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Raub und Restitution (eBook)

Die "Aktion 3" und ihre juristischen Konsequenzen nach 1945 in Vlotho und Bad Oeynhausen: Stadtverwaltungen, Finanzämter, Käufer und Geschädigte
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
96 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-5951-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Raub und Restitution -  Thomas Gräfe
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Das Erinnern und Gedenken an die Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 in Vlotho und Bad Oeynhausen wird von vielen engagierten Personen, Vereinen und Initiativen wach gehalten. Doch in der historischen Aufarbeitung der Ereignisse vor Ort gibt es noch viele Lücken zu füllen. Was passierte in Vlotho und Bad Oeynhausen mit dem zurückgelassenen Hausrat deportierter Juden? Und welche juristischen Konsequenzen hatte die Verwertung entzogenen jüdischen Eigentums im Rahmen von Wiedergutmachung und Entnazifizierung? Die Auswertung der Wiedergutmachungsakten der Kommunalarchive Herford und Minden sowie des Landesarchivs Detmold bietet Antworten auf diese heiklen Fragen und erlaubt tiefe Einblicke in die Rechts- und Alltagsgeschichte des Dritten Reiches und der Nachkriegszeit, die oft ernüchternd, selten ermutigend und manchmal unfreiwillig komisch wirken.

Thomas Gräfe ist freier Historiker in Vlotho. Forschungsschwerpunkte Antisemitismus, deutsch-jüdische Geschichte, "Arisierung" und Wiedergutmachung.

Die Arisierungspolitik und ihre Folgen


Beim Stichwort „Arisierung“ denken die meisten Menschen instinktiv an die Jahre 1938 und 1939 sowie an den Übergang jüdischer Unternehmen in „arischen“ Besitz. Tatsächlich stammen die folgenschwersten Arisierungsgesetze aus diesen beiden Jahren und nahmen das einst gutsituierte jüdische Wirtschaftsbürgertum ins Visier. Im November und Dezember 1938 wurden zwei Verordnungen erlassen, die jüdische Bürger verpflichteten, alle Gewerbebetriebe zu schließen, zu verpachten oder zu veräußern, Wertpapiere auf einer Devisenbank zu hinterlegen und bis zum März 1939 Juwelen, Kunstgegenstände und Edelmetalle bei staatlichen Ankaufstellen abzugeben. Nach dem Novemberpogrom 1938 mussten die Juden die Sachschäden selber tragen, und der Staat erlegte ihnen als Sühne für das Attentat auf den Legationssekretär Ernst vom Rath eine „Judenvermögensabgabe“ (JUVA) auf. Daraus erlöste die Staatskasse reichsweit über eine Milliarde Reichsmark, in Westfalen 25,8 Millionen. Doch diese Gesetze waren nur der zwischenzeitliche Höhepunkt einer Raubpolitik, die erst mit der Entwendung des Gepäcks der Deportierten ihren Abschluss fand. Sieht man von korrupten Gauleitungen beispielsweise in Nürnberg und Hamburg ab, wurde der Raub nicht von der NSDAP und ihren Gliederungen durchgeführt. Der Hauptakteur war die staatliche Finanzbürokratie. Was Immobilien und Hausrat angeht, muss man aber auch private Erwerber und die Kommunen im Blick behalten.1

