Nie gefragt - nie erzählt (eBook)
272 Seiten
Societäts-Verlag
978-3-95542-519-7 (ISBN)
Hans Riebsamen war mehr als 30 Jahre lang Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und hat sich in vielen Artikeln mit jüdischem Leben beschäftigt.
Hans Riebsamen war mehr als 30 Jahre lang Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und hat sich in vielen Artikeln mit jüdischem Leben beschäftigt.
Porträt
Rafael Herlich
1954 in Israel geboren. Dokumentiert seit 1975 als Fotograf das jüdische Leben in Deutschland.
Rafael Herlich mit dem Foto seiner Großeltern.
Bis zu jenem Anruf hat Rafael Herlich nicht im Geringsten geahnt, dass er einmal einen Halbbruder in die Arme schließen würde. Ob sie einen Emanuel Herlich kenne, der in Offenbach wohne oder gewohnt habe, hatte der Mann Rafael Herlichs Frau am Telefon gefragt. »Das ist doch der Vater meines Mannes«, lautete deren verblüffte Antwort. Rafael Herlich ist danach sofort ins Auto gestiegen und nach Essen zu seinem ihm bis dahin unbekannten Halbbruder Pierre gefahren. »Ich sah mich in ihm wie in einem Spiegel«, erinnert er sich an die erste Begegnung.
Heute empfindet er Pierre nicht mehr als einen Halbbruder, sondern als einen echten Bruder. Immer am Todestag ihres Vaters nimmt Pierre die Fahrt von Essen nach Frankfurt auf sich, damit sie beide zusammen am Grab eine Kerze anzünden können. Sie feiern zusammen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, und Pierre kommt häufig zur Eröffnung einer der vielen Fotoausstellungen, die Rafael Herlich in Schulen, Kirchengemeinden und vor kurzem sogar im Europäischen Parlament in Brüssel ausgerichtet hat.
Mehr als 40 Jahre lang hatte der Halbbruder Pierre den Mann seiner Mutter für seinen leiblichen Vater gehalten. Doch eine Blutprobe, abgenommen vor einer Operation, entlarvte diesen Glauben als Irrtum. »Wer ist mein Vater?«, wollte er nun von seiner Mutter wissen. Die konnte und mochte das ein halbes Leben lang gehütete Familiengeheimnis nicht länger bewahren. Ja, der »Vater« sei nicht sein wirklicher Vater, eröffnete sie ihrem Sohn. Ein Emanuel Herlich aus Offenbach habe ihn gezeugt, doch er habe sie und das Kind verlassen. Pierre durchmusterte daraufhin alle Telefonbücher für die Rhein-Main-Region und rief alle Teilnehmer mit dem Namen Herlich an. So fand er Rafael Herlich.
Die Geschichte, die sein Halbbruder Pierre ihm erzählte, kam Rafael Herlich bekannt vor. Denn auch ihn und seine Mutter hatte Emanuel Herlich allein gelassen. Bald nach der Geburt seines ersten Sohns Rafael in Israel setzte er sich ins Ausland ab. In einem letzten Anruf aus der Schweiz schlug er der Mutter vor, doch dorthin zu kommen. Sie lehnte ab.
Der Bruch der Familie hat auch sie zerbrochen, nie kam die Mutter mehr ganz auf die Beine, nie fand sie sich im Leben mehr richtig zurecht. Abwechselnd lebten sie und ihr Sohn Rafael bei den Familien ihrer Brüder an verschiedenen Orten in Israel. »Immer waren wir nur Gast«, sagt Rafael Herlich über seine Jugend.
Damals in Essen, als Rafael Herlich seinem Halbbruder zum ersten Mal begegnet ist, drängte sich beiden unabwendbar die Frage auf: »Warum lässt ein Mann ein Baby allein?« Und das nicht nur einmal, sondern zweimal. Mittlerweile haben die Söhne von Emanuel Herlich zueinandergefunden: »Wir sind jetzt eine Familie«, sagt Rafael Herlich.
Nach langwierigen und durchaus schmerzhaften Recherchen in Familie und Verwandtschaft glaubt er, eine Antwort auf das Verhalten seines Vaters gefunden zu haben. Sie lautet: Holocaust. »Mein Vater ist nicht Holocaust-Überlebender, er ist immer im Holocaust geblieben«, sagt der Sohn.
