CHRISTOPH EGELER, Jahrgang 1974, wohnt mit seiner Familie in der Nähe von Winterthur, Schweiz. Er ist Grenzgänger zwischen Landes- und Freikirche und schätzt und fördert das Miteinander verschiedener christlicher Kirchen und Traditionen. Von 2015 bis 2024 war er Leiter der VBG (www.vbg.net), der christlichen Studierendenbewegung der deutschsprachigen Schweiz. Er mag gutes Essen, Lesen, Musik und sich in der Natur aufzuhalten - sei es alleine oder mit Familie oder Freunden zusammen.
6. Selbstverleugnung oder Selbstverwirklichung?
Über Jesus-Nachfolge und echte Freiheit
Als ich zum ersten Mal mit Menschen ins Gespräch kam, die sich nach eigener Aussage vom Glauben «befreit» hatten, hat mich das zutiefst irritiert und betroffen gemacht. Ich erlebte den Glauben als erfüllend und konnte mir nicht vorstellen, wie man sich freiwillig davon verabschieden konnte! Die betroffenen Personen erklärten mir, dass sie keinen Glauben (mehr) nötig hätten, der ihnen Halt gebe, sondern dass sie auf eigenen Beinen stehen und ihr Leben meistern könnten und wollten. Oder dass sie sich nicht länger von Gott oder von der Kirche vorschreiben lassen wollten, wie sie zu leben hätten; dass sie den Glauben als eng, einschränkend und kontrollierend erlebt hätten und nun endlich frei und selbstbestimmt leben wollten. Das sind wohl nicht nur Gründe, warum sich einige Menschen vom Glauben verabschieden, sondern auch, warum sich viele Menschen gar nicht erst darauf einlassen wollen. Menschen streben nach Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung – und der Glaube scheint eher ein Gegenprogramm dazu zu sein.
Besonders pointiert scheinen dies die bekannten Jesus-Worte von der Nachfolge, der Selbstverleugnung und dem Kreuz-auf-sich-Nehmen auszudrücken (Lukas 9,23, siehe unten). Ich möchte diese Worte nicht relativieren, geschweige denn ignorieren. Aber ich möchte sie so auslegen, dass sie nicht im Widerspruch dazu stehen, wie ich (und das gilt zum Glück auch für viele andere Menschen) Gott und den christlichen Glauben erlebe: als zutiefst befreiend, lebensspendend und sinnstiftend. Ja, es gab und gibt Glaubensgemeinschaften, in denen davon nicht viel zu spüren ist und wo ich Verständnis habe, wenn sich Menschen davon befreien und verabschieden. Aber ich bin überzeugt, dass ein «selbstbestimmtes» Leben ohne Gott keine Alternative ist und am verheißenen «Leben in Fülle» (Johannes 10,10) vorbei geht. Es gibt aus meiner Sicht also zwei falsche Wege und einen richtigen Weg: Der eine falsche Weg wäre ein Leben ohne Gott oder eine Spiritualität, bei der Gott nicht wirklich etwas zu sagen hat. Ich bezeichne diesen Weg bewusst pointiert und provokativ als «egoistische Selbstverwirklichung». Der andere falsche Weg wäre ein enger, gesetzlich-moralistischer, lebensfeindlicher Glaube. Diesen Weg bezeichne ich als «falsch verstandene Selbstverleugnung». Ich operiere also spielerisch mit den Begriffen Selbstverwirklichung und Selbstverleugnung und zeige anhand dieser beiden Begriffe auf, was denn aus meiner Sicht der richtige Weg wäre, warum der christliche Glaube für mich so befreiend und erfüllend ist und warum ich jedem Menschen wünsche, dies für sich ebenfalls zu entdecken. Was ich mit all dem genau meine und was es damit auf sich hat, erfährst du, wenn du dieses Kapitel liest!
«Wenn jemand mein Jünger sein will, muss er sich selbst verleugnen, sein Kreuz täglich auf sich nehmen und mir nachfolgen» (Lukas 9,23). Diese und andere Jesus-Worte haben viele Menschen zu einer radikalen Nachfolge inspiriert und motiviert, aber vermutlich auch viel Missverständnis und damit Schaden verursacht. Zum Beispiel, dass sie so verstanden wurden, dass man als Christ seine Gefühle und Bedürfnisse nicht ernst nehmen dürfe oder diese verdrängen und aufgeben müsse. Oder dass man sich immer schön zurückhalten solle, anstatt seine Fähigkeiten und Begabungen auszuspielen und damit womöglich groß herauszukommen. Oder dass man nicht zu viel Spaß haben dürfe! Da versteht man Menschen, die davon nichts (mehr) wissen wollen! Da tönt der heute gebräuchliche Begriff der Selbstverwirklichung doch einiges sympathischer: «Selbstverwirklichung bedeutet in der Alltagssprache die möglichst weitgehende Realisierung der eigenen Ziele, Sehnsüchte und Wünsche mit dem übergeordneten Ziel, das eigene Wesen völlig zur Entfaltung zu bringen, sowie – damit verbunden – die möglichst umfassende Ausschöpfung der individuell gegebenen Möglichkeiten und Begabungen.» Dies die Definition laut Wikipedia. Weiter heißt es dort aber auch: «Der Begriff hat für seine konservativen Kritiker einen negativen Beiklang von Egoismus und mangelndem Familiensinn.» Mit den konservativen Kritikern sind wohl unter anderem die Christen gemeint. Je nachdem, wie Selbstverwirklichung definiert und ausgelebt wird, ist diese Kritik wohl nicht unberechtigt: Nämlich dann, wenn der einzelne Mensch mit seinen Wünschen und Bedürfnissen in den totalen Mittelpunkt gestellt wird, sich alles um ihn dreht und die Regeln des Zusammenlebens nur als einschränkend und hindernd gelten. Genauso wie die Selbstverleugnung kann also auch die Selbstverwirklichung einigen Schaden anrichten im Leben von Einzelnen, Familien und Gesellschaften.
