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Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit (eBook)

(Autor)

Michael Gebauer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
243 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74272-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit -  Thomas Nagel
Systemvoraussetzungen
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Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit ist das Hauptwerk Thomas Nagels zur politischen Philosophie. Hervorgegangen aus seinen 1990 in Oxford gehaltenen Locke Lectures erkundet Nagel in diesem dichten Traktat den Konflikt zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Gleichheit - zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv. Dieser Konflikt, den er als das Grundproblem der politischen Philosophie bezeichnet, lässt sich nicht auf Systemebene lösen, denn er hat seinen Ursprung darin, dass schon jede Person zwei Standpunkte einzunehmen in der Lage ist: den persönlichen und den überpersönlichen. Diesem unhintergehbaren Dualismus Rechnung zu tragen, ist die Aufgabe jeder politischen Lehre, die die Frage beantworten will: »Wie sollen wir in einer Gesellschaft miteinander leben?« Ein Klassiker.

Thomas Nagel, geboren 1937, ist Professor Emeritus für Philosophie und Recht an der New York University. Er ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences und Corresponding Fellow der British Academy. 2008 wurde er mit dem Rolf-Schock-Preis für Philosophie sowie dem Balzan-Preis ausgezeichnet. Sein Buch <em>Geist und Kosmos</em> war ein internationaler Bestseller.

2
Zwei Standpunkte


Der überwiegende Teil unserer Welterfahrung wie auch der überwiegende Teil unserer Wünsche gehören unserer persönlichen Perspektive an: Wir sehen die Dinge gleichsam von hier aus. Doch besitzen wir darüber hinaus eine eigentümliche Befähigung, über die Welt auch in Abstraktion von unserer besonderen Stellung in ihr nachzudenken – davon abzusehen, wer wir selbst in ihr sind. Ja, es ist uns sogar möglich, noch weitaus radikaler von den Kontingenzen unseres Selbst zu abstrahieren: Verfolgen wir beispielsweise jene Art von Objektivität, die uns die Physik und die anderen Naturwissenschaften abverlangen, abstrahieren wir in Wahrheit sogar davon, daß wir Menschen sind. In der ethischen Theorie dagegen ist nichts weiter als jene Art der Abstraktion von unserer eigenen Identität wirksam, durch die wir in Abzug bringen, wer wir sind.[2] Jeder von uns geht zunächst immer aus von einem typischen Gefüge je eigener Anliegen, Wünsche und Interessen und ist in der Lage, wahrzunehmen, daß auch andere dies tun. In einem zweiten Schritt kann er dann in Gedanken sich von seiner besonderen Stellung in der Welt subtrahieren und einfach allgemein über all die Menschen nachdenken, um die es geht – ohne künftig noch den von ihnen, der er faktisch selbst ist, als Ich auszusondern.

Durch diese Abstraktionsleistung kommt es zu einer Einstellung, die ich oft alternativ als den ›überpersönlichen‹ oder ›unpersönlichen‹ oder ›impersonalen Standpunkt‹ bezeichne. Die Gehalte und Eigenarten der unterschiedlichen subjektiven Standpunkte, die wir in impersonaler Einstellung durchmustern können, bleiben dabei erhalten: Allein der Umstand, daß eine unter diesen Perspektiven die meine ist (wenn sie es denn ist), wird von nun an in Abzug gebracht. Der springende Punkt ist dabei nicht etwa, daß man nun irgendwie nicht mehr weiß, wer man ist. Vielmehr handelt es sich darum, daß man dieses Faktum bei seiner Beschreibung der Lage eines Menschen nicht mehr mitberücksichtigt – man ›sieht von ihm ab‹.

