Prekäres Glück (eBook)
470 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77792-3 (ISBN)
»Peter Gordons souverän zugreifende und zugleich beharrlich subtile Interpretation bringt einen neuen Ton in die Debatte über Adornos Negativismus. Im Gespräch mit Adornos Vorlesungen zeigt er, wie die negative Dialektik dem Ausbuchstabieren eines ?richtigen? Lebens dienen soll, das sich dem direkten Zugriff von Aussagen über das ?gute Leben? entzieht.« Jürgen Habermas
Mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod ist immer noch höchst umstritten, worin das Vermächtnis Theodor W. Adornos besteht. Viele sehen in ihm den Philosophen der kompromisslosen Negativität, der gnostischen Finsternis, auch der allumfassenden, maßstabslosen Kritik. Selbst in der breiteren Öffentlichkeit hat sich das Bild vom Denker der totalisierenden Verzweiflung, des »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« verfestigt - bis zum Klischee.
Der Historiker und Philosoph Peter E. Gordon stellt dieses Bild entschieden in Frage. Adorno, so argumentiert er, ist vielmehr als ein Theoretiker zu verstehen, dessen Praxis der Kritik sich an einer unrealisierten Norm des menschlichen Gedeihens orientiert - des prekären Glücks in einer radikal unvollkommenen Welt. Diese Norm weist Gordon als das einigende Thema aus, das Adornos gesamtes Werk durchzieht, seine soziologischen Schriften ebenso wie seine Moralphilosophie, Metaphysik und Ästhetik. Prekäres Glück ist selbst ein Glücksfall: eine faszinierende Interpretation von Adornos Vermächtnis, das nun in einem völlig neuen Licht erscheint und als unverzichtbare Ressource für die kritische Theorie von heute.
Peter E. Gordon, geboren 1966, ist Amabel B. James Professor of History an der Harvard University und zugleich Mitglied des dortigen Instituts für Philosophie. Er forscht zur Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere zum philosophischen Denken in Deutschland und Frankreich, und gilt als international herausragender Kenner der Frankfurter Schule. Seine bisherigen Bücher, die sich u. a. mit Franz Rosenzweig, Martin Heidegger, Ernst Cassirer sowie Theodor W. Adorno und ihrer Zeit beschäftigen, wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: dem Salo W. Baron Preis, dem Goldstein-Goren-Preis, dem Morris D. Forkosch Preis und dem Jacques Barzun Preis der American Philosophical Society. Mit <em>Prekäres Glück</em> liegt nun sein erstes Buch in deutscher Sprache vor.
9Vorwort. Adornos Erbe
Der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Theodor Wiesengrund Adorno starb im Spätsommer des Jahres 1969, also vor mittlerweile über einem halben Jahrhundert. An heutigen Maßstäben gemessen, war sein Leben nicht sehr lang – seinen 66. Geburtstag hat er schon nicht mehr erlebt. Die Leistungen aber, die er in der ihm vergönnten Zeit vollbracht hat, sind bemerkenswert. Denn Adorno hat nicht nur den Kanon der modernen europäischen Philosophie bereichert und transformiert, sondern leistete auch Beiträge zur empirischen Soziologie, zur Literatur- und Kulturkritik und zur Musikwissenschaft; und er hinterließ uns nicht weniger als drei Sammelbände mit musikalischen Kompositionen, darunter Stücke für Streichquartett und Orchester und sogar Fragmente einer Oper. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass Jürgen Habermas, sein Schüler und Forschungsassistent am Institut für Sozialforschung, sich nicht scheute, Adorno »das einzige Genie, das mir in meinem Leben je begegnet ist«, zu nennen. Der junge »Teddie« (wie er im Familien- und Freundeskreis genannt wurde) war von zarter körperlicher Konstitution und in der Schule oft Gegenstand von Gespött. Aber er konnte sich auf die liebevolle Zuneigung seiner Eltern verlassen, die seine Begabungen förderten und dafür sorgten, dass sich das Wunderkind bald entpuppen konnte. Sein Vater Oscar Wiesengrund, ein assimilierter deutscher Jude, betätigte sich als Weinhändler, und als kleiner Junge spielte Teddie mit Freunden zwischen den im Keller lagernden Flaschen. Viel später sollte das Bild einer Flaschenpost als bevorzugte Metapher der kritischen Theorie auftauchen – ein so hoffnungsvolles wie verzweifeltes Bild von Lektionen, die in die Zukunft hinein entworfen werden.
