Europa (eBook)
500 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76396-3 (ISBN)
Von der Entstehung der ersten Korallenriffe über die Ära, als noch riesige Elefanten durch die Wälder zogen, führt uns Flannery durch die Jahrtausende bis ins moderne Zeitalter, in dem der Mensch seine Umwelt mindestens ebenso sehr prägt wie diese ihn. Er erzählt von den oft exzentrischen Forschern, denen wir unser heutiges Wissen verdanken, von ihren abenteuerlichen Erkundungen und spektakulären Entdeckungen. Dabei verwebt er Natur- und Kulturgeschichte zu einer Erzählung darüber, wer wir sind und woher wir kommen - eine Erzählung, die so einzigartig ist wie Europa selbst.
Die Fragen, was Europa, wer Europäer und was europäisch ist, sind heute so umstritten wie selten zuvor.
<p>Tim Flannery, geboren 1956, ist Biologe, Zoologe und Autor zahlreicher Bücher. Seit Jahren gehört er zu den international bekanntesten Wissenschaftlern, die sich für einen Richtungswechsel in der Klimapolitik einsetzen. Er ist Mitbegründer des Climate Council und Mitglied des World Future Council. Auf Deutsch ist zuletzt von ihm erschienen: <em>Die Klimawende. Wie wir mit neuen Technologien unsere Atmosphäre retten</em> (2015).</p>
Einleitung
Naturgeschichten umfassen sowohl die natürlichen als auch die menschlichen Welten. Diese hier möchte drei große Fragen beantworten: Wie ist Europa entstanden? Wie wurde seine außergewöhnliche Geschichte erforscht? Und warum wurde Europa in der Welt so wichtig? Denjenigen, die wie ich nach Antworten suchen, kommt der Umstand zugute, dass Europa eine Unmenge von Knochen besitzt – Schicht um Schicht, begraben in Gestein und Sedimenten, die bis auf die Anfänge der Wirbeltiere zurückdatieren. Die Europäer haben zudem einen außerordentlich reichhaltigen Schatz an naturkundlichen Beobachtungen hervorgebracht, angefangen bei den Werken Herodots und Plinius’ bis hin zu denen der englischen Naturforscher Robert Plot und Gilbert White. Außerdem ist Europa derjenige Ort, an dem die Untersuchung der tiefen Vergangenheit begonnen hat. Die erste geologische Karte, die ersten paläobiologischen Studien und die ersten Dinosaurierrekonstruktionen wurden allesamt dort angefertigt. Und in den letzten Jahren hat eine von einflussreichen neuen DNA-Untersuchungen befeuerte Revolution der Forschung im Zusammenspiel mit erstaunlichen Entdeckungen in der Paläontologie eine grundlegende Neuinterpretation der Geschichte des Kontinents möglich gemacht.
Diese Geschichte beginnt vor ungefähr 100 Millionen Jahren, und zwar mit dem Augenblick der Zeugung Europas – also dann, als die ersten spezifisch europäischen Organismen entstanden sind. Die Erdkruste setzt sich aus tektonischen Platten zusammen, die sich unmerklich langsam über den Globus bewegen und auf denen die Kontinente aufsitzen. Die meisten Kontinente haben sich im Zuge des Zerfalls von Superkontinenten geformt. Europa aber fing als ein Archipel an, dessen Zeugung das geologische Zusammenwirken dreier kontinentaler »Eltern« umfasste – Asien, Nordamerika und Afrika. Diese machen zusammengenommen ungefähr zwei Drittel der Landfläche der Erde aus, und da Europa als eine Brücke zwischen diesen Landmassen fungierte, war es der wichtigste Ort des Austauschs in der Geschichte unseres Planeten.1
Europa ist ein Ort, an dem die Evolution schnell voranschreitet – ein Ort an der vordersten Front des globalen Wandels. Doch schon inmitten des tiefsten Dinosaurierzeitalters hatte es ein paar Besonderheiten, die die Evolution seiner Bewohner geprägt haben. Einige dieser Besonderheiten wirken bis heute fort. Tatsächlich resultieren sogar einige der aktuellen Dilemmata der Menschen in Europa aus diesen Eigentümlichkeiten.