Nicht in juristischer Hinsicht, wohl aber im allgemeinen Sprachgebrauch, in Lexika und in Schulbüchern hat es sich nach 1945 eingebürgert, den Arisierungsbegriff auf die Kampagne gegen jüdische Unternehmen einzuengen.2 Tatsächlich war der Vermögenstransfer viel umfassender und setzte lange vor 1938 ein. Am Anfang standen begrenzte Maßnahmen der indirekten Beraubung, die durch Diskriminierungen den Juden Erwerbschancen entzogen. Im April 1933 erfolgte ein generalstabsmäßig geplanter Boykott jüdischer Geschäfte, und nur wenige Tage später wurden durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums die meisten Juden aus dem Staatsdienst entfernt. Ihre Tätigkeit in den freien Berufen (Journalisten, Ärzte, Rechtsanwälte) wurde stark eingeschränkt. Im September 1935 hoben die Nürnberger Gesetze die rechtliche Gleichstellung auch formal auf. Ausnahmeregelungen, die Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs verschont hatten, entfielen. Die steuerliche Schlechterstellung gegenüber Nichtjuden wurde kontinuierlich verschärft. Die westfälischen Juden, die überwiegend als selbständige Kaufleute tätig waren, traf die schleichende wirtschaftliche und gesellschaftliche Ächtung besonders hart. Da zunehmend Kunden fernblieben oder Rechnungen nicht bezahlten, gerieten sie in Existenznot, mussten ihre Betriebe aufgeben sowie Immobilien und anderes Eigentum unter Wert verkaufen.3 Arisierungsverkäufe standen nicht notwendigerweise im Zusammenhang mit einer Auswanderungsabsicht. Es ging vielmehr darum, Schulden zu begleichen, die sich aus der NS-Diskriminierungspolitik ergeben hatten. In Vlotho und Bad Oeynhausen wechselten einige Grundstücke, Gebäude und Betriebe im Rahmen von Zwangsversteigerungen den Besitzer. Die gesetzlich vorgeschriebene Vermögenserhebung von 1938 dokumentiert die hohe Schuldenlast, die von den zumeist älteren noch nicht ausgewanderten Personen nur durch Verkäufe von Eigentum abgetragen werden konnte. Besonders dramatisch war die Lage in Bad Oeynhausen. Der Schuldenstand gemessen am Bar- und Grundvermögen betrug 23 Prozent. Die vorhandenen liquiden Mittel überstiegen nur knapp die Verbindlichkeiten. Die Arisierung von Betriebsvermögen war fast abgeschlossen, denn es wurden nur noch 42.777,99 Reichsmark in dieser Sparte verzeichnet. Viele Oeynhausener Juden hatten ihre Erwerbstätigkeit an den Kurbetrieb angepasst, doch mit jüdischen Kurgästen in nennenswerter Anzahl war nicht mehr zu rechnen. In Vlotho bestanden mehr Reserven, von denen man eine Weile zehren konnte. Die Familien Heynemann, Loeb und Rüdenberg verfügten über ein hohes Barvermögen. Das Betriebsvermögen belief sich noch auf über 600.000 Reichsmark, während weniger Grundvermögen verblieben war als in Bad Oeynhausen.4 (Tab.1)

Der Verkauf von Grundbesitz verschaffte kein Startkapital für einen Neuanfang im Ausland. Wer sich um ein Visum bemühte, musste Verkaufserlöse auf Sperrkonten einzahlen. Seit Anfang 1937 hatten die Devisenstellen der Finanzämter die uneingeschränkte Möglichkeit, jüdisches Vermögen zu überwachen und zu bewirtschaften. Die Betroffenen erhielten nur monatliche Auszahlungen in geringer Höhe für den Lebensunterhalt. Der Rest wurde durch JUVA, Reichsfluchtsteuer und Abgaben an die Deutsche Golddiskontbank abgeschöpft. Von einem Vermögen über 5.000 Reichsmark mussten 20 Prozent als JUVA gezahlt werden. Über die Reichsfluchtsteuer kassierte der Fiskus 25 Prozent ab einem Vermögen von 50.000 Reichsmark und erlöste auf diese Weise insgesamt 941 Millionen Reichsmark. Wegen der Devisenbewirtschaftung mussten Auswanderer Reichsmarkbeträge gegen gigantische Abschläge in ausländische Währungen tauschen. Bereits 1935 lagen das Disagio bei 65 Prozent und der Gesamtverlust durch einen Devisentransfer bei 80 Prozent. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass bei einer Auswanderung aufgrund der hohen Frachtkosten und strengen Ausfuhrbestimmungen kaum Hausrat mitgenommen werden konnte. Er ging entweder in den Besitz der zurückgebliebenen Verwandten über oder wurde vor der Ausreise privat verkauft oder verschenkt. Wertvolle Stücke gingen an Auktions- und Pfandhäuser.5 Von Arisierungen profitierten die Erwerber und der Fiskus. Die noch heute zu hörende Behauptung, man habe mit Käufen Juden Kapital zur Auswanderung verschaffen können, trifft weder für Immobilien noch für Mobilien zu. Falsch ist aber auch die Annahme, dass die nichtjüdischen Zeitgenossen mit den fiskalischen Beraubungspraktiken im Detail vertraut waren und die Konsequenzen ihres Handelns voll durchschauten. Es herrschten eher ökonomische Mitnahmeeffekte und ein indifferentes „nicht wissen wollen“ vor als eine Schädigungsabsicht aus antisemitischer Mentalität.

