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Das intensive Leben (eBook)

Eine moderne Obsession

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
215 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75106-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das intensive Leben - Tristan Garcia
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Im 18. Jahrhundert fasziniert ein neues Fluidum die Welt: die Elektrizität. Mit ihr wird die Intensität zu einem Ideal für den Menschen und zu einem Begriff der Philosophie. Von der Macht Nietzsches bis zum Vitalismus Deleuze', von der nervösen Erregung der Libertins bis zum Adrenalinkick der Begierde, der Leistung und der Extremsportarten: die Intensität organisiert seither unsere Welt. Sie ist der höchste Wert des modernen Lebens, wie der junge französische Philosoph Tristan Garcia in seinem mitreißenden Essay zeigt.

Die ständige Suche nach Intensität ist allerdings auch anstrengend: süchtig jagen wir neuen Höhepunkten und Extremen nach, immer unter Strom. Kein Wunder also, dass in unseren »Hochspannungsgesellschaften« das Unbehagen wächst. Die intensive Landwirtschaft zerstört die Natur, das Selbst ist erschöpft, Apathie, Mittelmäßigkeit und Depression signalisieren das Ende des großen Wachstums- und Intensitätsrauschs. Wie können wir dennoch das Gefühl bewahren, am Leben zu sein? Jenseits von Lebenshilfe und Glücksratgebern, die Weisheit und Seelenheil in einer Rückkehr zu Buddhismus oder Religion versprechen, und mit der E-Gitarre im Gepäck ruft Garcia zum Widerstand auf. Seine Forderung: Wir brauchen eine Ethik der Intensität.



<p>Tristan Garcia, geboren 1981, ist ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Er ist ein Schüler von Alain Badiou, gegenwärtig Maître de conférences an der Universität von Lyon und gehört zum Kreis der philosophischen Bewegung des Spekulativen Realismus. Für seine in zahlreiche Sprachen übersetzten Werke<em> </em>wurde er mehrfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien sein von der Kritik gefeierter Roman <em>Der beste Teil der Menschen</em>, für den er den Prix de Flore erhalten hat. Im Herbst 2018 erscheint sein Essay <em>Wir</em> im Suhrkamp Verlag.</p>

Tristan Garcia, geboren 1981, ist ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Er ist ein Schüler von Alain Badiou, gegenwärtig Maître de conférences an der Universität von Lyon und gehört zum Kreis der philosophischen Bewegung des Spekulativen Realismus. Für seine in zahlreiche Sprachen übersetzten Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien sein von der Kritik gefeierter Roman Der beste Teil der Menschen, für den er den Prix de Flore erhalten hat. Im Herbst 2018 erscheint sein Essay Wir im Suhrkamp Verlag. Ulrich Kunzmann, geboren 1943, studierte Romanistik und arbeitete zunächst 20 Jahre lang als Dramaturg. Seit 1969 übersetzt er literarische Texte und Sachbücher aus dem Spanischen, Französischen und Portugiesischen ins Deutsche.

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Ein Bild

Wie sich die Elektrizität
auf das Denken ausgewirkt hat

Der Kuss von Leipzig

Woher hat uns diese Erregung erreicht?

Beinahe ein ganzes Jahrhundert lang hat man zahlreiche Erklärungsversuche für den Magnetismus verfasst, und seitdem das Wort »Elektrizität« (elektron bedeutet im Altgriechischen »Bernstein«) um das Jahr 1600 in die Sprache eingeführt wurde, haben sich die Wissenschaftler immer stärker für dieses eigenartige Naturphänomen interessiert. Es entstand die Hawksbee-Elektrisiermaschine. Man experimentierte mit dem Reiben von Glaskugeln und Harzstäbchen.