Europa zu definieren ist ein heikles Unterfangen. Seine Vielfalt, seine Evolutionsgeschichte und seine sich wandelnden Grenzen machen es nahezu proteisch. Doch paradoxerweise ist es trotzdem immer sofort wiederzuerkennen, mit seinen ganz eigenen Kulturlandschaften, seinen ehemals riesigen Wäldern, den Mittelmeerküsten und dem Antlitz der Alpen – wir alle erkennen Europa, wenn wir es sehen. Und die Europäer selbst, mit ihren Schlössern, Städten und ihrer unverwechselbaren Musik, erkennt man ebenso schnell. Es ist zudem wichtig zu bedenken, dass die Europäer durch die antiken Welten Griechenlands und Roms miteinander vereint sind. Selbst diejenigen unter ihnen, deren Vorfahren nie Anteil an dieser klassischen Welt hatten, beanspruchen sie als die ihre und suchen in ihr nach Erkenntnis und Inspiration.
Was also ist Europa, und was bedeutet es, Europäer zu sein? Das Europa der Gegenwart ist kein Kontinent im eigentlichen geografischen Sinne.2 Vielmehr ist es ein Anhängsel – eine von Inseln umgebene Halbinsel, die vom westlichen Rand Eurasiens aus in den Atlantik ragt. In einer Naturgeschichte definiert man Europa am besten über die Geschichte seines Gesteins. Aus dieser Perspektive betrachtet, erstreckt es sich von Irland im Westen bis zum Kaukasus im Osten und von Spitzbergen im Norden bis Gibraltar und Syrien im Süden. Nach dieser Definition ist die Türkei ein Teil Europas, Israel aber nicht: Das Gestein der Türkei hat eine gemeinsame Geschichte mit dem Rest Europas, während das Israels seinen Ursprung in Afrika hat.
Ich bin kein Europäer – jedenfalls nicht in einem politischen Sinne. Ich wurde in den Antipoden geboren, wie die Europäer Australien einmal genannt haben – in Europas Gegenüber. Physisch aber bin ich so europäisch wie die Queen (die übrigens in ethnischer Hinsicht deutsch ist). Als Kind wurde mir die Geschichte der Kriege und Monarchen Europas eingetrichtert, während ich über die Bäume und Landschaften Australiens so gut wie nichts erfahren habe. Vielleicht hat dieser Umstand meine Neugier geweckt. Meine Suche nach Europa war jedenfalls schon längst im Gange, ehe ich überhaupt jemals einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hatte.
Als ich 1983 als Student zum ersten Mal nach Europa reiste, war ich ganz aufregt und mir sicher, bald den Mittelpunkt der Welt zu betreten. Doch als wir im Anflug auf Heathrow waren, machte der Pilot unserer British-Airways-Maschine eine Durchsage, die ich nie vergessen werde: »Wir nähern uns jetzt einer ziemlich kleinen nebligen Insel in der Nordsee.« Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mir Großbritannien auf diese Weise vorgestellt. Als wir gelandet waren, war ich erstaunt über die milde Luft. Selbst der Geruch des Windes schien beruhigend zu sein, da ihm jener bestimmte Hauch von Eukalyptus fehlte, der mir kaum jemals aufgefallen war, bis er eben nicht mehr da war. Und die Sonne. Wo war die Sonne? Was ihre Stärke und Strahlkraft anging, ähnelte sie eher einem australischen Mond als jenem großen Feuerball, der meine Heimat versengte.