10Schon in jungen Jahren wurde der rebellische Sohn des Frankfurter Bürgertums ein glühender Anhänger der neuen Trends in der ästhetischen und philosophischen Moderne. Seine anfängliche Inspiration fand Adorno in Friedrich Nietzsche, Franz Kafka und Karl Kraus, bei Autoren also, deren Begabungen für den Aphorismus und das Paradoxe als Vorbilder für seine eigene Form von dialektischer Kritik fungieren sollten. In seinen ersten Jahren an der Frankfurter Universität entwickelte er einen philosophischen Denkstil, der sich nicht nur aus den reichhaltigen Quellen des Deutschen Idealismus von Kant bis Hegel speiste, sondern auch von solchen Denkern wie Søren Kierkegaard, Ludwig Feuerbach und Karl Marx beeinflusst wurde, die sich gegen das idealistische Vertrauen auf die Vernunft wandten und die Philosophie mitten in die Wirren der empirischen Realitäten stießen. So augenfällig seine anhaltende Verpflichtung den Großsystemen des klassischen Idealismus gegenüber auch war, so offensichtlich war jedoch auch der Geist der Ironie, in dem er den philosophischen Kanon deutete. Lange vor seiner Zeit hatte der Dichter Heinrich Heine ebenjenen Geist in einem amüsanten Vers eingefangen: »Zu fragmentarisch ist Welt und Leben! Ich will mich zum deutschen Professor begeben!«[1] Und wie Heine glaubte auch Adorno nicht mehr an einen inneren Zusammenhang der Welt; ihre Risse und Brüche waren für ihn keine Mängel, die eine rein akademische Philosophie beheben konnte, sondern vielmehr gerade das Charakteristikum des modernen Zeitalters.
Eines der für das Denken Adornos typischen Paradoxa ist, dass er ein fest in der Tradition verwurzelter Radikaler war. Den Niedergang des traditionellen Humanismus hatte er begrüßt, obwohl er selbst zu einer vollkommenen Verkörperung der europäischen Gelehrsamkeit wurde. Adorno war in allererster Linie das Kind 11seiner Mutter, Maria Calvelli-Adorno, einer talentierten Opernsängerin, der sehr daran gelegen war, dass ihr Sohn eine musikalische Ausbildung erhielt. Seine ästhetischen Leidenschaften führten den jungen Mann in den 1920er Jahren denn auch nach Wien, wo er Komposition bei Alban Berg studierte und seine Bindung an die musikalische Moderne Arnold Schönbergs und der Zweiten Wiener Schule vertiefte. Sein Bekenntnis zur Tradition der europäischen Kunstmusik ist ein essenzielles und zentrales Charakteristikum seines Werks und nicht etwas, was als bloße persönliche Idiosynkrasie abgetan werden könnte. Die Musik ist vielmehr ein virtuelles Paradigma für seine dialektische Auffassung aller menschlichen Erfahrung.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass so viele der Werke Adornos trotz ihres schwierigen Stils und ihrer bewussten Weigerung, sich simplen Kategorisierungsversuchen zu fügen, mittlerweile das ambivalente Prestige von Klassikern genießen. Allerdings sollte uns dies kaum überraschen, wenn wir uns daran erinnern, dass er selbst sich das Archiv der bürgerlichen Erfahrung auf dialektische Weise angeeignet hat – der Theoretiker der Negativität und des Bruchs schätzte zugleich etwa den zutiefst bürgerlichen Proust für die Intimität und Empfindsamkeit seiner literarischen Werke, und der Partisan der musikalischen Atonalität bekundete gleichzeitig seine unsterbliche Liebe zur Musik Beethovens und verbrachte in seinen späteren Jahren viel Zeit damit, das Material für eine nie veröffentlichte Studie zusammenzutragen, die die dominante Stellung des Bonner Komponisten im musikalischen Kanon bezeugen sollte. In all diesen Hinsichten können wir sagen, dass Adornos Verhältnis zu den Erben der europäischen Kultur nicht das einer bloßen Opposition gewesen ist; vielmehr exemplifizierte es die Haltung der bestimmten Negation insofern, als es darauf abzielte, die gebrochenen Versprechen der Moderne einzulösen.