Meldung jüdischer Vermögensverhältnisse an das Reichswirtschaftsministerium 1938

Stadt erfasste
Personen
Grundvermögen Barvermögen Verbindlichkeiten Nettovermögen
(ohne
Betriebsvermögen)
Vlotho 23 229.118,25 264.595,51 86.725,91 406.987,85
Bad
Oeynhausen
18 (21)6 342.971,15 123.436,85 108.827,57 363.727,24

Tab.1: Erstellt nach M1 IP 1542, Landesarchiv Detmold

Die massenhaften Zwangsverkäufe jüdischen Eigentums ließen die Immobilienpreise abstürzen, was auch nichtjüdische Eigentümer traf und zu Einnahmeausfällen bei der Grunderwerbssteuer führte. Deshalb steuerte der Staat mit einer Ausgleichsabgabe und einem Genehmigungsverfahren dagegen. Hermann Göring bestimmte in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan, dass die Arisierung von Betrieben Vorrang habe und die Übereignung des Hausbesitzes „an das Ende der Gesamtarisierung zu stellen“ sei. Dies sei so zu gestalten, dass den Juden einzelne Häuser verblieben, in denen sie zusammengelegt würden.7 Darauf wirkte ab April 1939 die Lockerung des Mieterschutzes hin. Nichtjüdische Vermieter wurden berechtigt, jüdischen Mietern mit der Begründung zu kündigen, dass eine Hausgemeinschaft mit „deutschen Volksgenossen“ dem nationalsozialistischen Rechtsempfinden widerspräche. Jüdische Haus- und Wohnungsbesitzer konnten gezwungen werden, Glaubensgenossen als Untermieter aufzunehmen. Die Zusammenfassung aller Juden in sogenannten „Judenhäusern“ erfolgte schrittweise zwischen 1939 und 1942. Als sich die Wohnungsnot durch Luftangriffe in den Städten und Einquartierungen auf dem Land verschärfte, wurden immer mehr Juden auf immer engerem Raum zusammengepfercht. Die Verlegung in „Judenhäuser“ begann in Vlotho Ende 1940 und in Bad Oeynhausen Mitte 1941. Die übrigen Häuser und Wohnungen mussten an die jeweilige Stadt zwangsverkauft werden. Spätestens jetzt standen die Vlothoer und Oeynhausener Juden vor der Frage, was aus ihrem mobilen Eigentum werden sollte, denn in die „Judenhäuser“ konnten sie aufgrund der beengten Wohnverhältnisse nur wenige Möbel und Einrichtungsgegenstände mitnehmen. Vieles wurde an Nachbarn verkauft oder verschenkt. Wer zur Deportation vorgesehen war, durfte seinen Hausrat nicht mehr privat veräußern, da die Beschlagnahmung rückwirkend zum 15.10.1941 erfolgte.

1 Zur Rolle der Kommunen: Frank...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Aktion 3 • Arisierung • Bad Oeynhausen • Vlotho • Wiedergutmachung
ISBN-10 3-7693-5951-8 / 3769359518
ISBN-13 978-3-7693-5951-0 / 9783769359510
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