Emanuel Herlich zählt zu jenen NS-Verfolgten, die nie über ihr Schicksal sprechen konnten – nicht einmal mit ihren Kindern. Das Phänomen ist bekannt. Viele Überlebende von Konzentrationslagern plagten Schuldgefühle darüber, dass sie mit dem Leben davongekommen waren, während Millionen andere sterben mussten. Sie schämten sich dafür, dass sie von ihren Peinigern so erniedrigt wurden. Und viele wollten einfach nicht ihre Kinder mit ihrem schrecklichen Schicksal belasten. So ist es zum Beispiel dem 2012 verstorbenen Historiker Arno Lustiger ergangen, der seinen Kindern erzählte, die Häftlingsnummer auf seinem Arm sei eine Telefonnummer. Lustiger hat sich der niederdrückenden Last der Vergangenheit dadurch entledigen können, dass er irgendwann von seinen Erlebnissen öffentlich erzählte.
Sein Leidensgenosse Emanuel Herlich, der in Frankfurt einen Textilgroßhandel betrieb, verharrte dagegen sein Leben lang im Schweigen. Auch gegenüber seinem Sohn Rafael, der mit 18 Jahren von Israel nach Deutschland gekommen war, um den mittlerweile in Offenbach lebenden Vater zu treffen. Sein Leidensweg durch Arbeits- und Konzentrationslager war für Emanuel Herlich ein Tabuthema, er hat die Vergangenheit, seine ganzen Erinnerungen in sich hineingefressen.
Nur zwei Geschichten aus der Lagerzeit habe sein Vater preisgegeben, erinnert sich sein Sohn Rafael. Jene vom Apfelbaum und jene von der Flucht aus dem Zug. Der Apfelbaum trug reiche Früchte, Emanuel Herlich und seine ausgehungerten Mithäftlinge hätten sich nur zu gern den Magen vollgeschlagen. »Du darfst dir Äpfel nehmen«, ermunterte ein SS-Mann den Vater – doch dessen Instinkt warnte ihn. Ein anderer Häftling nahm die Einladung an und ging zum Baum – und der SS-Mann schoss ihm in den Rücken. Weil er die »Flucht« eines Häftlings vereitelt hatte, bekam er sogar eine Woche Urlaub.
Der Zug wiederum sollte Emanuel Herlich und seinen Zwillingsbruder Manuel in ein neues Lager tragen. Sie waren gewarnt worden, dass ein gewisser Doktor Mengele sich sehr für Zwillinge interessiere und laufend neue Geschwisterpaare für seine Versuche brauche. Nur die Flucht könne ihn retten, glaubte Emanuel Herlich und sprang vom fahrenden Zug. Die Wachleute verfolgten ihn. Der im Waggon zurückgebliebene Manuel hörte die Schüsse und glaubte seinen Bruder tot. Erst viele Jahre später, Emanuel Herlich lebte schon in Offenbach, haben sich die Zwillinge schließlich per Zufall wiedergefunden.
Ein einziges Mal, bei einem Besuch in seiner Heimatstadt Lodz lange nach Kriegsende, hat Emanuel Herlich öffentlich über seinen Leidensweg durch ein halbes Dutzend Ghettos und Lager gesprochen. Dem Reporter einer polnischen Zeitung stand er Rede und Antwort. Wahrscheinlich fiel es ihm leichter, einem Fremden seine Erinnerungen anzuvertrauen als seinem Sohn. Mit eigenen Augen, so sagte er dem Reporter, habe er mitansehen müssen, wie seine Frau und sein kleines Kind ermordet worden seien.
Im Ghetto in Lodz sollte er hingerichtet werden, weil er ein paar Kartoffeln gestohlen hatte. Ein Bekannter setzte seinen Namen auf die Liste der Bewohner, die an einer Seuche verstorben waren, Emanuel Herlich überlebte mit dem Namen eines anderen. Bei der Selektion auf der Rampe in Auschwitz war er der Gruppe der Todgeweihten zugeteilt worden, die sofort vergast werden sollten. Einem selektierenden Arzt zeigte Emanuel Herlich daraufhin seine starken Muskeln, deshalb schob ihn der Mann im weißen Kittel auf die andere Seite.
