Das war Österreich (eBook)
455 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518758564 (ISBN)
»Glückliches österreich - Kaum ein Land ist der kritischen Selbstbefragung so hartnäckig aus dem Weg gegangen wie die österreichische Zweite Republik seit dem Zweiten Weltkrieg. Vor der Erinnerung an die braune Vergangenheit flüchtete man sich in die rosige Zukunft.« (Neue Zürcher Zeitung) In rosiges Licht getaucht, wird österreich im Jahr 2005 gleich dreimal jubilieren. »60-50-10« lautet die Formel. Dahinter verbergen sich 60 Jahre Gründung der 2. Republik, 50 Jahre Staatsvertrag und 10 Jahre EU-Mitgliedschaft.
Robert Menasse, luzider Kritiker der österreichischen Verhältnisse, hat die Zweite Republik von ihren Anfängen an untersucht und kommentiert, seine »Essays machen einem das in seiner Nähe ferne Land einsichtig. Ein vergilbter Vorhang wird beiseite geschoben, ein Fenster geöffnet: Luft und Licht kommen herein« (Neue Zürcher Zeitung).
Mit den vorliegenden Essays, aktualisiert und um neue Beiträge ergänzt, legt Robert Menasse ein Standardwerk zur österreichischen Geschichte und Politik seit dem Zweiten Weltkrieg vor - jetzt fragt sich, was zu feiern ist.
<p>Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den »Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb«. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre – zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie – an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.</p>
Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den »Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb«. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre - zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie - an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.
Das Land ohne Eigenschaften.
Oder Das Erscheinen der Wahrheit in ihrem Verschwinden
1.
»Österreichische Identität« – dieser Begriff hat etwas von einem dunklen und muffigen Zimmer, in dem man, wenn man aus irgendeinem Grund eintritt, sofort die Vorhänge beiseite schieben und das Fenster öffnen möchte, um etwas Luft und Licht hereinzulassen. Doch wenn das Fenster keine Aussicht hat und sich der Raum daher nur wenig erhellen will?
Als ich begann, mein Buch über die »österreichische Identität« zu schreiben, verbrachte ich die meiste Zeit zunächst viel lieber im Kaffeehaus und las Zeitungen. Natürlich stellte ich diese Mußestunden als Teil meiner Arbeit aus, denn immerhin wurde in den Zeitungen, zumindest in den deutschen, eine intensive Identitäts-Diskussion geführt, eine breite Debatte über die neue Identität Deutschlands nach der sogenannten »Wiedervereinigung«. Da erreichte mich folgender Brief:
Sehr geehrter Herr Menasse!
Wir arbeiten zur Zeit im Auftrag des Bundeskanzleramtes am Projekt »Corporate Design«. Zur besseren Problemeingrenzung veranstalten wir dazu eine erste Diskussionsrunde. Wir erlauben uns, Sie sehr höflich zu einer Expertenanhörung ins Palais Schwarzenberg (Blauer Salon) am 26.3. einzuladen. In diesem Gespräch sollen Fragen über das Spannungsverhältnis »Staat – Verwaltung – Corporate Identity – Corporate Design« thematisiert werden. (…) Wir hoffen, Sie dort begrüßen zu können, und verbleiben mit freundlichen Grüßen
Günter O. Lebisch (Lebisch, Werbeagentur)
Daß in einer Zeit, da Deutschland aufgrund des Falls der Berliner Mauer seine neue Identität diskutiert, sich eine Gruppe von Intellektuellen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Blauen Salon des Palais Schwarzenberg trifft, um die »Corporate Identity« der Republik Österreich zu entwickeln, läßt natürlich unmittelbar an die Musilsche Parallelaktion denken. Nun können wir in dem dunklen Raum, den der Begriff »österreichische Identität« darstellt, eine Bücherwand erkennen, einige vertraute Buchrücken, ein Lichtstrahl fällt auf Musils Roman, und schon haben wir den Eindruck, daß es doch etwas heller geworden ist, die Verhältnisse wirken ein wenig vertrauter, zumindest erscheinen uns die Aktivitäten des Bundeskanzleramtes als bedeutsam.
