahres 2024 gekürt.
25
Kapitel 1
Die Zwangsjacke der Fettfeindlichkeit
Als Jen Curran mit 38 Jahren zu einem Nierenfacharzt ging, wurde ihr eine Gewichtsabnahme verordnet.»Können Sie mit einer Diät beginnen und Sport treiben? Versuchen Sie, etwas Gewicht zu verlieren«, lautete der Rat für sie. Jen spielte mit, trotz ernsthafter Bedenken. »Ja, ich verstehe, ich kann das machen.« Jen hatte ein fünf Monate altes Baby zu Hause. Der Arzt fuhr fort, »Gehen Sie mit dem Baby draußen spazieren, essen Sie weniger Salz, keine Fertiggerichte, halten Sie sich an pflanzliche Kost.«1
Jen merkte an, dass sie die Anweisungen nicht benötigte: Sie kannte sich mit Gewichtsabnahme bereits »nur zu gut aus«. Sie hatte in ihrem Leben schon einmal 115 Pfund abgenommen, jedoch nicht um ihrer Gesundheit willen, sondern wegen ihres Aussehens. Seitdem hatte sie entschieden, die von ihr selbst so genannte Obsession mit dem Gewicht aufzugeben und ihren Körper so anzunehmen, wie er war. Das war vor einigen Jahren. Sie fühlte sich stark und widerstandsfähig, ungeachtet des hohen Proteinspiegels in ihrem Urin, den ihr Gynäkologe während ihrer Schwangerschaft zusammen mit einem hohen Blutdruck mit Sorge registriert hatte. Im zweiten Drittel ihrer Schwangerschaft war ihr Bettruhe verordnet worden und die Geburt ihrer Tochter Rose war in der 37. Woche eingeleitet worden.
Im Gegensatz zu dem, was ihr Gynäkologe erhofft hatte, löste sich das Problem mit dem Protein im Urin nach dem Ende der Schwangerschaft für Jen nicht von selbst. Ihr wurde geraten, so bald wie möglich einen Nierenspezialisten aufzusuchen.
26»Und wenn ich abnehme, wird das Protein verschwinden?«, fragte Jen bei ihrem Arztbesuch. »Ja, nehmen Sie ab, dann wird das Protein verschwinden. Kommen Sie in vier Monaten wieder.«
Jens Gewicht war allerdings gar nicht das Problem: sie hatte Knochenmarkkrebs. Hätte sie dem Rat dieses Arztes nicht misstraut und einen Monat später eine zweite Meinung eingeholt, hätte der Krebs ihren Körper weiter ungehindert zerstören können und ihre Proteinwerte wären so hoch geblieben wie zuvor. »Es gibt nichts, was Diät oder Sport bewirken können, um so viel Protein abzubauen«, erklärte ihr der zweite Nierenspezialist.
Glücklicherweise wurde der Krebs bei Jen – ein Multiples Myelom – noch rechtzeitig entdeckt, um ihn sechs Monate lang mit Chemotherapie und Steroiden behandeln zu können. Die Prognose für Jen ist zum jetzigen Zeitpunkt, während ich dies schreibe, gut.
Andere Menschen haben nicht so viel Glück. Als Jan, 59 Jahre alt, ihre Schwester Laura Fraser besuchte, sagte diese ihr, sie sehe großartig aus. Jan hatte 60 Pfund abgenommen. Sie hatte das gar nicht versucht: Seit Monaten hatte sie so viele Schmerzen, dass sie kaum noch Appetit hatte. Sie litt unter postmenopausalen vaginalen Blutungen und nahezu unaufhörlichen Schmerzen im Becken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihren Versuch schilderte, bei einem Gynäkologen Hilfe zu finden. Er führte eine Routineuntersuchung durch und zuckte schließlich mit den Achseln. Jan fühlte sich als eine »dicke, klagende ältere Frau« abgetan. Sie versuchte, den Schmerz zu bekämpfen, indem sie mit Ernährungsbeschränkungen experimentierte – durch Ausschluss von Milchprodukten und Gluten – und rezeptfreie Schmerzmedikamente einnahm. Der Assistent eines Arztes, den sie Monate später aufsuchte, glaubte, 27sie sei nur darauf aus, an eine Opiatinjektion zu kommen. Doch letztlich ordnete er die Erstellung eines Blutbilds an.2
Am nächsten Tag erhielt Jan frühmorgens einen Telefonanruf, in dem ihr mitgeteilt wurde, sie möge direkt zur Notaufnahme gehen. Sie wurde mit einem extrem hohen Calciumspiegel im Blut in kritischem Zustand in die Intensivstation aufgenommen. Ein MRT zeigte eine riesige Masse in ihrem Unterleib: den größten endometrialen Tumor, den ihr Chirurg je gesehen hatte. Ihr Becken war voller Krebsgeschwüre; ihre Blase war ebenfalls befallen; sogar in ihrer Lunge gab es Flecken.
Jan lebte nur noch sechs Monate. Während ihrer wiederkehrenden Chemotherapie nahm sie ständig weiter ab. Und die Leute machten ihr weiter Komplimente wegen ihres Gewichtsverlusts.
