Die Fülle des Lebens (eBook)
167 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-78467-8 (ISBN)
Alle reden vom Glück. Nicht wenige Menschen aber werden unglücklich, nur weil sie glauben, immer glücklich sein zu müssen. Mit diesem Buch wird die Sehnsucht nach Glück in nachdenklichere Bahnen gelenkt. Es geht nicht ums Ganze, sondern um »Fragmente des Glücks«. Sie tragen letztlich zu einer Fülle des Lebens bei, die auch Widersprüche nicht ausschließt. Und die alltäglichen Kuriositäten schätzt.
Der Alltag kommt wieder zu seinem Recht: Was trägt es zu unserem Glück bei, auf einem Stuhl zu sitzen, einen Regenmantel überzustreifen, Weißwürste zu essen und »romantisch« zu sein? Nicht ignoriert werden der alltägliche Ärger, die Einsamkeit und Verletzlichkeit. Aber der Autor entfacht auch die Liebe zum Gedankenstrich, schildert das Glück des Zappens, schickt ein Gelassenheits-Gebet zum Himmel und gibt Antwort auf die Frage, was uns trösten kann.
Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin. Umfangreiche Vortragstätigkeit im In- und Ausland. Viele Jahre lehrte er Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Zusätzlich war er tätig als Gastdozent in Lettland und Georgien sowie als philosophischer Seelsorger an einem Krankenhaus in der Schweiz. 2012 wurde ihm der deutsche Meckatzer-Philosophie-Preis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie verliehen, 2013 der schweizerische Egnér-Preis für sein Werk zur Lebenskunst.
Frühlingsmorgen:
Die Fülle der Sinne
1 | Aufstehen und Auferstehung
Aufwachen, aufstehen: Wie schwer das immer wieder fällt, heute Morgen zum Beispiel. Als würden Klötze an den Gliedern hängen, auch an den Gedanken: So früh am Morgen bin ich geistig unzurechnungsfähig. Sie kennen das? Warum ist das so?
Vielleicht, weil wir beim Aufwachen aus einer anderen Welt kommen: Aus der Welt der Möglichkeiten, unendlich weit und reich wie die Träume, die uns Nacht für Nacht dorthin entführen. Jeden Morgen fallen wir zurück in die Welt der Wirklichkeit: Die ist, wie sie ist, mit eng begrenzten Spielräumen für ein Anderssein. Möglich ist prinzipiell alles, wirklich hingegen nur das, was ist. Der Wechsel der Welten könnte dramatischer nicht sein.
Aufwachen und Aufstehen sind an dieser Schnittstelle, diesem Interface angesiedelt, und das ist das Problem. Es handelt sich um keine Kleinigkeit, sondern um den Übergang von einer Dimension des Seins zu einer anderen. Was uns morgens abverlangt wird, ist nichts anderes als die immer neue Inkarnation, ganz im Wortsinne: Wir müssen wieder ins Fleisch, das von dieser Welt ist, während wir seelisch und geistig noch in jener Welt weilen, die voller Möglichkeiten ist.
Die Lebenskunst kann dabei behilflich sein, den Übergang zu bewältigen, vor allem mithilfe von Ritualen: Wenn es »so wie immer« abläuft. Beispielsweise langsam sich aufzurichten, nur allmählich sich daran zu gewöhnen, dass der Tag bestimmter und begrenzter ist als die diffuse, nebulöse Welt der Nacht. Laut und vernehmlich zu ächzen und zu stöhnen, damit die Mühsal adäquaten Ausdruck findet. Sich ausgiebig der Körperpflege im Bad zu widmen, sich auch fürs Frühstück alle Zeit der Welt zu nehmen, ganz allein vielleicht mit der Zeitung. Der immer gleiche Ablauf, die eingeübte Reihenfolge sorgen dafür, nichts neu entscheiden zu müssen, sich einfach nur hingeben zu können. Das kostet zu viel Zeit? Zumindest am Sonntag haben wir sie. Eine andere Art des Aufstehens aber ist die Auferstehung. Was an Ostern eigentlich gefeiert wird, wieder mit einem Ritual, ist der umgekehrte Übergang, nämlich von der Wirklichkeit zurück zur Welt der Möglichkeiten, der göttliche Weg zu einem neuen und anderen Leben. So weit sind wir Menschen freilich jetzt noch nicht. Durch das wirkliche Leben müssen wir erst noch hindurch. Also noch etliche Male aufstehen.
2 | Gelassenheits-Gebet
»Lebenskunst«, klingt gut. Aber kann man wirklich über sein eigenes Leben bestimmen? Immer aktiv am Leben arbeiten? Stets mit seiner Gestaltung beschäftigt sein? »Ach«, stöhnen Sie, »schön wär’s!« Sie haben keine Zeit dafür. Andere Dinge drängen sich vor, Geldverdienen zum Beispiel, Ärger mit der Familie. Aber könnte ein Problem auch darin liegen, die Dinge stets anders haben zu wollen, als sie sind? Was wäre, wenn wir beliebig über unser Leben verfügen könnten? Es wäre anstrengend.
Lebenskunst kann daher nicht nur aus Selbstbestimmung bestehen. Die Gestaltung des Lebens kann nicht nur eine Aktivität sein. Ergänzend zum weit verbreiteten Aktivismus wäre eher ein »Passivismus« zu pflegen: Nicht immer alles beeinflussen zu wollen, vielmehr einiges auch auf sich beruhen lassen zu können. Es ist das Lassen, das für die Gelassenheit sorgt, ohne die eine Lebenskunst nicht denkbar ist: Offen lassen, zulassen, geschehen lassen, wachsen lassen, jemandem etwas überlassen, und, wenn möglich, auch auf andere sich verlassen.
Die Gelassenheit ist, wie so vieles, eine Frage der Übung: Sich immer wieder versuchsweise dem Leben zu überlassen, diesem unentwirrbaren Durcheinander von Freuden und Ängsten, Begegnungen und Erfahrungen, Ereignissen und Überraschungen, äußeren Notwendigkeiten und eigenen Ideen, Schicksalhaftigkeit und Widersprüchlichkeit. In der Lage zu sein, Dinge auf sich zukommen zu lassen, wenngleich nach sorgfältiger Vorbereitung auf das, was bevorsteht oder auch nur bevorstehen könnte. Und wenn es dann ganz anders kommt? Dann kommt es eben anders. Nicht alles können wir bedenken. Nicht alle Probleme der Welt können wir lösen. Nicht jetzt. So gestalten wir unser Leben nicht nur selbst, sondern lassen es auch gestalten – vom Leben.
Endlich vergeuden wir unsere Kräfte nicht mehr, sondern konzentrieren sie dort, wo sie etwas bewirken können. Souverän ist nicht der, der über alles bestimmen kann, sondern der, der relative Klarheit darüber gewinnt, wo dies möglich und sinnvoll ist und wo nicht. Ganz so, wie dies im »Gelassenheits-Gebet« zum Ausdruck kommt, das einen Gedanken des antiken Philosophen Epiktet aus dessen Handbüchlein aufgreift (Encheirídion, Aphorismus 1) und das der deutsch-amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr 1943 so formuliert hat: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
3 | Zeitung lesen
Vertrautes Ritual: Die ersten tiefen Atemzüge, der erste Gang am Morgen, ein paar Schritte hinaus in die Welt, um sich die Welt ins Haus zu holen. Von größter Wichtigkeit ist diese tägliche Wiederkehr, dieses zyklische Element, das die Zeitung als Ganzes bereits verkörpert: Täglich kehrt sie im selben Format wieder, täglich zur selben Zeit, und sobald sie zu Ende gelesen ist, wird sie selbst komplett der Rezyklierung anvertraut. Betont wird das zyklische Element noch durch die regelmäßig wiederkehrenden Kolumnen. So gewinnt das moderne Leben, das die Zeit nur als vergehende kennt, wieder ein Stück der vormodernen, kreisförmigen Zeitauffassung zurück.
Welche Seite lesen Sie am liebsten in Ihrer Zeitung? Ich selbst beginne gerne mit der letzten Seite. Von hinten ist es immer am schönsten. Oder ich bewahre mir die letzte Seite bis zum Schluss auf, sozusagen als Höhepunkt der Lektüre. Die letzte Seite steht bei den meisten Zeitungen in einem starken Kontrast zur ersten. Auf der Frontpage findet sich das, was Journalisten und Politiker für das Wichtigste halten. Zuguterletzt aber (bei manchen Zeitungen nicht ganz zuletzt) ist unter »Weltspiegel«, »Vermischte Meldungen«, »Aus aller Welt« all das zu finden, was wirklich wichtig fürs Leben ist: Klatsch und Tratsch, Kuriositäten und Absurditäten, Geschichten von menschlichen Schicksalen, spektakuläre Unfälle, auch Detailinformationen zu Naturkatastrophen und ökologischen Zerstörungen. Meist aufgemacht mit Fotos von den neuesten Verliebtheiten, Trennungen, tiefsten Dekolletés. Eben all das, womit man im vorderen Teil der Zeitung nichts anzufangen weiß, sei es aus Verlegenheit oder aus Scham, sodass es nach hinten geschoben wird: Ein Fortsetzungsroman der »großen Geschichte« in Gestalt vieler kleiner Geschichten, das macht die Lektüre so spannend.