Tatsächlich zeigt die österreichische Realität Anfang der 90er Jahre eine deutliche Parallele zu dem Österreich, das Musil im Mann ohne Eigenschaften beschrieben hat: wieder eine Endzeit. Nicht nur deshalb, weil die Präsidentschaft Waldheims zu Ende ging. Aber wenn wir ihn als Symptom oder besser als Paradigma betrachten – und daß man dies tun kann, ja muß, darüber besteht Einhelligkeit –, dann muß man sagen: auch deshalb. Denn Waldheim war nicht nur der erste, der einzige Präsident der Zweiten Republik, der gesellschaftliche Aufklärung bewirkte – durchaus im Sinn der Dialektik der Aufklärung –, er ist auch und vor allem der letzte Präsident der Republik, die durch den Anspruch geprägt war, beweisen zu müssen, daß sie doch alleine lebensfähig sei. Was gemeinhin die »Erfolgsstory der Zweiten Republik« genannt wird, beruhte wesentlich auf diesem stolzen Selbstverständnis, daß die Zweite Republik die praktische Widerlegung des Selbstzweifels, des Grundirrtums der Ersten Republik ist. »Doch alleine lebensfähig« – erlebten wir in Waldheims Wahl mit ihrem Slogan »Wir Österreicher wählen, wen wir wollen« nicht ein letztes, geradezu karikaturhaftes Aufbäumen dieses Anspruchs? Es war dessen Ende, weil deutlich wurde, daß mit Waldheims Sieg dieser ideologische Konsens der Zweiten Republik den materiellen Interessen dieses Landes entgegenzustehen begann. Denn längst schon war die Entscheidung gefallen, Österreich wieder an einen größeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenhang anzuschließen. So zeigte sich der Anspruch, alleine lebensfähig zu sein, schließlich an diesen einen Mann alleine delegiert, an den international isolierten Präsidenten in der nun »Bunker« genannten Hofburg, und dessen »Aussitzen« wurde nicht mehr stolz gemessen am Schicksal der Ersten Republik, sondern bange an den Erwartungen, die die politische Elite in Hinblick auf eine »Dritte Republik« zu haben begann. Noch ist dieser immer wieder in die Diskussion geworfene Begriff »Dritte Republik« nichts als eine nicht näher bestimmte Floskel, die nicht mehr und nicht weniger bedeutet als dies: Es kommt offenbar ein Gefühl davon auf, daß die Zweite Republik am Ende ist.
Natürlich wird nicht deshalb vom Ende der Zweiten Republik gemunkelt, der Begriff »Dritte Republik« in immer neuen Nullnummern vorgestellt und der EU-Beitritt vollzogen, weil sich irgend etwas grundsätzlich an der Einschätzung der politischen Stabilität und wirtschaftlichen Lebensfähigkeit Österreichs geändert hätte – es scheint vielmehr so zu sein, daß es in Österreich einen besonderen Hang zu Endzeiten gibt. Man muß Endzeiten sagen, also den Plural verwenden, weil es eine österreichische Erfahrungstatsache ist, daß am Ende einer Endzeit nie das Ende ist. Die zur Jahrhundertwende geborene Generation etwa hat dies bekanntlich viermal erleben können: Das Ende der Habsburger-Monarchie. Das Ende der Ersten Republik. Das Ende des Ständestaates. Das Ende der Ostmark als Bestandteil des Dritten Reiches. Diese Generation hat mit Fleiß und Hingabe die Zweite Republik aufgebaut, die nun strukturell mit dieser Erfahrung gesättigt ist, mit dieser praktischen Metaphysik, diesem weltlichen Katholizismus: Das Diesseits der Geschichte ist flüchtig, aber es gibt immer ein geschichtliches Jenseits, das erlöst.
Das definiert auch wesentlich unser Nationalgefühl. Ein Beispiel: Was wird in Österreich heute als Nationalliteratur empfunden und anerkannt? Robert Musil? Heimito von Doderer? Oswald Wiener? Bei Musil und Doderer wird man sofort einhellige Zustimmung erhalten, daß deren Werke tatsächlich Nationalliteratur sind.