Ich glaube, die «Lösung» wäre, Selbstverleugnung und Selbstverwirklichung nicht als Widersprüche zu sehen oder das eine zu Gunsten des anderen abzulehnen, sondern beides christus-gemäß zu verstehen und zu leben.
Was meine ich damit? Wie könnte das aussehen? Ich glaube, es geht nicht um einen Kompromiss oder um einen Mittelweg zwischen Selbstverleugnung und Selbstverwirklich, im Sinne von: ein bisschen von beidem und nichts übertreiben! Sondern: Jesus möchte, dass wir uns entfalten und Freude am Leben haben, aber auch, dass wir ihm unser ganzes Leben unterstellen und es ihm zur Verfügung stellen. Ich gehöre dann nicht mehr mir selbst sondern Christus. Nicht ich, sondern er sitzt auf meinem Lebensthron und soll über all meinen Lebensbereichen herrschen. Das meint Selbstverleugnung - nicht mehr und nicht weniger. Dietrich Bonhoeffer formulierte das in eindrücklichen, radikalen Worten: «Wollen wir ihn (Jesus Christus) haben, dann beansprucht er Entscheidendes über unser ganzes Leben zu sagen. Wir verstehen ihn nicht, wenn wir ihm nur eine Provinz unseres geistigen Lebens einräumen, vielmehr nur dann, wenn wir es an ihm allein orientieren oder ein glattes «Nein» sprechen. Wem es freilich nicht einmal darauf ankommt, Christus ernst zu nehmen in dem Anspruch, den er an uns in seiner Frage stellt: «Willst du ganz oder willst du nicht?», der sollte lieber seine Sache nicht mit der christlichen vermengen, und damit wäre der christlichen Sache nur gedient, denn er hat mit Christus nichts mehr gemein.»
Selbstverleugnung meint, alle unsere Bedürfnisse, Gefühle, Gedanken, Pläne, Ziele, Beziehungen, unsere Arbeit oder Ausbildung, unser Geld und Besitz, unsere Zeit – also alle unsere Lebensbereiche Gott zu unterstellen und ihm zur Verfügung zu stellen. Das degradiert uns nicht zu grauen Mäusen und führt nicht zu einem freudlosen Leben, wie viele vielleicht befürchten könnten, sondern in echte Freiheit - und in ein «Leben in Fülle» (Johannes 10,10). Wir dürfen unsere Gefühle und Bedürfnisse ernst nehmen, sie aber nicht als oberste Leitinstanz nehmen. Und wir dürfen, ja sollen, unsere Begabungen und Talente entfalten, aber damit nicht nur uns selbst dienen, sondern auch Gott und unseren Mitmenschen.
Ich bin überzeugt: Sowohl eine egoistische Selbstverwirklichung als auch eine falsch verstandene Selbstverleugnung machen uns unfrei und unglücklich. Sie hindern uns daran, ein Leben zu leben, welches Gott verherrlicht und unseren Mitmenschen dient. Richtig verstandene Selbstverleugnung hingegen führt zu echter Selbstentfaltung, Freiheit und einem sinnerfüllten Leben, welches Gott ehrt und den Menschen dient. Ich glaube also, es gibt zwei schlechte Lebensentwürfe und einen guten, gesunden. Das möchte ich jetzt noch etwas veranschaulichen und dabei eine Verbindung herstellen zum Gleichnis von den beiden verlorenen Söhnen (Lukas 15,11-32; mehr dazu im Kapitel 15):
Die egoistische Selbstverwirklichung fragt bei allem: «Was bringt es mir?» Sie stellt das eigene Ich in den Mittelpunkt und macht es zum Maß aller Dinge. Das führt zu problematischen Einstellungen wie Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Unverbindlichkeit. Sie geht einher mit einer relativistischen Grundhaltung und mit einer Weltanschauung, die keinen Gott als Autorität über sich haben möchte, sondern höchstens ein bisschen Spiritualität. Im Gleichnis wird dieser Lebensentwurf veranschaulicht mit dem jüngeren Sohn, der vom Vaterhaus wegzieht in ein fremdes Land, wo er selbstbestimmt und in Saus und Braus lebt.
Die falsch verstandene Selbstverleugnung sieht Dinge wie Leiden, Verzicht oder Gesetz als Selbstzweck und als Wege zur (Selbst-) Erlösung. Begabungen, Interessen und Bedürfnisse werden unterdrückt oder verleugnet. Sie führt zu mangelhafter Persönlichkeitsentwicklung und Identität, zu Überangepasstheit oder zu Selbstabwertung. Sie geht einher mit einer moralistischen Grundhaltung und einer gesetzlichen Religiosität, bei der Angst und Pflichterfüllung im Vordergrund stehen. Im Gleichnis wird dieser Lebensentwurf durch den älteren Sohn veranschaulicht, der dem Vater brav gehorcht und dient, weil er sich...
| Erscheint lt. Verlag | 31.10.2024 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
| ISBN-10 | 3-03965-037-8 / 3039650378 |
| ISBN-13 | 978-3-03965-037-8 / 9783039650378 |
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