Aber das Wesentliche an der Zeitung ist, dass sie die Welt, die sie ins Haus bringt, zugleich ordnet. Die Kunst des Zeitungmachens besteht darin, die Wirklichkeit nicht einfach nur abzubilden, sondern ihr eine Form zu geben. Zeitung ist Ordnung, sonst hat sie keinen Sinn. Täglich wird diese Ordnung neu hergestellt und festgeschrieben. Daher kann morgens um sieben die Welt noch in Ordnung sein. Wenn wir mit der Lektüre fertig sind, kann dann das Chaos ruhig wieder um sich greifen.
4 | Moderne Einsamkeit
Die Morgensonne bricht durchs geöffnete Fenster herein. Eine Frau sitzt allein auf dem Bett und starrt mit leerem Blick hinaus. Draußen ist nur die obere Etage einer Fabrik zu sehen, darüber wölbt sich der blaue Himmel: Das ist Morning Sun, ein Bild des amerikanischen Malers Edward Hopper (1882 bis 1967) von 1952. Wie sehr es dem Maler auf die Haltung der Frau und ihren Gesichtsausdruck ankommt, zeigen die Studien, die er dazu gemacht hat: Sie variieren die Linie des Rückens, den Faltenwurf des Nachtkleids, die Haltung der Hände, die Neigung des Kopfes. Bis der Ausdruck der Verlorenheit gefunden ist, der offenkundig entscheidend ist: Das soll »das Leben« sein!
So hat Hopper die Befindlichkeit von Menschen in moderner Zeit dargestellt: Menschen, die in keiner Beziehung zueinander mehr leben. Menschen, die ihrer Einsamkeit preisgegeben sind. Darüber, dass Hopper der Maler der modernen Einsamkeit ist, haben viele geschrieben; schwieriger zu erklären ist jedoch, woher diese Einsamkeit rührt. Aber sie ist wohl die zwangsläufige Folge des modernen Traums von einer uneingeschränkten Freiheit: Frei von allen einschränkenden Bindungen und Beziehungen zu sein. Eine stets wachsende Zahl von Menschen will diese Freiheit genießen, die der Idee nach glücklich macht. Erst im Laufe der Zeit bemerken sie, wie unglücklich sie werden, da diese Freiheit sie einsam macht.
Auf Hoppers Bildern erscheinen verhärmte Gesichter, die keinen Trost mehr finden können. Menschen, die keinen erkennbaren Lebenszweck mehr haben. Ihre Sinnlosigkeit springt förmlich aus dem Rahmen. Die auf dem Bett ins Leere starrende Frau ist geradezu ein Monument der Hoffnungslosigkeit. Hopper hat lange überlegt, welches Spiel von Licht und Schatten den Eindruck größtmöglicher Kälte vermittelt. Das warme Licht berührt diese menschliche Gestalt nicht. Da ist kein menschlicher Blick, der sie anregen, vielleicht sogar erregen könnte. Es fehlt der modernen Zeit an Wärme, Hopper hat das frühzeitig bemerkt. Die vielen Menschen, die seine Bilder bewundern, etwa bei der ihm gewidmeten Retrospektive 2004 in Köln im Museum Ludwig, legen Zeugnis davon ab, in welchem Maße das zu einer verbreiteten Erfahrung...
| Erscheint lt. Verlag | 17.11.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
| Schlagworte | Achtsamkeit • aktuelles Buch • alltägliche Kuriositäten • awareness • Begleiter durchs Jahr • Bücher Neuerscheinung • Dankbarkeit • den tod überleben • Fragmente • Freude • Fühlen • Gelassenheit • Geschenkbuch • Glück • Glück des Zappens • insel taschenbuch 5134 • Inspiration • IT 5134 • IT5134 • Lebensfülle • Lebenshilfe • Lebenssinn • Lesevergnügen • Meckatzer-Philosophie-Preis 2012 • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung 2013 • Sinne • Wahrnehmung |
| ISBN-10 | 3-458-78467-5 / 3458784675 |
| ISBN-13 | 978-3-458-78467-8 / 9783458784678 |
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