Bei Wiener wird man im allgemeinen zunächst stutzen und dann abwehren. Dabei haben alle drei Autoren Wesentliches gemeinsam: Jeder von ihnen wollte den großen, totalen, definitiven Roman schreiben, und die Bedeutung und die literarische Qualität aller drei steht völlig außer Streit. Aber während Musils Mann ohne Eigenschaften das Ende der Habsburger-Monarchie beschreibt und Doderers Dämonen sich mit dem Ende der Ersten Republik auseinandersetzt, ist Wieners Verbesserung von Mitteleuropa in dieser Beispielreihe die einzige genuine literarische Reflexion der Zweiten Republik, weshalb dieser Roman – zur Zeit seiner Abfassung war noch kein Ende der Zweiten Republik absehbar – als einziger dieser drei nicht als deren Nationalliteratur empfunden wird.
Eine Diskussion darüber, wie repräsentativ ein literarisches Werk für die nationale Identität ist, sollte erst viele Jahre später von Thomas Bernhard ausgelöst werden, durch sein Stück Heldenplatz – das sich ebenfalls wieder auf einen historischen Untergang Österreichs bezieht.
Ein weiteres Indiz ist, daß es zu dieser Zeit, nachdem die Zweite Republik sich so lange jede grundsätzliche Selbstreflexion ersparen zu können glaubte, nun doch zu einer breiten Diskussion der eigenen Identität, zu einem Hinterfragen der Geschichte, zu öffentlichem Nachdenken und Bedenken gekommen ist. Es ist bekannt, daß die Eule der Minerva ihren Flug in der Dämmerung beginnt.
In der Zweiten Republik war allerdings, wie im folgenden auch gezeigt werden soll, alles von Anfang an in ein so eigentümliches Zwielicht getaucht, daß die Dämmerung nicht so einfach davon zu unterscheiden ist. Wir erkennen also nicht die Dämmerung und können schließen, daß die Eule der Minerva nun ihren Flug wohl beginnt, sondern wir sehen die Eule und wissen, daß die Dämmerung eingesetzt haben muß.
Die breite Auseinandersetzung über die Verfaßtheit Österreichs war aber von Anfang an nostalgisch, das heißt, es ging nur noch darum, daß wir, in Brüssel angekommen, wissen wollen, wer wir gewesen sind.
2.
Die Zweite Republik hatte von Anfang an besonderen Anlaß zur Selbstreflexion – aber deswegen hat sie sie möglichst vermieden. Selbst die Nationalfeiertage, anderswo Gelegenheit für programmatische Überlegungen der politischen Repräsentanten, wurden hierzulande bald nur noch für Aufrufe zu Fit-Märschen genützt, während weitgehend sogar vergessen wurde, woran der Nationalfeiertag erinnern sollte, ganz zu schweigen von den Konnotationen, die es gerade in Österreich hat, wenn das Volk aufgerufen wird zu marschieren. Intellektuelle und Künstler, die sich kritisch mit der politischen und gesellschaftlichen Verfaßtheit Österreichs auseinandersetzten, wurden von Gerichten verfolgt bzw. später, im Zuge einer Liberalisierung oder zumindest einer Erosion der versteinerten Verhältnisse, nur noch dazu aufgefordert, sich psychiatrieren zu lassen. Auch die schließliche Aufdeckung von politischen Skandalen befriedigte in keiner Weise das Bedürfnis nach wenigstens einem Minimum von politischer Aufklärung, sondern übersättigte mit einem Maximum an Aufklärung über das Fehlverhalten einzelner Menschen, was zu einer Moralisierung der Republik führte, statt zu ihrer Aufklärung.
Diese Abwehr gegenüber jeder grundsätzlichen Problematisierung der Republik wird gerne mit der traumatischen Erfahrung begründet, die mit der Ersten Republik gemacht worden war: daß ein Staat untergehen kann, wenn nicht an ihn geglaubt wird. An die Zweite Republik mußte daher bedingungslos und ohne Widerspruch geglaubt werden. Das programmatische »Nie wieder!« der Nachkriegspolitiker bezog sich nicht...
| Erscheint lt. Verlag | 15.11.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Schlagworte | 21st Century Best Foreign Novel of the Year award 2020 • Aufsatzsammlung • Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2022 • Deutscher Buchpreis 2017 • Geschichte 1945-2005 • Kakehashi-Literaturpreis 2024 • Kultur • Mitteleuropa • Österreich • Prix du livre européen (Europäischer Buchpreis) 2023 • ST 3691 • ST3691 • suhrkamp taschenbuch 3691 |
| ISBN-13 | 9783518758564 / 9783518758564 |
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