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Henri Bergson (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
635 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77415-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Henri Bergson -  Vladimir Jankélévitch
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Der französische Philosoph und Nobelpreisträger Henri Bergson (1859-1941) war einer der Begründer der Lebensphilosophie. Im Zeichen eines neuen Vitalismus und Materialismus wird er gerade wiederentdeckt. Vladimir Jankélévitchs Henri Bergson ist eines der ganz großen philosophischen Bücher, die über Bergson geschrieben wurden. Jankélévitch nimmt darin alle Aspekte von dessen Denken in den Blick, wobei Zeit und Dauer, Körper und Geist, Freiheit, Evolution, Einfachheit sowie Liebe und Freude im Mittelpunkt stehen. Es sind die Grundbegriffe einer bahnbrechenden Philosophie des Lebens.

Jankélévitch, der Schüler und Freund Bergsons war, veröffentlichte sein Buch zuerst 1931. Knapp dreißig Jahre später unterzog er es einer gründlichen Überarbeitung, um auch Bergsons späten Werken gerecht zu werden. Die nun erstmals in deutscher Sprache vorliegende Übersetzung dieses Klassikers folgt der Ausgabe von 1959, ergänzt um die Einleitung von 1931 sowie um einige Briefe Bergsons an den Autor. Jankélévitch liest Bergson - eine philosophische Entdeckung!



<p>Vladimir Jank&eacute;l&eacute;vitch (1903-1985) war ein franz&ouml;sischer Philosoph, Musiker und Musikwissenschaftler. Aufgrund seiner j&uuml;dischen Abstammung wurde ihm w&auml;hrend des Zweiten Weltkriegs die Staatsangeh&ouml;rigkeit entzogen. 1941 trat er der R&eacute;sistance bei. Nach dem Krieg unterrichtete er von 1951 bis 1979 auf dem Lehrstuhl f&uuml;r Moralphilosophie an der Sorbonne in Paris. Sein umfangreiches Werk ist in zahlreiche Sprachen &uuml;bersetzt.</p>

15Kapitel I
ORGANISCHE TOTALITÄTEN


»Tröste dich! Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest.«[9] 

Pascal, Das Mysterium Jesu

Der Bergsonismus ist eine jener seltenen Philosophien, bei denen sich die Forschungstheorie mit der Forschung selbst vereint; damit schließt er diese Art von reflexiver Zweiteilung aus, welche die Gnoseologien, Propädeutiken und Methoden hervorbringt. Über das Bergson'sche Denken kann man in gewisser Hinsicht wiederholen, was über den Spinozismus gesagt worden ist:[10]  dass es für dieses Denken keine Methode gibt, die sich substanziell und bewusst von der Meditation über die Dinge unterscheidet, dass die Methode weitaus eher dieser Meditation immanent ist, deren allgemeinen Gang sie gewissermaßen hervorhebt. Bergson betonte vor kurzem sehr sorgfältig, wie haltlos die ideologischen Phantome seien, die sich zwischen Denken und Tatsachen ständig einschleichen und die Erkenntnis mittelbar machen.[11]  Die Lebensphilosophie soll sich der vielfach gewundenen Kurve 16des Wirklichen anpassen, ohne dass irgendeine transzendente Methode diesen engen Zusammenhang lockern könnte. Ja noch mehr: Ihre »Methode« sollte die Linie der Bewegung, die das Denken in die Dichte der Dinge führt, selbst sein. Die Philosophie des Lebens, sagt Friedrich Schlegel tiefgründig,[12]  komme ohne jede Propädeutik aus, denn das Leben setze nur das Leben voraus, und das lebendige Denken, das dessen Rhythmus annehme, eile geradewegs dem Wirklichen entgegen, ohne sich um methodische Skrupel zu kümmern. Der Unterschied zwischen den zaghaften Abstraktionen der Schulen und der Großzügigkeit der konkreten Philosophie besteht darin, dass die einen ewig vorbereitend sind oder – was aufs Gleiche hinausläuft – sich auf etwas absolut Späteres beziehen, das deren Anwendung sein oder sich daraus herleiten wird, die andere hingegen in jedem Augenblick für sich selbst gegenwärtig ist. Jene verweisen auf eine beliebige Zukunft, von der sie durch eine klaffende Lücke getrennt bleiben; diese hüllt sich hingegen in gegenwärtige Evidenzen und sichtbare Gewissheiten; sie erkennt keine transzendente Rechtsprechung an, denn sie trägt ihr Gesetz und ihre Sanktion in sich selbst. Die Methode ist somit schon das wahre Wissen; und sie bereitet bei weitem keine lehrhafte Ableitung von Begriffen vor, sondern entsteht stufenweise in dem Maße, wie sich der geistige Fortschritt entfaltet, dessen Physiognomie und innerer Rhythmus sie im Grunde nur ist.

Suchen wir daher nicht nach dem Ausgangspunkt des Bergsonismus (wie dies Höffding offenbar tut) in einer Erkenntniskritik oder einer Gnoseologie, deren Mittelpunkt 17die Idee der Intuition sein würde. Da eine derartige Darstellungsweise vom Denken Bergsons nur ein bestimmtes System von Formulierungen, einen bestimmten Ismus (in diesem Fall den »Intuitionismus«) zurückbehält, verurteilt sie den Interpreten dazu, sich mit dem vollendeten Bergsonismus auseinanderzusetzen, anstatt seine Entstehung mitzuerleben und seine Bedeutung zu ergründen. In der Antwort, die Bergson an Höffding geschickt hat, protestiert er übrigens ganz unmissverständlich, ohne dass er vielleicht all seine Gründe nennt, gegen eine solch retrospektive Darstellung; und er führt an, dass die lebendige Mitte seiner Lehre weitaus eher die Dauer als die Intuition sei.[13]  Als Metaphysik der Intuition ist der Bergsonismus nur ein System neben mehreren anderen. Aber die Erfahrung der Dauer bestimmt seinen wahren und inneren Stil; in ihr finden wir das »unendlich einfache« Bild wieder, worum es in L'intuition philosophique[14]  geht und das wirklich die lebendige Quelle der Bergson'schen Meditation ist. Bevor wir ihren aufeinanderfolgenden Verkörperungen anhand von vier typischen Problemen nachgehen – der Anstrengung der Intellektion [»effort d'intellection«], der Frei18heit, der Finalität (Zweckmäßigkeit), dem Heroismus –, müssen wir die »Ursprungstatsache« [»fait primitif«] wiederfinden, die bei den seelischen Dingen die ganze Bergson'sche Askese leitet.

