Entfremdung (eBook)
337 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75048-3 (ISBN)
<p>Rahel Jaeggi, geboren 1966, ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort seit 2018 das <em>Centre for Social Critique</em>.</p>
11Einleitung
»Yet another work on alienation?«[1] So oder so ähnlich begannen noch zu Beginn der 1980er Jahre angesichts einer überbordenden Literatur viele Bücher zum Thema »Entfremdung«. Die Lage stellt sich heute anders dar. Der Begriff der Entfremdung scheint problematisch und in mancher Hinsicht beinahe unzeitgemäß geworden zu sein. War er lange Zeit Zentralbegriff linker (aber auch konservativer) Gesellschaftskritik, entscheidendes Motiv der Marx’schen Sozialphilosophie und damit prägend für den »westlichen Marxismus« und die »Kritische Theorie«, wirksam andererseits auch in verschiedenen Varianten existentialistisch inspirierter Zeitkritik, so ist »Entfremdung« heute nicht nur aus der philosophischen Literatur nahezu verschwunden. Auch als zeitdiagnostische Vokabel spielt »Entfremdung« kaum noch eine Rolle. Zu inflationär war der Gebrauch des Entfremdungsbegriffs in den Zeiten seiner Hochkonjunktur geworden, zu überkommen scheinen seine philosophischen Grundlagen im Zeitalter der »Postmoderne«, zu fragwürdig seine politischen Konsequenzen in dem des »politischen Liberalismus« – und vielleicht auch zu aussichtslos das Anliegen der Entfremdungskritik im Zeichen des siegreichen Kapitalismus.
Das Problem der Entfremdung allerdings, so scheint es, ist immer noch – vielleicht auch: wieder – gegenwärtig. Angesichts neuerer ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen artikuliert sich in wachsendem Maße eine Beunruhigung, die sich, wenn nicht dem Namen, so doch der Sache nach, mit dem Phänomen der Entfremdung in Verbindung bringen lässt. Die große Beachtung, die Richard Sennetts Buch Der flexible Mensch mit seiner These gefunden hat, der »flexible Kapitalismus« bedrohe die Identität des Einzelnen und den sozialen Zusammenhang der Gesellschaft, die zunehmend laut werdenden Bedenken gegenüber Tendenzen einer Vermarktlichung oder »Kommodifizierung« immer größerer Lebensbereiche[2] und auch die neu entstandenen Pro12testbewegungen gegen den Kontrollverlust und die Machtlosigkeit angesichts einer sich globalisierenden Ökonomie[3] sind Anzeichen für eine wiedererwachende Sensibilität gegenüber Phänomenen, die man im Zusammenhang der oben erwähnten Theoriebildung mit den Begriffen »Entfremdung« oder »Verdinglichung« charakterisiert hatte. Und auch wenn im »neuen Geist des Kapitalismus« (vgl. Boltanksi/Chiapello 2003) die Entfremdungskritik auf geradezu zynische Weise aufgehoben zu sein scheint – realisiert sich in den vielfältigen Anforderungen an den flexibel-kreativen, modernen »Arbeitskraftunternehmer«, für den es zwischen Arbeit und Freizeit keine Grenze mehr gibt, nicht die Marx’sche Utopie des »allseitig entwickelten« Menschen, der »morgens fischen, mittags jagen, abends kritisieren« kann? –, so verweisen die Ambivalenzen einer solchen Entwicklung eher auf die Resistenz des Problems als auf sein Verschwinden.[4]
Gibt es also keine Entfremdung mehr, oder verfügen wir nur nicht mehr über ihren Begriff? Angesichts der sich immer wieder erneuernden Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen dem gesellschaftlichen Versprechen auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung und seiner defizitären Einlösung, so die Diagnose Robert Misiks[5], bleibt das Thema »Entfremdung« virulent, selbst wenn der feste Bezugspunkt ihrer Kritik verloren gegangen zu sein scheint.
Die vorliegende Untersuchung zielt auf eine Vergegenwärtigung des Entfremdungsbegriffs als sozialphilosophischer Grundbegriff. Mein Ausgangspunkt ist dabei ein zweifacher: Einerseits bin ich der Überzeugung, dass der Entfremdungsbegriff ein philosophisch gehaltvoller und produktiver Begriff ist, mit dem sich Phänomenbe13reiche erschließen lassen, die man nur um den Preis der Verarmung theoretischer Ausdrucks- und Deutungsmöglichkeiten umgehen kann. Andererseits lässt sich meines Erachtens nach an die Theorietradition, mit der der Entfremdungsbegriff assoziiert ist, nicht unbefangen anknüpfen: Zu Recht sind die mit dieser Tradition gesetzten Annahmen problematisiert worden. Ein Anschluss an die Entfremdungsdiskussion erfordert deshalb eine kritische Rekonstruktion ihrer konzeptuellen Grundlagen.
