Schule und Synagoge (eBook)
400 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-7047-7 (ISBN)
Uwe Jacobsen, geb. 1962 in Petershagen, studierte Evangelische Kirchenmusik, Musikpädagogik, Erziehungswissenschaften und Theologie an der Musikhochschule Lübeck, der Universität Kiel, der Universität Bielefeld und der Kirchlichen Hochschule Bethel. Sein Interesse gilt historischen und musikpraktischen Schwerpunkten. Als Ortsheimatpfleger von Petershagen ist Uwe Jacobsen Mitbegründer der hiesigen Synagogenvereine und Autor regionalgeschichtlicher Veröffentlichungen.
01 Wider den israelitischen Vorsteher Joseph Meyer und den Cantor Emanuel Kroi
09.06.1818 | StAPet Nr. 197 Israelitische Angelegenheiten
Mit einem Paukenschlag geben uns die ersten Seiten der Akte Nr. 197 „Israelitische Angelegenheiten“ den Blick auf die innere Situation der jüdischen Gemeinde Petershagen in der Zeit nach dem Wiener Kongress frei. Auch bei uns spiegelt sich die Gründung der Provinz Westfalen in den Maßnahmen der preußischen Verwaltung wieder. Ein Streitfall, ein klassischer „Aufreger“, wie er sich im sozialen Miteinander zu ereignen pflegt, schaukelt sich empor, verschärft sich und findet nach dem Urteil der Obrigkeit Eingang in eine Verwaltungsakte, deren Titel allein auf eine spannungs- und konfliktreiche Zeit hindeutet.
Der Bielefelder Rabbiner Moses Friedheim27 richtet am 9. Juni 1818 einen Beschwerdebrief an den Bürgermeister28 von Petershagen und bittet darin um dessen Urteilsspruch hinsichtlich eines Konfliktes in der israelitischen Gemeinde. Friedheim empört sich über das Verhalten des Gemeindevorstehers Joseph Meyer und vermutet einen Vertrauensbruch von Seiten des Lehrers, Kantors und Schächters Emanuel Kroi. Er schildert, dass die Ränke eines Unbekannten zu einem Streit in der Synagoge geführt hätten. Der Übeltäter habe in der Frauensynagoge den Arm eines Kronleuchters abgetrennt und diesen auf den „Stand“ der Ehefrau des Berend Itzigson gelegt. Es sei wohl kein Zufall gewesen, dass es sich gerade bei diesem Kronleuchter um eine Stiftung der genannten Ehefrau „zur Verehrung des Gottes-Haus[es] in der Frauen Schule“ gehandelt habe. Der Störenfried habe zugleich auch den Schlüssel des „Stands“ von Itzigson entwendet, sodass dieser weder an seinen Gebetsmantel, noch an die Andachtsbücher gelangt haben konnte. Da der Vorfall als Provokation empfunden worden sei und zur Benachrichtigung des Bielefelder Rabbiners geführt habe, sei dieser nun dahingehend aktiv geworden, auch einen Bericht beim Synagogenvorsteher einzufordern. Schließlich habe Friedheim den Kantor angewiesen, eine von ihm verfasste Mahnung in der Synagoge zu verlesen. Vorsteher und Kantor seien dieser Aufforderung aber nicht nachgekommen, obwohl Kroi dem Rabbiner die Ausführung schriftlich bestätigt habe. Der Schwindel sei erst aufgeflogen, nachdem Itzigson dem Rabbiner das Schweigen bekannt gemacht habe. Friedheim habe sich nun seinerseits an Bürgermeister Goeker gewandt. Er fühle sich insbesondere vom Kantor hintergangen, da dieser das Schächteramt in gegenseitigem Einvernehmen mit ihm ausübe.
Die Bedeutung des Dokuments geht nun für eine Verhältnisbestimmung von „Schule“ und „Synagoge“ nicht mit den geschilderten Konfliktinhalten einher, auch wenn diese ein schönes Beispiel für die zeitgenössische Ämterstruktur im Judentum abgeben, sondern stellt sich aufgrund einer überraschenden Nebenbemerkung ein, der Bezeichnung „Frauen Schule“. Dieser Begriff kann hier nur als Synonym für einen in sich abgeschlossenen Gebäudeteil verstanden werden, der bereits im ersten Synagogenbau nach 1796 für eine Trennung der Geschlechter sorgte, und der neben Leuchter und verschließbaren Pulten die Frauenabteilung der Synagoge beherbergte. So hebt Linnemeier hervor: „Damals dürfte also der erste eigenständige Synagogenbau in Petershagen entstanden sein: Eine offenbar bescheidene und [...] relativ kurzlebige Baulichkeit in Fachwerk, die neben dem Hauptraum mit der traditionellen Inneneinrichtung (darunter verschließbare Pulte zur Aufbewahrung der Gebetbücher und -mäntel) auch über eine ‚Frauen-Schule‘, d.h. die übliche Frauenabteilung bzw. -empore, verfügte.“29 Herzig folgt dieser Analyse: „Die Frauensynagoge, die von dem eigentlichen Synagogenraum getrennt sein muss, war vermutlich schon in dem Vorgängerbau wie dann auch in dem 1845/46 neu errichteten Backsteinbau als Empore eingefügt.“30
Im Unterschied zu den zitierten Ansätzen geht der Autor nun von der Hypothese aus, dass die in der Quelle genannte „Frauen Schule“ keineswegs mit der im Synagogenbau von 1845/46 eingerichteten Frauen empore gleichzusetzen ist, sondern in der Gestalt des westlichen Synagogengebäudes deutlich darüber hinausgeht. Die eigentliche Frauenempore aber, die in den Archivalien des Stadtarchivs als „Frauen Loge“31 bezeichnet wird, bildet ihrerseits einen Teil der Frauensynagoge, beziehungsweise der „Frauen Schule“, ist aber nicht mit ihr identisch. Analog entspricht das westliche Synagogengebäude in seiner ursprünglichen Anlage dem Typus einer Frauensynagoge mit eingegliederter Mikwe, nicht aber dem eines Schulgebäudes im Sinne unseres heutigen Verständnisses. Dennoch kann es im jüdisch-deutschen Sprachgebrauch als Schule bezeichnet werden und bei Bedarf auch eine entsprechende Funktion übernehmen.