I. Das Ganze und die Elemente


Diese Askese erweist sich als erforderlich, weil eine Methode, die allein auf der Ebene der materiellen Realitäten (wir nennen sie: die Mechanismen) erfolgreich ist, missbräuchlich auf die geistigen – mentalen und vitalen – Realitäten (um abzukürzen, nennen wir sie: die Organismen) ausgedehnt wird. Die wahre Grundtatsache ist in der Ordnung des Geistes wie in der Ordnung des Lebens die Tatsache, zu »dauern« oder, was aufs Gleiche hinausläuft, die mnemische Eigenschaft, die, wenn man sie wie Richard Semon in ihrem ganzen vitalen Umfang berücksichtigt,[15]  allein den Fortbestand unserer Erfahrungen in jedem Augenblick des Lebens sichert; das Gedächtnis ist nicht, wie man behauptet hat,[16]  eine abgeleitete und späte Funktion; bevor es zu einem unabhängigen Organ, einer methodischen Einordnungs- und Verteilungsfähigkeit wurde, ist es nichts anderes als das geistige Gesicht einer für sich selbst inneren Dauer; hartnäckig behandelt man es wie ein Merkbuch oder einen Kalender der 19Seele, während es einfach dies ausdrückt: Unsere Person ist eine Welt, in der nichts verlorengeht, ein unendlich empfindliches Milieu, worin die geringste Vibration durchdringende und lange Klänge wachruft. Das Gedächtnis ist nur diese ganz ursprüngliche Beharrlichkeit meiner Erfahrungen, sich selbst zu überleben; durch gegenseitige Vermittlung setzt es die unzähligen Inhalte fort, deren Gesamtheit in jedem Augenblick den gegenwärtigen Zustand unserer inneren Person bildet. Doch wer von Kontinuität spricht, meint auch Unendlichkeit, und die Immanenz von allem in allem wird auf diese Weise das Gesetz des Geistes. Nicht dass das Gedächtnis buchstäblich Sammlung oder Anhäufung von Erinnerungen wäre; Philippe Fauré-Fremiet hat dies hellsichtig gezeigt,[17]  das Gedächtnis ist eher die Ausübung eines Vermögens als die Vergrößerung eines Besitzes und eher die »Nachgestaltung« oder aktive Verwirklichung der Vergangenheit als die Registrierung dieser Vergangenheit. Bergson selbst, der ein so entschiedener Gegner räumlicher Metaphern war, lehnt es ab, das Gehirn als ein Sammelbecken von Bildern und die Bilder als Inhalte in einem Behälter anzusehen: Dies geschieht sicher nicht, um aus der Zeit selbst ein Gefäß für Erinnerungen zu machen! Nun ist aber »Erhaltung« (wie »Reservoir«!) ein räumliches Bild … Deshalb trifft es nicht weniger zu, dass die Vergangenheit unser gegenwärtiges Sein auf ungreifbare Weise kennzeichnet und dass sie sich in jedem Augenblick evozieren lässt, selbst wenn die Erhaltung 20einfach aus der unmittelbaren Gegebenheit der Erinnerung geschlossen wird und selbst wenn die Vergangenheit nicht buchstäblich in uns überlebt und auch nicht im Unbewussten des Werdens schlummert. Ist die Zeit Bergsons nicht diese paradoxe Latenz ohne Inesse oder Sein-in, ohne virtuelle Erhaltung oder Aufbewahrung? Ist die Zeit Bergsons nicht dieses unvorstellbare Fortleben, ohne dass etwas fortlebt und ohne etwas, worin die fortlebende Vergangenheit fortleben kann? Ist sie keine schöpferische Erhaltung, eine Erhaltung ohne Erhaltendes? Mit dieser Verwahrung behält man – in Übereinstimmung mit Bergsons Essai – das Recht, die Dauer mit einem zur Lawine anwachsenden Schneeball zu vergleichen. Die Diskontinuität der Rückbesinnung darf uns nicht daran hindern, ihr die Kontinuität des Werdens zugrunde zu legen! – Hierin besteht somit ein erster Gegensatz zwischen dem Leben der Organismen und der Existenz der Mechanismen. Ein materielles System ist in jedem beliebigen Moment, in dem man es betrachtet, ganz das, was es ist, und es ist nur das; da es keine Dauer hat, ist es gewissermaßen ewig rein, denn es besitzt keine Vergangenheit, die seiner Gegenwart Farbe und Atmosphäre gibt; und darum erinnert Bergson bei diesem Thema an den Ausdruck Leibnizens: mens...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2022
Nachwort Andreas Vejvar
Übersetzer Ulrich Kunzmann
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Frankreich • Henri Bergson deutsch • Lebensphilosophie • Neuerscheinungen • neues Buch • Vitalismus
ISBN-10 3-518-77415-8 / 3518774158
ISBN-13 978-3-518-77415-1 / 9783518774151
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