***
Die Zwangsjacke der Fettfeindlichkeit ist eine Quelle der Belastung und des Unbehagens für die meisten von uns, wenn nicht sogar für alle. Aber es macht das Leben noch schwerer, wenn unsere Körper nicht in bestimmte starre Grenzen passen, gegen die sich manche Körper – darunter meiner – immer stemmen werden und die sie stets sprengen. Die Fettfeindlichkeit fungiert dabei ganz ähnlich wie die Zwangsjacke als starke soziale Markierung: Sie signalisiert, dass manche Körper ignoriert, missachtet und schlecht behandelt werden sollten. Sie kennzeichnet dicke Körper als solche, die keine Fürsorge verdienen – und ebenso keine Bildung, keine Anstellung und keine anderen elementaren Formen der Freiheit und Chancengleichheit.
Die Zwangsjacke wird frühzeitig festgezurrt. Es ist hinläng28lich bekannt, dass dickliche Kinder in der Schule weit verbreitet dem Spott ausgesetzt sind. Das Gewicht eines Kindes scheint der häufigste Ausgangspunkt für Schikanierung auf dem Schulhof zu sein.3 Ich erinnere mich in einem Kreis von Kindern gesessen zu haben, während wir auf einem grasbewachsenen Schulhof unser Pausenbrot aßen, als ein präpubertärer Junge nacheinander auf uns zeigte: Er erklärte uns völlig unbefangen für »dünn«, »mittel« oder »dick«. Als ich das einzige Mädchen war, das als dick eingestuft wurde, lag auf meinen Ohren der Druck eines sozial erzeugten Rauschens. Meiner Meinung nach war mir ohne Zweifel der niedrigste Rang zugesprochen worden. Und das beeinflusste nicht nur, wie ich mich selbst wahrnahm, sondern auch wie Gleichaltrige es taten. »Mangos machen dich dick«, sagte einer und hielt sich beim Inhalt meiner Brotbox angeekelt die Nase zu. »Und von Mangos bekommst du Mundgeruch!«, ergänzte sicherheitshalber eine andere.
Eine solche Behandlung, wie jede Form früher Stigmatisierung aufgrund des Gewichts, bringt für dickliche Kinder ein erhöhtes Risiko für Depression, Ängste, niedriges Selbstwertgefühl und Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper mit sich. In extremen Fällen besteht sogar ein erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten.4
Dicke Kinder sind auch dem diskriminierenden und voreingenommenen Verhalten ihrer Lehrer ausgesetzt – ja, ihrer Lehrer. Das Lehrpersonal äußert häufig negative gewichtsbedingte Stereotypen über die fülligeren Schüler, weil durchweg angenommen wird, diese werden bei argumentativen Aufgaben schlechter abschneiden, im Sportunterricht mehr Mühe haben und über weniger soziale Fähigkeiten verfügen.5 Ich erinnere mich an einen Lehrer, der mir onkelhaft auf die Schulter klopfte und mich zu einem »Brummer« erklärte, als ich 14 Jahre alt war. Ich sah mich selbst durch seine Augen als 29stämmig, schwerfällig, dumm und fühlte sofort meinen Magen sich verkrampfen. Und tatsächlich neigen Lehrer dazu, Kinder, die als normalgewichtig klassifiziert werden, als überdurchschnittlich begabt wahrzunehmen und Kinder, die als fettleibig klassifiziert werden, als solche, die schulische Schwierigkeiten haben.6 Es ist richtig, dass es einige (unzusammenhängende und widersprüchliche) Anhaltspunkte dafür gibt, dass Lernende, die als übergewichtig oder fettleibig klassifiziert werden, die Tendenz haben, in der Schule schlechter abzuschneiden. Wie eine Studie zeigte, hat dies aber den plausiblen Grund, dass sich solche Schülerinnen und Schüler der Schule eher entziehen und den Schulbesuch sogar ganz vermeiden, wenn sie Gegenstand gewichtsbedingter Hänseleien sind.7 Eine weitere Studie zeigte, dass die Leistungslücke gegenstandslos wurde, wenn solche gewichtsbedingten Hänseleien ausreichend unterbunden wurden.8 Insoweit das Lehrpersonal füllige Kinder dafür verantwortlich macht, weniger gute Leistungen zu erbringen als ihre gleichaltrigen Mitschüler und Mitschülerinnen, handelt es sich dabei im Grunde genommen um eine Schuldumkehr, die dem Opfer die Schuld zuweist – und um das Ergebnis schädlicher, haltloser Stereotype über den Mangel an Scharfsinn bei dicken Menschen.9
Zudem werden Schüler dann, wenn ihre Leistungen genau...
| Erscheint lt. Verlag | 17.11.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Karin Wördemann |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Unshrinking. How to Fight Fatphobia |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
| Schlagworte | Aktivismus • aktuelles Buch • Attraktivität • Bücher Neuerscheinung • Diäten • fatphobia • fettphobie • Gaslighting • Gewicht • Körperreflexivität • Mobbing • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Philosophie • PROSE Award 2019 • Schönheitsideal • Unshrinking. How to Fight Fatphobia deutsch |
| ISBN-10 | 3-518-78376-9 / 3518783769 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78376-4 / 9783518783764 |
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