Während der 1740er Jahre wird dieses Phänomen dann in den europäischen und vor allem deutschen Salons zu einem populären, Bewunderung erregenden Thema. Georg Matthias Bose, ein junger Leipziger Dichter und Physiker, den die Experimente Hawksbees und die Schriften Dufays faszinierten, entwickelt eine Reihe von technischen Bravourleistungen. Sie sollten das Publikum aus ehrenwerten Damen und Edelleuten beeindrucken, das sich drängte, um das Schauspiel dieses neuartigen Feuers zu bewundern, das aus der Materie spontan entsteht und das man »elektrisches Fluidum« nennt. Woraus besteht die 30Versuchsanordnung? Bose lädt die Gäste an seinen Tisch. Zuvor hat er das ganze Möbelstück und seinen eigenen Stuhl isoliert. Unauffällig berührt der Zauberlehrling unter der Tischplatte einen dünnen Kupferdraht. Dieser ist mit einem versteckten Generator verbunden, der von einem Komplizen bedient wird. Bedeutungsvoll legt Bose dann die Hand flach auf den Tisch. Der Strom fließt durch und läuft an den Armen entlang, welche die Gäste höflich auf denselben Tisch gestützt haben. Alle starren einander in panischer Angst an, sind entzückt und erstaunt. Ihnen sträuben sich die Haare, in denen viele Tausende Funken knistern. »Das ist ein Wunder!«, ruft man. Ein paar Monate später erfindet Bose eine Maschine zur mechanischen »Beatifikation«: Der »Heilige« sitzt auf einem isolierten Stuhl. Sein Schädel ist oben mit einem kleinen spitzen Metallhut bedeckt, und darunter trägt er eine billige Krone. Den Strom überträgt ein langer Draht. Dieser ist an einem Metallteller aufgehängt, der sich einen knappen Zentimeter oberhalb der Krone befindet und ein Funkenprasseln hervorruft. Die Funken zeichnen eine Aureole über dem Kopf des von der Wissenschaft geheiligten und infolge der Überraschung erstarrten Mannes.

Bose lässt sich vor allem eine Attraktion einfallen, die »der elektrische Kuss von Leipzig« genannt wird. In seinem Gedicht Venus electrificata bietet er hiervon eine lyrische Schilderung. Man schließt eine schöne junge Frau, die zuvor elektrisch isoliert wurde, an Boses primitiven Generator an und bestreicht ihre Lippen mit einer leitenden Substanz. Man fordert einen der ehrbaren Anwesenden auf, aufzustehen und das Fräulein zu küssen. Der ungefähr zwanzig Jahre alte Mann nähert seine bebenden Lippen denen der Venus und wird dann von einer hef-31tigen Entladung getroffen: Das starr staunende Publikum sieht, dass zwischen den Mündern der beiden jungen Leute ein Blitz aufleuchtet. Der Mann, den die Liebe buchstäblich wie ein Blitz getroffen hat, steht einen Augenblick verstört da: Die Kraft der Elektrizität, des von der Frau ausgehenden Feuers, hat ihm den Atem geraubt. »Doch, Himmel, wie bekam / Mir solcher Frevel-Muth. Es schien ein schmetternd Stechen, / Verdrehte fast den Mund. Die Zähne wollten brechen.«1

Bose wie auch der Mathematikprofessor Hausen und ihr junger Kollege Winkler, der sich mit orientalischen Sprachen beschäftigte, entflammen Leipzig mit ihren kühnen Experimenten, die sich an der Grenze von Physik und Jahrmarktsschwindel befinden. In jener Zeit ist die Fee Elektrizität noch eine magische Unterhaltung der Wissenschaft, eine irrationale Verheißung der Vernunft. Bald werden die Spiele durch Theorien ersetzt; zunächst erhitzen die Ausströmungen dieses subtilen Fluidums, das den Äther in Brand steckt, die Geister Europas und entwerfen ein neues Bild der menschlichen Begierde. »Ein solch bezauberndes, anbetungswürdges Kind / Wird elektrificirt so schnell als wie der Wind, / Unstreitig wird hierdurch mein wunderbares Feuer / Viel Millionen mahl so edel, werth und teuer. / Berührt ein Sterblicher etwan mit seiner Hand / Von solchem Götter-Kind auch selbst nur das Gewand, / So brennt der Funcken gleich, und das durch alle Glieder.«2 Die begehrenswerte junge Frau wird mit diesem inneren, verborgenen und vielleicht schuldigen Feuer identifiziert, das sich erst bei der Berührung des Bewerbers – des Mannes, der versucht, sie zu küssen – zeigt; die sinnliche Begierde ist gleichsam eine elektrische Potenz, und umgekehrt ist die Elektrizität gleich-32sam eine natürliche Libido der ganzen Materie, die nur auf ihren Bewerber – den Mann – wartet, um sich zu zeigen. Die Elektrizität ist nach dem Ebenbild der Begierde nicht ungefährlich, doch sie erzeugt den Schauder einer neuen Intensität, die von einem »unwägbaren Fluidum« stammt. Man kennt noch nicht das Wesen und die Anwendungsmöglichkeiten dieses Fluidums. Für die ersten Erscheinungsformen der elektrostatischen Kraft dient der menschliche Körper als hauptsächlicher Leiter. Etwas geht also hindurch, wie ein den Körper durchströmender elektrischer Schauder, der die verborgene Potenz bestimmter Gegenstände zeigt, sich abzustoßen oder sich anzuziehen, zu erhitzen, Funken zu erzeugen, eine aus Energie und Licht kombinierte Entladung hervorzubringen. Bald wird der menschliche Körper durch Metall ersetzt. Man entfernt Fleisch, Muskeln und Nerven von dem geheimnisvollen Einfluss. Man versetzt ihn wieder zu den Dingen, und man baut die ersten elektrostatischen Generatoren, die Leidener Flaschen, die Zylinder mit Batterie und die Platten mit tausend Flaschen.