Sehr vieles, unter anderem auch das ungeheure Unternehmen, uns die objektive Natur der Wirklichkeit zu erschließen, hat seinen Ursprung in dieser Fähigkeit, die Welt zu betrachten. Doch da dieselbe Objektivität darüber hinaus bei der Ausbildung von Werten und der Rechtfertigung von Handlungen wirksam ist, spielt der überpersönliche Gesichtspunkt auch im Zusammenhang der Bewertung politischer Institutionen eine wesentliche Rolle. Ethische und politische Theorie bilden sich heraus, sobald wir uns auf den impersonalen Standpunkt stellen und uns von daher auf das Datenmaterial konzentrieren, das uns die persönlichen Wünsche, Interessen, Vorhaben, Bindungen, Loyalitäten und Lebenspläne vorgeben, die für die Eigenperspektiven einer gewaltigen Masse sehr heterogener Individuen typisch sind, uns selbst nicht ausgenommen. Dann geschieht nämlich folgendes: Wir sehen ein, daß manchen dieser Dinge ein impersonaler Wert eignet. Dinge, die nicht automatisch gleichgültig werden, sobald wir sie unpersönlich betrachten, behalten ihren Eigenwert und zwingen uns, anzuerkennen, daß sie gerade nicht immer nur für Individuen oder Gruppen in ihrer Besonderheit von Bedeutung waren.

Seit langem schon bin ich der Überzeugung – und halte nach wie vor an ihr fest –, daß man dieser Konsequenz, stellt man die persönliche und die unpersönliche Perspektive auf sein eigenes Leben einander entgegen, unmöglich ausweichen kann. Wir vermögen gegen die Dinge in unserem Leben, die für uns selbst von vorrangiger Dringlichkeit sind, in impersonaler Einstellung einfach nicht indifferent zu sein; und wenn wir nicht umhinkönnen, den allerwichtigsten von ihnen einen Wert an sich zuzubilligen, dann haben auch andere Grund, sie in Betracht zu ziehen. Da der objektive Standpunkt jedoch gerade nicht mehr mich aus der Menge aller Individuen auszeichnet, muß dasselbe für Werte gelten, die in jedem anderen Leben aufkommen. Bin ich unpersönlich betrachtet von Bedeutung, dann auch ein jeder andere.

Es ist nützlich, sich hier eine Dynamik zu denken, durch welche die objektiven Werte, die in den Entwurf einer politischen Theorie Eingang finden, im Zuge von vier Phasen allererst erschlossen werden, wobei jede dieser Bildungsstufen aus einer ethischen Reaktion auf ein Problem hervorgeht, das sich infolge einer echten Entdeckung auf der vorangegangenen Stufe gestellt hat. Beim ersten Stadium handelt es sich um die fundamentale Einsicht des überpersönlichen Standpunkts, daß das Leben jedes einzelnen Menschen wichtig und niemand wichtiger ist als irgendein anderer. Das bedeutet nicht etwa, daß nicht manche Menschen wichtiger sein können, weil sie für andere wertvoller sind, sondern daß innerhalb einer horizontalen Dimension von (aus dem jeweiligen Leben von Individuen stammenden) Werten, auf der alle höherstufigen Werteungleichheiten beruhen müssen, jeder Mensch gleich viel zählt. Der impersonale Eigenwert eines bestimmten Quantums von etwas Gutem oder Schlechtem – von Glück und Not oder der Erfüllung und Enttäuschung von Wünschen – ist nicht dadurch bedingt, wem diese Dinge zugehören.

Nun existiert in der Welt eine so immense Anzahl von Menschen, deren Zwecke und Partikularinteressen einander überdies ständig in die Quere geraten, daß man sich diese Zahl fast nicht mehr vorzustellen vermag. Und was jedem einzelnen von ihnen widerfährt, ist dennoch ungeheuer wichtig – nicht minder vordringlich, als uns all das ist, was uns selbst zustößt. Die Wichtigkeit, die das eigene Leben für einen jeden dieser konkreten Menschen hat, sollte daher auch, wenn wir sie uns wirklich vergegenwärtigen, in der impersonalen Einstellung ihren Niederschlag finden: Der überpersönliche Standpunkt sollte eine dieser Wichtigkeit entsprechende Bedeutung ihres Lebens auch dann gewärtigen können, wenn er es nicht vermag, auch allen Bestandteilen dieses Lebens einen unpersönlichen Wert beizumessen, der dem persönlichen Wert entspräche, den sie für den Menschen haben, um dessen Leben es sich handelt – eine Einschränkung, von der ich augenblicklich aber noch absehe.

Angesichts dieser enormen Anzahl von Materien, die demnach auch unpersönlich betrachtet dringlich sind – von positiven und negativen Werten, die in jede nur mögliche Richtung weisen –, stellt sich dem überpersönlichen Standpunkt nun das Problem, zu bestimmen, wie diese Komponenten derart vereinigt zur Geltung zu bringen und Konflikte zwischen ihnen aufzulösen sind, daß eine kritische Wertung unter den Alternativen möglich wird, die verschiedenartige Individuen in so unterschiedlicher und ihnen nicht gleichgültiger Weise angehen.

Auf dieses Problem reagiert die zweite Phase der Dynamik, die ausgehend von ihren Materialien in der Dimension persönlicher Werte eine Ethik schafft. Obwohl ich an dieser Stelle des Arguments noch nicht einmal Gründe für eine partielle Lösung ins Feld führe, bin ich der Überzeugung, daß sich die korrekte Form überpersönlicher Rücksichtnahme auf jeden einzelnen durch eine Unparteilichkeit unter den Individuen auszuzeichnen hätte, die gerade nicht nur in dem Sinne auf Gleichheit orientiert wäre, daß sie einen jeden sozusagen bloß als gleichwertiges Argument einer kombinatorischen Funktion für gleich wichtig erachtete. Vielmehr müßte es sich bei ihr von Anbeginn an um eine konkrete Präferentialfunktion handeln, die immer schon ein positives Gewicht auf die Erleichterung des Loses derjenigen Menschen legen würde, denen es innerhalb der Hierarchie schlechter ginge, statt abermals nur den Nutzen der im Vergleich zu ihnen bereits Begünstigteren weiter zu mehren – wenn auch in gewissem Maße naturgemäß alle Lebensverbesserungen positiv ins Gewicht zu fallen hätten. Diese Grundüberzeugung steht offenkundig mit der egalitären Komponente in der Theorie der sozialen Gerechtigkeit meines Lehrers Rawls in Kontakt. Ich glaube jedoch, daß etwas Ähnliches in der Ethik erstens von sehr viel allgemeinerer Gültigkeit ist und daß der gebotene Grad der Bevorzugung Unterprivilegierter zweitens nicht allein von ihrer Stellung im Verhältnis zu ihren begünstigteren Mitmenschen abhängt, sondern zusätzlich davon, wie schlecht es den Betreffenden absolut gesehen geht. Die Linderung unerträglicher Not und Entbehrung ist bei der Abwägung, welche Auflösungen von Interessenkonflikten zustimmungsfähig sein können, immer von besonders grundsätzlicher Dringlichkeit.[3]

Wir handeln augenblicklich davon, wie uns die Dinge von einem gänzlich unpersönlichen Standpunkt aus erscheinen – von einem Standpunkt, den wir mit völliger Selbstverständlichkeit einnehmen würden, sobald wir irgendeine Situation, an der wir persönlich unbeteiligt sind, von außen beobachten. Entscheidend ist nun, daß es uns ja unsere Befähigung zur Abstraktion ermöglicht, diese Haltung auch Situationen gegenüber einzunehmen, an denen wir entweder unmittelbar oder durch unsere Verbindung mit einem anderen Menschen selbst beteiligt sind. Bedenken wir dann das Leben jedes der unzähligen von einer politischen Dezision berührten Menschen und bewegt uns die Frage, was insgesamt gesehen das Beste wäre oder wie entschieden werden könnte, welche von mehreren Alternativen die bessere wäre, zieht es uns zu der Folgerung hin, daß, was dem einen widerfährt oder widerfahren ist, objektiv soviel Gewicht hat, als wäre es jedem beliebigen anderen widerfahren, daß die Beseitigung gravierenden Elends, Leidens oder Mangels von vorrangiger Wichtigkeit ist, daß Verbesserungen auf höheren Ebenen dieser Hierarchie...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Ethik • Politische Philosophie • STW 2166 • STW2166 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2166 • Wissenschaft
ISBN-10 3-518-74272-8 / 3518742728
ISBN-13 978-3-518-74272-3 / 9783518742723
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