Sein Überlebenskampf in den Lagern, die Auslöschung eines Dutzend Familienmitglieder in der Shoa, besonders aber die Ermordung von Frau und Kind: Diese schrecklichen Geschehnisse scheinen Emanuel Herlich ein Leben lang verfolgt und sein Handeln in gewisser Weise zwanghaft bestimmt zu haben. Seine Frau in Israel etwa, Rafael Herlichs Mutter, war – wohl kein Zufall – das Ebenbild seiner im KZ ermordeten Frau. Seinem israelischen Sohn gab er den Namen seines ebenfalls ermordeten Vaters.
Der verlassene Sohn Rafael hat als junger Mann dann doch noch zum Vater gefunden. Mehrmals besuchte er ihn in Deutschland, schließlich siedelte er nach Frankfurt über. Als Jugendlicher lautete für ihn die wichtigste Frage: »Warum ist mein Vater nicht zu meiner Bar Mitzwa gekommen?« Also zu jenem Fest, das für jüdische Jungen das wichtigste im Leben ist. Nie hat er eine Antwort bekommen. Als sein Vater im Jahr 2000 starb, stand Rafael Herlich vor seinem Grab und musste sich eingestehen: »Ich habe diesen Mann nicht gekannt.« Emanuel Herlich hat seinen Sohn nie in den Kindergarten gebracht, er hat ihm nie bei den Schularbeiten geholfen, stand ihm nie zur Seite, wenn er krank war. Es gibt nicht einmal ein Foto von ihm mit dem Vater und der Mutter.
»Wer bist du, Vater?«, fragt sich Rafael Herlich bis heute. Emanuel Herlich hat zwar zwei Frauen und Kinder sitzen lassen, doch er hatte durchaus auch seine guten Seiten. Er habe anderen geholfen, soweit es in seiner Macht gestanden habe, erinnert sich der Sohn. Vor allem engagierte er sich bei der Beerdigung von Juden. »Meine Familie hat kein Grab«, pflegte er zu sagen. Heute ist sein Sohn überzeugt: »Mein Vater hat mich geliebt auf eine Art, die ich nicht verstanden habe.«
Von einer Cousine erhielt Rafael Herlich auf seiner Suche nach dem Wesen seines Vaters die Information, dass sein Vater einst eine Frau und ein Kind gehabt habe und dass diese im Holocaust vor seinen Augen erschossen worden seien. Zwei Schwestern des Vaters haben damals das Morden überlebt, sie leben heute in Israel. Dorthin haben sie ein Foto mitgenommen, das Rafael Herlichs Großeltern zeigt, die er nie gesehen und die von den Nazis umgebracht worden sind. Dieses Bild hing in der Offenbacher Wohnung des Vaters, sein Sohn sah es, als er diesen zum ersten Mal in Deutschland besuchte. »Schau, Rafael«, sagte sein Vater, »dein Großvater sieht aus wie du.« Dieses Bild begleitet Rafael Herlich seither bei seiner Arbeit. Seine Großeltern haben kein Grab, es gibt für ihren Enkel kein Ort des Gedenkens an sie. Nur dieses Foto.
Vielleicht ist Rafael Herlich deshalb in Deutschland Fotograf geworden. Ein bekannter Fotograf, dessen Fotos vom jüdischen Leben in Deutschland in vielen Ausstellungen gezeigt werden. »Weiterleben – Weitergeben« hat er sein 2009 erschienenes Fotobuch betitelt. Es beginnt mit der schwarzweißen Fotografie der Großeltern, ebenjenem Bild, das viele Jahre im Wohnzimmer...
| Erscheint lt. Verlag | 27.9.2024 |
|---|---|
| Illustrationen | Rafael Herlich |
| Verlagsort | Frankfurt |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
| Schlagworte | Adi Josepovici • Anita Schwarz • Aviva Goldschmidt • Barbara isicky-Ehrlich • Basia Szlomowicz • Benjamin Graumann • Daniela Sobol • Daniel Korn • Daniel Neumann • Eva Szepesi • Fiszel Ajnwojner • Gabor Perl • Georg Levi • Gil Sobol • Harry Schnabel • Holocaust • Jackie Trost • Jerome Katz • Judentum • Manfred de Vries • Melem • Micha Simonsohn • Michel Bergmann • MICHEL FRIEDMAN • Nathalie Friedlender • Nicole Faktor • Pava Raibstein • Rachel Heuberger • Roman Zurek • Ron Jost • Schoa • Siegmund Freund • Szanckower • Tobias Händler • Wrobel |
| ISBN-10 | 3-95542-519-3 / 3955425193 |
| ISBN-13 | 978-3-95542-519-7 / 9783955425197 |
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