Dieses Buch ist der Versuch einer solchen Rekonstruktion. Eine Rekonstruktion ist es damit in doppelter Hinsicht: Einerseits gilt es, den Entfremdungsbegriff überhaupt in seiner Bedeutung zu vergegenwärtigen. Andererseits muss dieser auf dem Hintergrund der sich hier andeutenden Probleme systematisch neu interpretiert und begrifflich transformiert werden. Damit geht es um die philosophische Wiederaneignung eines Theorems, das aus vielerlei Gründen problematisch geworden ist – und um den Versuch einer Wiedergewinnung seines Erfahrungsgehalts.[6]
Gezielt wird hier also weder auf eine zeitdiagnostisch verfahrende Reaktualisierung des Entfremdungsproblems noch auf einen theorieimmanenten Anschluss an die entfremdungstheoretische Diskussion. Was ich dagegen versuche, ist eine kategoriale Analyse der Grundbegriffe bzw. der Voraussetzungen, die dem Deutungsmuster der Entfremdung in seinen verschiedenen Ausprägungen zugrunde liegen. So setzt die Entfremdungsdiagnose Annahmen über die Struktur menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse, die Beziehung von Akteuren zu sich selbst, zu ihren eigenen Handlungen und zur sozialen wie natürlichen Welt und damit ein komplexes und dichtes Bild der Person in ihren Relationen zur Welt voraus. Es sind diese Annahmen, und damit die philosophisch-anthropologischen Grundlagen des Entfremdungsbegriffs, die schon auf begrifflicher Ebene klärungsbedürftig sind und bei denen es anzusetzen gilt.
Was nämlich bedeutet es, dass man im Verhältnis zu sich auf verschiedene Weise mit sich entzweit sein kann? Wie ist es zu verstehen, dass einem die eigenen Handlungen als »fremde« gegenübertreten können? Und wie ist das Subjekt verfasst, das in der Weise mit der Welt verbunden ist, dass es sich von sich entfremdet, 14wenn ihm dieser Bezug verloren geht? Um diese Fragen soll es im Folgenden gehen. Schon hier bedarf es allerdings einer Klarstellung: Wenn im Zentrum meiner Analyse die vielfältigen Formen stehen werden, in denen Individuen sich »von sich selbst« entfremden können, so soll das ausdrücklich nicht bedeuten, dass Entfremdung hier als ein auf das Selbstverhältnis reduzierbares subjektives Problem verstanden wird. Ein Missverständnis, dem Hannah Arendts Kritik an Marx unterliegt, ist hier instruktiv: Findet sich in Arendts Vita Activa die Bemerkung, Weltentfremdung, nicht, wie Marx geglaubt habe, Selbstentfremdung sei das wirkliche Problem moderner Gesellschaften, so handelt es sich hier um eine glatte – wenn auch in mancher Hinsicht produktive – Fehldeutung:[7] Bei Marx ist (wie bei Arendt auch) die Entfremdung von sich mit der Entfremdung von der dinglichen und sozialen Welt untrennbar verbunden; es ist gerade die Unmöglichkeit, sich die »Welt« als Resultat der eigenen Tätigkeit anzueignen, die Entfremdung ausmacht. Weltentfremdung bedeutet also Selbstentfremdung und umgekehrt, das Subjekt ist »von sich« entfremdet, weil es von der Welt entfremdet ist – und es ist genau dieser Zusammenhang, der den Begriff interessant macht. Der Ansatz bei der »Selbstentfremdung« schließt also immer auch das Verhältnis ein, welches das Subjekt zu den unterschiedlichen Dimensionen der »Welt« hat. Die Differenz ist also eine der Perspektive, nicht des Gegenstandsbereichs.
Wenn es sich so als Pointe der entfremdungstheoretischen Perspektive herausstellen wird, dass »sein eigenes Leben zu leben« bedeutet, sich auf bestimmte Weise mit sich und der Welt identifizieren, sich diese »aneignen« zu können, ist damit auch ein Unterschied zum geläufigen, häufig kantisch verstandenen Autonomiebegriff markiert, dem die Welt im positiven wie im negativen Sinn »nichts anhaben« kann. Der für die Entfremdungskritik entscheidende Ansatz, qualitativ auf Selbst- und Weltverhältnisse von Individuen zu zielen, gelingende von gestörten oder defizitären Selbst- und Weltverhältnissen unterscheiden zu wollen, eröffnet dabei den Weg für eine Kritik derjenigen sozialen Institutionen, in denen Individuen ihr Leben führen. Diese Kritik überschreitet die liberal-gerechtigkeitstheoretische Perspektive auf das rechtlich geregelte »Aneinandervorbei« der Individuen, ohne dabei auf sub15stantielle Konzepte des Selbst und der Gemeinschaft Bezug nehmen zu müssen.[8] Die Thematisierung des Entfremdungsproblems steht so für die Idee einer »qualitativ anderen Gesellschaft« (Herbert Marcuse), Entfremdungskritik ist immer schon verbunden mit der Frage danach, »wie wir leben wollen«. »Negativistisch« im Ansatz, thematisiert der Entfremdungsbegriff dabei nicht nur, was uns daran hindert, gut zu leben, sondern vor allem auch, was uns daran hindert, die Frage danach, wie wir leben wollen, auch nur angemessen zu stellen.
Schon vor dem Einstieg in eine detailliertere Diskussion lassen sich mehrere Dimensionen des Entfremdungsproblems unterscheiden:
– Als ethisches Problem verweist Entfremdung auf eine Dimension des verfehlten Lebens einzelner Individuen. In diesem Fall droht das mit dem Entfremdungsmotiv verbundene »Lebensgefühl der Gleichgültigkeit und Indifferenz« die Frage nach dem guten Leben überhaupt zu untergraben.[9] Die mit Entfremdung assoziierte innere Entzweiung und das »Gefühl der Machtlosigkeit«, so die Diagnose, affizieren die Bedingungen personaler Autonomie in ihrem Kern.
– Ein sozialphilosophischer Schlüsselbegriff...
| Erscheint lt. Verlag | 10.8.2016 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
| Schlagworte | Beziehungslosigkeit • Heimatlosigkeit • Kritische Theorie • Philosophischer Buchpreis 2024 • STW 2185 • STW2185 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2185 |
| ISBN-10 | 3-518-75048-8 / 3518750488 |
| ISBN-13 | 978-3-518-75048-3 / 9783518750483 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich