Hitler übersetzen (eBook)
144 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0759-5 (ISBN)
»Hitler zu übersetzen, bedeutet auch, sich gegen seine zeitgenössischen Epigonen zu wappnen.« Olivier Mannoni
»Hitler ist tot, sein Werk des Hasses voll glühender Schwärze ist geblieben.« Es gibt nur wenige Menschen, die so tief in die Abgründe nationalsozialistischer Rhetorik geblickt haben wie Olivier Mannoni.
Zehn Jahre lang übersetzte Mannoni Hitlers »Mein Kampf« für eine kritisch-wissenschaftliche Edition ins Französische. Das Werk, mit dem Hitler seine antisemitischen Thesen und nationalsozialistische Weltanschauung auf über 700 Seiten in eine für den Normalbürger kaum zugängliche Prosa ergoss und sie dennoch »salonfähig« machte. 12 Millionen Exemplare werden bis 1945 im Umlauf sein.
Was macht es mit einem Menschen, sich jahrelang in die Tiefen von Hitlers Sprache zu versenken?
»?Mein Kampf? zu übersetzen, bedeutete, ungeahnte Türen zu öffnen. In keinem Text zuvor kam Hass in dieser Dichte und mit solch einer Gewalt zum Ausdruck, dieses von Peter Sloterdijk beschriebene brodelnde, bösartige und verderbliche Ressentiment: eine Art Bank, bei der man ? wie bei spekulativen Geldanlagen ?, alle Wut und Frustrationen anspart, um sie, sobald der Tag gekommen ist, zu nutzen und den größtmöglichen Gewinn daraus zu ziehen.«
Angesichts einer politischen Realität, in der rechtspopulistische Parteien Regierungen stellen, demagogische Reden ein Revival erleben und nationalsozialistisches Vokabular in unseren Alltag zurückkehrt, warnt uns Olivier Mannoni vor der Wirkmacht sprachlich irreführender Überfrachtungen und dem damit einhergehenden suggestiven Kalkül.
Ein Essay von erschreckender Aktualität.
<p>OLIVIER MANNONI, geboren 1960 in Tours, gehört zu den renommiertesten Übersetzern aus dem Deutschen ins Französische. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen Franz Kafka, Sigmund Freud, Martin Suter, Stefan Zweig, Maxim Leo, Peter Sloterdijk und Byung-Chul Han. Zudem hat er zahlreiche Werke zum Nationalsozialismus übersetzt, darunter Ernst Klees »Deutsche Medizin im Dritten Reich« (»La Médecine nazie et ses victimes«) und Joachim Fests »Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli« (»La Résistance allemande à Hitler«). Er selbst verfasste Biografien über Günter Grass und Manès Sperber.</p><p>»Hitler übersetzen« (»Traduire Hitler«) war 2022 für den Prix Femina nominiert und gewann 2023 den Charles-Oulmont-Preis. Sein Buch »Coulée brune. Comment le fascisme inonde notre langue« (Brauner Schlamm. Wie der Faschismus unsere Sprache überschwemmt) erschien 2024.</p><p>Mannoni lebt in den Pyrenäen.</p>
Eins
Die braune Brühe
Von der braunen Brühe, die mich bis zu Mein Kampf gespült hat, kenne ich zumindest eine Quelle mit Sicherheit: ein kleines Büchlein, das mir wohl aufgrund seines Formats unter all den anderen doppelt so großen und breiten Bänden aufgefallen war. Der kurze erläuternde Text von Louis Saurel, Ende der 1960er-Jahre unter dem schlichten Titel Les Camps de la mort (dt. Die Todeslager) erschienen, war mit Fotos illustriert, die ich zum damaligen Zeitpunkt nicht zu deuten wusste: Sie zeigten ausgemergelte Menschen, Leichenberge, leere Augenhöhlen – die mittlerweile bekannte Ikonografie der Nazi-Hölle. Doch was sich meiner Erinnerung eingebrannt hat, ist ein Blick, der Blick eines Mannes, der unter seinem zerrissenen gestreiften Häftlingsanzug und der gestreiften Mütze nur noch Haut und Knochen war. Ein Blick, aus dem die nackte Angst sprach, schwach aufflackernde Wut und ein unmerklicher Hauch von Hoffnung. Die bei der Befreiung der Lager entstandenen Aufnahmen waren oft die letzten jener Frauen und Männer, die bis zu diesem Zeitpunkt durchgehalten hatten, aber gleich danach zu Tausenden starben, weil ihr Organismus am Ende war oder nicht mehr in der Lage, wieder Nahrung zu sich zu nehmen.
Deutsch zu beherrschen – eine Sprache, die ich in einer Familie von Germanisten bereits im Alter von fünf oder sechs lernte –, bedeutete, sich früher oder später, frei- oder unfreiwillig mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Da waren die Bücher in der Bibliothek – Mein Kampf zählte nicht dazu – oder die Spiegel-Ausgaben, die sich auf einem Wohnzimmerstuhl meiner Eltern stapelten und in den 1970er-Jahren regelmäßig mit historischen Titelfotos aufwarteten, die mit einem Adler bekrönte schwarze Mützen zeigten: der Führer mit seinen Getreuen bei der letzten Lagebesprechung; ein Hakenkreuz vor dem überdimensionalen Kürzel NPD; Hitler als Säugling nebst einer Analyse seines Stammbaums; ein Hakenkreuz, das über der Landkarte der Tschechoslowakei neben Hammer und Sichel erschien; Willy Brandts Kniefall am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos im Dezember 1970.[2] Auch wenn diese Bilder in mir damals kaum mehr als eine Frage aufwarfen, auch wenn mich die ersten freizügigeren Spiegel-Titel der 1970er-Jahre stärker beeindruckten,[3] kann ich sie heute doch nicht wieder anschauen, ohne ein Stück des zurückgelegten Weges umgekehrt zu gehen: Man konnte Deutschland nicht beobachten, ohne auch das zu beobachten. Auch oder vor allem das? So lautete die zentrale Frage.
In Wirklichkeit war der Weg schon vorgezeichnet, und jeder einzelne Schritt meines beruflichen Werdegangs war nur eine weitere Bestätigung.
Mein erster richtiger Kontakt zum Übersetzen kam über einen bedeutenden Maler und Zeichner zustande, eine Ikone der Vornazizeit, die noch vor der Machtergreifung Hitlers und seiner Clique geflohen war: George Grosz, ein Künstler mit spitzer Feder und ätzendem Blick, ein überzeugter Verächter alles Bürgerlichen und Antimilitarist. Er hatte rasch begriffen, wes Geistes Kind die Nazis waren, und Deutschland 1932 gegen New York eingetauscht, wo seine malende Wut allmählich erlosch. Er hatte jedoch ein starkes, verstörendes Werk hinterlassen, das mit seinen Monokel tragenden Gestalten, seinen Szenen der Gewalt und dem in den Augen seiner Figuren lodernden Hass nicht nur die Kriegshetze und das reine Gewissen der deutschen Bourgeoisie anprangerte, sondern gleichzeitig schon das nationalsozialistische Grauen vorwegnahm.
Die nächste Etappe führte mich nach Hamburg und stürzte mich buchstäblich in die Flammen der Hölle. Jean-Etienne Cohen-Séat, damals Verleger bei Hachette livre, hatte mir meine erste »große« Übersetzung anvertraut: Die Bertinis von Ralph Giordano, die Geschichte einer jüdischen Familie – der des Autors –, die in einem Hamburger Keller den Krieg überlebt hatte und erst dann wieder daraus hervorkam, als die Engländer die Stadt in ein Flammenmeer verwandelt hatten. Nach ihrer Befreiung hatten sie ein irrwitziges Freudengeheul ausgestoßen, gleichzeitig aber entdecken müssen, dass nach dem endlosen Aufenthalt in der Finsternis Zombies aus ihnen geworden waren.
Noch heute bin ich außerstande zu sagen, in welchem Zustand man aus einer Übersetzung wie dieser hervorgeht. Ja, hatte ich mir die Frage überhaupt gestellt? Ich hatte nachts daran gesessen, während meines Wehrdienstes. Sie ermöglichte mir, in intellektueller wie materieller Hinsicht zu überleben, aber ich hatte bei den äußerst brutalen Szenen, die Giordano akribisch beschrieb, nicht so eingehend in die Tiefe gehen können, wie ich es gewollt hätte – das extreme Zusammengepferchtsein, die ständige Angst, entdeckt zu werden, der unbändige Überlebenswille. Drei Bilder stellten sich seither immer wieder ein: das glühende Licht, das auf dieser der Vorhölle entkommenen Familie lag; das Glücksgeschrei, das durch die zur Feuersglut gewordene Stadt hallte; und die Haare der etwa vierzigjährigen Mutter, die weiß geworden waren wie die einer Todgeweihten. Etwas später sollte mir Ralph Giordano wiederbegegnen: Als Autor des provokativen Buchs Die zweite Schuld (1987) reihte er sich in die kontroversen Debatten ein, die in Deutschland zur Nazivergangenheit ausbrachen, angefangen bei Ernst Noltes Der europäische Bürgerkrieg (1987), das den sogenannten Historikerstreit einläutete, bis hin zu Günter Grass’ Ein weites Feld (1995) und den diversen Skandalen, die sein turbulenter Verfasser nach der Wiedervereinigung auslöste.
Der Rest ähnelte den Gliedern einer großen Kette. 1989 bot mir der Verleger Abel Gerschenfeld die Übersetzung einer ethologischen Studie zu den äthiopischen Mantelpavianen[4] an. Da der Autor sein Manuskript noch nicht ganz abgeschlossen hatte, schlug mir Gerschenfeld vor, mich bis zur Fertigstellung des später im Übrigen durchweg bemerkenswerten Textes mit einer anderen primitiven Spezies zu befassen: mit den Ärzten des Dritten Reichs, die vor und während des Zweiten Weltkriegs sämtliche Grenzen der Moral, der Deontologie und des Grauens überschritten hatten. Die in den Recherchen von Ernst Klee angeführten Tatsachen waren monströs. Noch schlimmer aber lasen sich die Interviews mit den ehemaligen Assistenten der »Naziärzte«, die, inzwischen selbst hohe Tiere und anerkannte Mediziner, keinen Moment lang die damals begangenen Taten leugneten und schworen, zum Wohle der Menschheit gehandelt zu haben.[5]
Im Laufe der darauffolgenden zwanzig Jahre eröffnete mir mein Beruf, das Übersetzen, einen breiten Einblick in alle Facetten des Nationalsozialismus. Ich erforschte seine Quellen mit Helmut Berdings Buch über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland,[6] entdeckte die manipulativen Methoden in Der schöne Schein des Dritten Reiches, wo der Verfasser, Peter Reichel, zeigt, wie sich die Deutschen, meist aus vollem Herzen, durch die famose Ästhetik- und Unterhaltungsmaschine von Hitler, Goebbels, Baldur von Schirach oder Robert Ley verführen ließen. Ich lernte unter anderem, wie schnell Goebbels beschlossen hatte, die überwiegende Mehrheit der Radioansprachen und Filme einer Unterhaltungskultur zu opfern, die darauf abzielte, das deutsche »Volk« von den Schwierigkeiten, in denen es steckte und die ihm erst recht noch bevorstanden, abzulenken.
Ich übersetzte die Geschichte Claus Schenk Graf von Stauffenbergs[7] sowie die erschreckenden Abschriften und Auswertungen haarsträubend zynischer Abhörprotokolle von deutschen Soldaten in Gefangenschaft, die nichts von den Aufnahmen wussten.[8] Ich übersetzte Die Ordnung des Terrors, eine soziologische Analyse der Konzentrationslager, ihre abgebrühte, ebenso systematische wie unerbittliche Organisation, und die »Gesellschaft«, die die Nazis dort errichtet hatten.[9] Und ich übersetzte das Grauen, wahrscheinlich die heftigste Erfahrung meiner beruflichen Laufbahn überhaupt: das fünfhundertseitige Werk Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer von Ernst Klee, eine akribische systematische Bestandsaufnahme all der fürchterlichen und unmenschlichen Experimente, die das medizinische Personal der SS und manchmal auch der Wehrmacht an den in ihrer Verantwortung stehenden Gefangenen oder Lagerinsassen durchführte. Ein riesiges Labor der menschlichen Vivisektion, wo den »Patienten« absichtlich Giftstoffe geimpft wurden, um ihre Reaktionen zu protokollieren; wo Körper stundenlang in eiskaltes Wasser getaucht wurden, um festzustellen, welche Überlebenschancen ein in die Ostsee abgestürzter Flieger bis zum Herzstillstand hatte. Und es gab eine Sonderabteilung für Kindermedizin. Dort lernte ich das Wort »Trokar«, ein Instrument, mit dem den Opfern bei lebendigem Leib Stücke der Leber entnommen wurden. Beim Übersetzen dieser Zeilen weinte ich vor Scham und Wut. Ich erschauere immer noch, aber nicht mehr vor Grauen, nicht mehr vor Ekel, sondern vor Fassungslosigkeit angesichts dessen, zu dem die Menschheit nach wie vor fähig ist. Ernst Klee, ein bedeutender...
| Erscheint lt. Verlag | 25.2.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Nicola Denis |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Traduire Hitler |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 | |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | 2025 • Adolf Hitler • AfD • Antisemitismus • Die Sprache am rechten Rand • Die Tagesordnung • Drittes Reich • Essay • faschistische Propaganda • Französiche Linke • französische Übersetzung Mein Kampf • Geschichte des Nationalsozialismus • Hitler • Hitler. Eine Karriere (Joachim C. Fest) • Hitler Interviews • Hitlerzeit • Ideologie • Jean-Luc Mélenchon • Joseph Goebbels • Literaturkritik • LTI (Victor Klemperer) • manipulation der massen • Marine Le Pen • Medien und Propaganda • Mein Kampf • Mein Kampf. Die Karriere eines deutschens Buches • Mein Kampf (Hitler) • Nationalismus Deutschland • Nationalismus Frankreich • Nationalsozialistische Propaganda • nationalsozialistische Rhetorik • Neuerscheinung • NSDAP • Propaganda • Rassemblement National • Rechtspopulismus • Rechtspopulistische Rhetorik • Rezeption • Rezeptionsgeschichte mein Kampf • Sachbuch • Sprache des Faschismus • Sprache des Nationalsozialismus • Sprache Drittes Reich • Sprache Hitler • Übersetzung • Übersetzung Mein Kampf • Was Populisten wollen • Wiederkehr Nationalsozialismus • Zensur • Zweiter Weltkrieg |
| ISBN-10 | 3-7499-0759-5 / 3749907595 |
| ISBN-13 | 978-3-7499-0759-5 / 9783749907595 |
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