In seiner philosophischen Tätigkeit und als öffentlicher Intellek12tueller hat Adorno seine Überzeugung nie ganz aufgegeben, dass die Moderne – ihres mannigfachen Scheiterns zum Trotz – auch die Ressourcen bereithält, die es braucht, wenn sich ihre Versprechen doch noch erfüllen sollen. In den ersten Monaten des Jahres 1969 war er in einen politischen Streit mit studentischen Aktivistinnen und Aktivisten aus der deutschen Linken verwickelt, die den alternden Vertreter der Frankfurter Schule mit wachsendem Misstrauen beäugten. Natürlich wussten sie, dass sie ihm enorm viel zu verdanken hatten; in den von Konservatismus und politischer Konformität geprägten Nachkriegsjahrzehnten hatte Adorno, gemeinsam mit seinem Kollegen Max Horkheimer, dazu beigetragen, den Geist des Widerstands zu wecken, der in den späten 1960er Jahren durch die deutschen Universitäten wehte und die »außerparlamentarische Opposition« hervorbrachte. In den Augen ihrer Studierenden hatten diese Großtheoretiker des Widerstands die entscheidende Prüfung jedoch nicht bestanden: Als sie es nämlich mit radikalen Demonstranten zu tun bekamen und eine Besetzung des Institutsgebäudes erlebten, rief Adorno die Polizei, um die Protestler hinauszubefördern. Eine kleine, aber militante Fraktion innerhalb der Studentenbewegung war über diesen Verrat höchst erbost und beschuldigte ihn daraufhin, sich mit dem Establishment gemeingemacht zu haben. Die Frankfurter Schule habe, wie es hieß, zwar eine politisch radikale Haltung eingenommen, sich aber geweigert, auch die politischen Konsequenzen daraus zu ziehen; sie habe die Brücke von der Theorie zur Praxis nicht überschritten, sondern sich selbst auf den Quietismus der reinen Theorie zurückgezogen.[2]
In einer Ansprache im Berliner Rundfunk im Februar 1969 ver13suchte Adorno, sich gegen diese Vorwürfe zu verteidigen. Es sei, wie er sagte, falsch, alle Ideen ausschließlich in einem praktischen Licht und auf ihre empirischen Auswirkungen hin zu untersuchen. Eine solche Einstellung könne nur die Autorität der instrumentellen Vernunft und den Geist der Nützlichkeit stärken, die die spätkapitalistische Gesellschaft dominierten. Eine von der Theorie entkoppelte Praxis werde zur Pseudopraxis; sie falle in bloße Betriebsamkeit zurück und verrate die Ideale, die sie eigentlich verwirklichen solle. Gegen die Imperative eines solchen überstürzten Handelns führte Adorno einen von ihm so genannten »emphatische[n] Begriff von Denken« ins Feld.[3] In diesem emphatischen Sinne verstanden, wurde das Denken selbst für ihn zu einem kritischen Instrument gegen die überwältigenden Realitäten der gesellschaftlichen Konformität. »Eigentlich ist Denken […] die Kraft zum...
| Erscheint lt. Verlag | 21.11.2023 |
|---|---|
| Übersetzer | Frank Lachmann |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Frankfurter Adorno-Vorlesungen • Geschichte der Philosophie • Kritische Theorie • Lebenskunst • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Utopie |
| ISBN-10 | 3-518-77792-0 / 3518777920 |
| ISBN-13 | 978-3-518-77792-3 / 9783518777923 |
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