Doch die Elektrizität ist in den Menschen übergegangen. Davon bleibt für immer so etwas wie ein Rausch übrig, dem sich der moderne Geist hingeben wird. Das elektrische Licht hat sich wie durch die Adern der Gesellschaft fließendes Blut in der Optik verbreitet und die sagenhaften Bilder des Kinematographen auf die Leinwand gebracht; es hat das Bild in tausend Lichtteilchen zerbrochen, es zerlegt und in kurzen, fernübertragbaren Impulsen kodiert, und es hat die Fernsehübertragungen gefördert; es hat das ganze Informationswesen – Bilder, Texte und Töne – durchdrungen und sich in den Dienst der Elektronik gestellt; es hat die Laternen an den Straßen der 33großen Metropolen und die Lampen über den Betten von spätabends lesenden Kindern angezündet; es hat den unermüdlichen Motor des Wachstums und Fortschritts mit Kraftstoff versorgt; es hat den Bau von Staudämmen, Generatoren, Kraftwerken und Windrädern erforderlich gemacht; es hat alle oder beinahe alle Dinge in Bewegung gesetzt, was so weit geht, dass der Mensch, ohne es überhaupt zu bemerken, zum lebenden Medium zwischen den einzelnen Entitäten (der Kabel, Telefone, Radios, Herzschrittmacher …) geworden ist, deren elektrisches Wesen er nach und nach vergessen hat, deren Idee ihn jedoch unablässig weiter durchströmt, als hätte der Kuss von Leipzig, der das moderne Bündnis der Begierde mit der Elektrizität besiegelte, niemals aufgehört.

Die Verheißung der elektrischen Aufklärung

Von den tausend möglichen Definitionen der Moderne wollen wir uns daher für die folgende entscheiden, die man als die einfachste und konkreteste ansehen kann: Die Moderne ist die Domestikation des elektrischen Stroms. Als sich im 18. Jahrhundert eine beispiellose Bewegung mit zugleich wissenschaftlichen und marktschreierischen Forschungen und Experimenten, schockierenden und leidenschaftlichen Inszenierungen der möglichen Anwendungen dieser neuen Energie entwickelte, machte dies die Elektrizität zur Hauptfigur der Moderne als Zauberschwur der Vernunft. Denn bevor die Elektrizität die bescheidene Dienerin der Industrialisierung war und die der Elektronik und der Informationstechnologien wurde, hat sie sich dem wissensdurstigen Europa zunächst als 34eine unermessliche Hoffnung dargestellt, welche die Massen vor Staunen erstarren ließ: Die Elektrizität ermöglichte nicht nur, alles umzuwandeln, sondern erlaubte auch, alles in der Natur und am Menschen im Licht einer neuen Energie zu verstehen. André Guillerme fasst dies treffend zusammen, wobei er sich auf die Arbeiten Daniel Roches bezieht: »Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist die Elektrizität eher eine Sozialwissenschaft der Aufklärung als eine volkstümliche Wissenschaft oder eine neue physikalische und medizinische Wissenschaft. Sie, die zugleich mechanisch, chemisch, militärisch, biologisch, psychisch, pharmakologisch, philosophisch, meteorologisch, ökonomisch – hat Galvani nicht den Ehrgeiz, in den Nerven den Motor des tierischen Körperhaushalts zu entdecken? –, ja sogar mineralogisch und agronomisch ist, durchdringt alle Wissensbereiche und fasziniert den öffentlichen Raum; sie bietet ein neues Menschenbild und spielt die Rolle eines ›sinnlich zu erfassenden Offenbarers all dieser Bewegungen‹, die damals die westliche Gesellschaft erschüttern.«3

Der französische Revolutionär Barbaroux widmet dem neuen »Offenbarer« diese kurzen emphatischen Verse: »O subtiles Feuer, Weltseele, / Wohltätige...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2017
Übersetzer Ulrich Kunzmann
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel La vie intense. Une obsession moderne
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Beschleunigung • Elektrizität • Essay • Extreme • Frankreich • Intensität • Philosophie • Prix de Flore 2008 • Rausch • Strom • STW 2273 • STW2273 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2273 • Westeuropa
ISBN-10 3-518-75106-9 / 3518751069
ISBN-13 978-3-518-75106-0 / 9783518751060
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