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Die nackte Wahrheit (eBook)

(Autor)

Rüdiger Zill (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2019 | 1., Originalausgabe
199 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76174-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die nackte Wahrheit - Hans Blumenberg
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Seit der frühen Neuzeit und verstärkt seit der Aufklärung sollte das göttliche Privileg vom unbedingten Besitz der Wahrheit demokratisiert werden. Die Enthüllung der Wahrheit war auch ein herrschaftskritisches Motiv. Hans Blumenberg verfolgt in diesem späten Nachlasstext die Figur der nackten Wahrheit durch die Philosophiegeschichte, allerdings mit einer verstärkten Aufmerksamkeit für die Kosten jenes Enthüllungsgestus. Nietzsche, der Verteidiger der Rhetorik, und Freud, der die Entwicklung seiner Theorie ohne Rücksicht auf das Wohl einzelner Patienten verfolgt habe, sind für Blumenberg dabei die zentralen Antipoden.



<p>Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ?Halbjude?. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation <em>Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie</em> an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie <em>Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls</em>. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«.</p>

7I
Nietzsche


Entblößung ist keine feststehende, eher die am meisten geschichtliche Form der Feststellung – oder besser, der Darstellung – von wahren Sachverhalten.

Einer der geschichtlichen Prozesse, von denen dabei Aufschlüsse erwartet werden können, ist der der Überbietung physischer durch psychische Entblößung; auch der Fremdentblößung durch Selbstentblößung. Um sich das klar zu machen, muß man auf die Bescheinigungen von Kühnheit achten, mit denen einschlägige Akte und deren Beschreibung auftreten.

Für Nietzsche war noch die französische Moralistik so etwas wie die Bestimmungsmacht für die Rücksichtslosigkeit psychischer Entschleierung. Wo er den Namen La Rochefoucauld als eines Meister[s] der Seelenprüfung nennt, scheint er den Eindruck einer äußersten Zumutung von Durchblick bis in den psychischen Hintergrund ohne jede Gène zu haben. Angesichts dessen kommen ihm die Zweifel: Bedenken, ob psychologische Beobachtung dieses Grades wirklich zu den Erleichterungsmitteln des Daseins, ja auch nur zum reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung gehören kann.[1] Abzuwägen ist dagegen das Recht des Widerwillens gegen die Zergliederung menschlicher Handlungen, das Recht auf eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit der Seele.[2] Sie fordert Respekt, sofern man nicht in verächtlicher Abwendung von allem guten Glauben an den Menschen, verkörpert durch Rousseau als den Gegenspieler der Moralistik, der Erzeugung eines mehr oder weniger gesunden Mißtrauens in die menschliche Natur im allgemeinen und im besonderen den Vorzug geben zu müssen glaubt.

Der psychologische Irrtum, der in der Bewunderung der Helden Plutarchs vorherrschen mag, habe zwar nicht die Wahrheit, aber vielleicht den Nutzen für die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft auf seiner Seite. Der Zuschauer der psychologischen Szene – mit ihren Mißachtungen eines bis ins Heuchlerische reichenden Selbstschutzes – ist nicht ganz unähnlich dem Zuschauer 8des Kunstwerks, dem die schöne Lüge jedes Recht gegen die reinste Wahrheit haben zu können nachgesagt wird. Solche Leute wie jene französischen Meister der Seelenprüfung, die in der Tugend nichts anderes sehen als das von den Leidenschaften vorgeschobene Trugbild, in dessen Namen man ungestraft tun zu können meint, was man ohnehin will, feiern ein Schützenfest, bei dem nur ins Schwarze getroffen wird – aber in’s Schwarze der menschlichen Natur.[3]

Auf alles dieses folgt ein trotziges Trotzdem. Der Menschheit wird damit auferlegt, die Peinlichkeiten der psychologischen Sektion an sich zu erdulden wie an anderen ansehen zu müssen, aber Nietzsche hat sich doch zuvor die Rechtsposition jenes Zuschauers genau genug angesehen, um seinen Leser den Vorbehalt nicht vergessen zu lassen, es sei die menschliche Natur, in deren Zentrum getroffen und seziert würde, um nur endlich mit der Axt an die Wurzel ihrer metaphysischen Bedürfnisse zu kommen: … endlich verwünscht vielleicht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint.[4]

Die Gefährlichkeit des Weges, der mit der moralistischen und dann der psychologischen Hintergrundbefragung des Menschen beschritten wird, ist von Nietzsche in einem einzigen Satz beschrieben worden, der bei jeder Art von anthropologisch einschlägiger Philosophie wieder zu Rate gezogen werden sollte: So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich.[5]

Will man sich die Zwiespältigkeit in Nietzsches Einstellung zur psychologischen Rücksichtslosigkeit der Entblößung, mehr als ein Jahrhundert später, vergegenwärtigen, tut ein Blick auf Sigmund Freud das Seinige. Man darf dabei vergessen, daß Freud Nietzsche gelesen, aber diese Lektüre in Besorgnis um die Unvorgedachtheit des Eigenen eingestellt hatte – wo und nach wieviel, bleibt ungewiß. Darum geht es nicht, sondern um den Vergleich der Legitimationen.

Für Nietzsche ist es schwierig genug, den psychologischen Zu9griff mit dem Interesse der Wahrheit oder dem an der Wahrheit zu begründen. Ihm muß der Verdacht genügen, die Verschonung vor dem Rigorismus der Erkenntnis habe etwas mit der Verwahrung gegen den Abbau einer Metaphysik zu tun, die insgesamt nur die Funktion einer Abschirmung der Sonderstellung des Menschen in der Welt und unter dem Patronat seines Gottes hatte. Anders mochte man nicht an das Sanctuarium dieser Metaphysik herankommen als durch schonungslose Verkleinerung, durch Entrousseauisierung des Menschen. Mit diesem Mißtrauen, mit diesem Verdacht ließ sich nicht viel an Menschenunfreundlichkeit rechtfertigen.

Ganz anders bei Freud, der den großen Schutzschild der Therapie vor die Neugierde seiner Theorie hält. Freilich nicht ohne häufige Durchlässigkeiten für den skeptischen Blick dessen, der dem geborenen Theoretiker bei seinen Langzeitexpeditionen ins Innere den therapeutischen Eros nicht recht zubilligen mag. Aber diese Schutzvorrichtung war immerhin so leistungssicher, daß Aussagen von einer Zumutungsintensität abgedeckt wurden, die bei Nietzsche gar nichts Vergleichbares hat und haben kann, ihn in den milden Schein der Harmlosigkeit entrückt. Die therapeutische Funktion war das Vehikel einer theoretischen Entblößung des Menschen ohnegleichen, machte ihn hilflos gegen die Kränkung jedes Selbstbehauptungswillens seines Ranges in der Welt und gegen die Zerstörung der etwa damit gekoppelten Metaphysik.

Man wird drei Hauptgebiete unterscheiden können, auf denen die metaphorische Grundannahme der Einkleidung, Verhüllung und Verkleidung zu der Möglichkeit der entsprechend destruktiven Verhaltensweise hinleitet, solche Behinderungen des Zugangs, Einblicks und Zugriffs wegzuschaffen und das jeweils Verbleibende als Entblößung, Unverstellung, Aufrichtigkeit, schließlich Wahrheit auszugeben. Wahrheit ist dann immer das Negat dessen, was sie zuvor entzogen und verhindert hatte.

Diese drei Gebiete sind: die Kritik an der Rhetorik als einer Einführungsform, deren die Wahrheit bedarf, oder einer Verhüllungsform, deren sich die Unwahrheit bedient; die Aufklärung als Abbau aller Arten von Vorurteilen im weitesten Sinne, die sich der Geist geschaffen hatte, um zu der Annehmlichkeit einer günstigen Ansicht von der Stellung des Menschen in der Welt und unter der Obhut wohlgesinnter Götter zu gelangen, oder die durch Suggestion von Personen und Institutionen eingeführt und durchgesetzt 10werden konnten, um Macht über die Gemüter zu erlangen; die Moralistik und Psychologie als Enttarnung der reellen Motive menschlicher Handlungen und Zustände, Durchdringung vordergründiger Wohlanständigkeit und bürgerlicher Reputation.

Was die Leistung der Aufklärung angeht, hat Nietzsche – den man einen Aufklärer wird nennen dürfen – die historische Epoche dieses Namens in ihrem Erfolg und ihren Methoden zurückhaltend beurteilt. Die Aufklärung sei der Bedeutung der Religionen nicht gerecht geworden; daran sei nicht zu zweifeln. Aber ebenso habe die romantische Umkehrung der Religionskritik die Sache nicht getroffen, wenn sie den Religionen das allertiefste Verständnis der Welt zuschrieb, in welchem sich eine Erkenntnis verborgen hätte, die die Wissenschaft nur des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann in unmythischer Form die »Wahrheit« zu besitzen.[6] Kurz gesagt: die Religion als Allegorie der wissenschaftlichen Wahrheit, herkommend aus einer uralten Weisheit. Daß zu dieser alle moderne Wissenschaft nur wieder zurückkehren müsse und auch könne, sofern sie sich der Norm der Wahrheit füge, eingekleidet in die der Menge der Menschen zugängliche Verständnisform, das sei allerdings nicht die Art von Rücksicht, die in der Kritik an der Aufklärung geltend gemacht werden dürfe. Unzutreffend sei eben, daß es in der Geschichte nicht eine Frage des Besitzes der Wahrheit, sondern eine Sache ihrer Mitteilung und ihrer Annehmlichkeit gewesen wäre, was allein die Unterschiede zwischen der neueren...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Ehrenpromotion an der Universität Gießen 1982 • Freud • Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg 1974 • Nietzsche • Philosophiegeschichte • Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt 1980 • STW 2281 • STW2281 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2281
ISBN-10 3-518-76174-9 / 3518761749
ISBN-13 978-3-518-76174-8 / 9783518761748
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