Die Natur Europas konnte noch mit weiteren Überraschungen aufwarten. Ich war erstaunt über die gewaltige Größe seiner Ringeltauben und das Ausmaß des Wildbestands in den Randgebieten des städtischen Englands. Die Vegetation in dieser feuchten und milden Luft war so zart und grün, dass ihre brillante Färbung mir fast unwirklich erschien. Sie wies nur wenige Dornen oder harte Zweige auf – ganz anders als das staubige und kratzige Buschland zu Hause. Nachdem ich einige Tage in den nebligen Himmel geblickt und weich auslaufende Horizonte betrachtet hatte, fühlte ich mich wie in Watte gepackt.
Diesen ersten Besuch unternahm ich, um die Sammlungen des Naturhistorischen Museums in London zu studieren. Kurz darauf wurde ich Kurator für die Säugetierausstellung im Australischen Museum in Sydney, wo man von mir erwartete, dass ich umfassende Expertise in Mammalogie erwarb. Als mich dann Redmond O’Hanlon, der Redakteur für Naturgeschichte bei der Times Literary Supplement, darum bat, ein Buch über die Säugetiere Großbritanniens zu besprechen, willigte ich daher auch mit einigem Zögern ein, diese Herausforderung anzunehmen. Das Werk verwunderte mich, denn es vergaß, jene beiden Spezies – Kühe und Menschen – zu erwähnen, die über eine lange Tradition auf der Insel verfügten und die ich dort in Hülle und Fülle zu Gesicht bekommen hatte.
Nachdem er meine Rezension erhalten hatte, lud Redmond mich in sein Haus in Oxfordshire ein. Ich befürchtete, das sei seine Art, mir mitzuteilen, dass meine Arbeit nicht den Anforderungen entsprach; doch wurde ich im Gegenteil sehr herzlich empfangen, und wir redeten mit großer Begeisterung über Naturgeschichte. Am späten Abend, nach einem ausgiebigen Essen, zu dem es viele Gläser Bordeaux gab, lotste er mich auf konspirative Weise in den Garten, wo er auf einen Teich deutete. Während Redmond mir zur verstehen gab, dass ich mich ruhig verhalten sollte, schlichen wir uns an den Rand. Dort reichte er mir eine Fackel, und inmitten der Wasserpflanzen erspähte ich eine blasse Gestalt.
Ein Molch! Und mein erster. Wie Redmond nämlich wusste, gab es in Australien keine geschwänzten Amphibien. Ich war ebenso von Ehrfurcht ergriffen wie P. G. Wodehouse’ wundervolle Schöpfung in den Jeeves-Romanen, nämlich der fischgesichtige Gussie Fink-Nottle, der »sich auf dem Land vergraben [hat], und seither beschäftigte er sich nur noch mit Molchen, die er in Glasbehältern züchtete und tagein, tagaus hingebungsvoll beobachtete«.3 Molche sind so dermaßen primitive Kreaturen, dass sie zu beobachten wie ein Blick in die Zeit...
| Erscheint lt. Verlag | 13.11.2019 |
|---|---|
| Co-Autor | Luigi Boitani |
| Übersetzer | Frank Lachmann |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Schlagworte | Al Gore • Angela Merkel • Anthropozän • Bill Bryson • Biologe • Brexit • Bruno Latour • Charles Darwin • Chauvet-Höhle • David Suzuki • Dinosaurier • Dürre • Elizabeth Kolbert • Erderwärmung • EU Europäische Union • Europa • Europe. A Natural History deutsch • Flusskrebse • Fridays For Future • Geschenke für Männer • Geschenk Mann • Geschichte • Greta Thunberg • Humboldt-Forum • Indiana Jones • insel taschenbuch 4841 • IT 4841 • IT4841 • Jared Diamond • Klimawandel • Klimawende • Kontinent • Kultur • Kulturgeschichte • Lascaux • Löwenmensch • Menschen • Naomi Klein • Natur • Neanderthaler • Peter Wohlleben • Pflanzen • Tiere • Wissensbuch des Jahres • Yuval Harari • Zivilisation |
| ISBN-10 | 3-458-76396-1 / 3458763961 |
| ISBN-13 | 978-3-458-76396-3 / 9783458763963 |
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