Wiederholt weist die Quelle auf sogenannte „Stands“32 hin, ausdrücklich auch in der Frauenschule, verschließbare Pulte oder Schränke, die für einzelne Gemeindemitglieder aufgestellt worden sind und der Unterbringung von Büchern, Kleidung und Ritualgegenständen dienen. Sie werden in Petershagen auch von den Frauen benutzt, denen der Zugang zum Betraum verwehrt bleibt. Eine Unterbringung der Stands auf der knapp zwei Meter in den Betsaal hineinragenden Empore ist bei einer Breite von sechseinhalb Metern eher unwahrscheinlich.
Die in diesem Sinn bestimmte „Frauen Schule“, in der sich außer dem Tauchbad auch der Aufgang zur Frauenempore befindet, hat vermutlich weitere, für den Mikwenbetrieb notwendige Räumlichkeiten angeboten. Ob die geforderte rituelle Vorreinigung vor dem Besuch der Mikwe in den Privathäusern geschehen ist, oder in der Badekammer, die zuvor von der Badefrau, der „Duckerin“, beheizt worden ist, die die Handtücher und das auf dem Badeofen erwärmte Wasser in Bottichen bereitgestellt hat, bevor sie die Besucher in das Tauchbad geleitet, muss der Fantasie des Lesers überlassen bleiben.33 Die ortsgeschichtliche Überlieferung schweigt zu allen Details des Mikwenbetriebs. Ein Blick in die Architekturgeschichte der Mikwenbauten in Mitteldeutschland verdeutlicht aber, dass sich Anlagen dieser Art im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts von einem selbstständigen Baukörper innerhalb des Judenviertels hin zu einem Bestandteil des Synagogenbaukomplexes entwickeln. Hannelore Künzl hat in einem Aufsatz herausgearbeitet, dass sich die Tendenz, die Mikwe in einen Synagogenbau einzubeziehen, nicht nur in Großbauten, sondern gerade auch im Zusammenhang kleinerer dörflicher Synagogen zeigt.34 Künzl sieht in dieser Entwicklung eine Vorwegnahme der für das 20. Jahrhundert typischen Gemeindezentren, die alle Funktionen in einem einzigen Baukomplex vereinigen. Die Handrisse des preußischen Urkatasters visualisieren den Befund.35
Am Ende des 18. Jahrhunderts entsteht die in ihrer Gesamtheit als „Judenschule“ bezeichnete und 1796 konzessierte erste Synagoge in Petershagen. Sie vereint Mikwe und Betraum, bzw. Frauenschule und Synagoge, bzw. Schule und Synagoge planerisch miteinander. Die Frauensynagoge, die sich seit dem Beginn aller Bautätigkeiten an dieser Stelle befindet, bildet das integrale Element des ersten Synagogenbaus und beherbergt die zum Besuch der Mikwe erforderliche Infrastruktur.36 Vermutlich wurde auch der Religionsunterricht, der in dieser Zeit nur wenigen Jungen zuteil wird, üblicherweise nicht in der „Frauen Schule“, sondern im Betsaal erteilt. Aus der Synagogenordnung (1868) der Gemeinde Altdorf (Ettenheim) geht hervor, dass überhaupt allen Kindern der Eintritt in die Frauensynagoge grundsätzlich nicht gestattet gewesen ist.37 Die Frage, ob die Synagoge in dieser Zeitepoche eine Kantoren- und Lehrerwohnung beherbergte, muss aufgrund fehlender Quellen offenbleiben. Nicht unerwähnt sei aber in diesem Zusammenhang meine Vermutung, dass im Zuge der Umbauten in den Jahren 1844 bis 1846 die Mikwe in ihrer Substanz unangetastet blieb und das Tauchbad fortbesteht. In dieser Zeit mehren sich anderenorts behördliche Vorschriften, die neuen hygienischen und baulichen Standards38 und auch den gestiegenen Komfortbedürfnissen beim Badebetrieb folgen: „Nachdem das ältere Synagogengebäude wegen akuter Einsturzgefahr 1842 geschlossen worden war, erfolgte dessen Abbruch. Es waren allerdings nur die aufgehenden Fachwerkwände vollständig entfernt worden.“39 So verweist die mehrfache Nennung einer „Badekammer“ im Jahr 1878 auf den Bestand der Mikwe zu eben jener Zeit.40
Petershagen, d[en] 12. Juni 1818.
An einen Wohllöblichen
Herrn Bürgermeister Jäger zu Petershagen
Wider den Israelitischen Vorsteher Joseph Meyer und den Cantor Emanuel Kroi daselbst sehe ich mich genöthigt, bey Euer Wohlgeboren folgende Beschwerde einreichen zu müssen. Unt[e]rm 16ten April d. J. beklagte sich der Israelitische Handelsmann Berend Itzigson daselbst bey mir, über eine Beleidigung[,] welche ihm in der Synagoge daselbst...
| Erscheint lt. Verlag | 20.6.2022 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte |
| ISBN-10 | 3-7562-7047-5 / 3756270475 |
| ISBN-13 | 978-3-7562-7047-7 / 9783756270477 |
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