Sozialität und Alterität (eBook)
466 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74135-1 (ISBN)
<p>Bernhard Waldenfels, geboren 1934 in Essen, ist Professor emeritus für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Für sein Werk wurde er u. a. mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis und dem Dr.-Leopold-Lucas-Preis ausgezeichnet.</p>
Vorwort
Phänomenologie ist eine Denkweise, die sich nicht nur auf Erfahrungen stützt, sondern aus Erfahrung erwächst und ihr zum Ausdruck verhilft. Stachel dieses Bemühens ist eine zugleich erstaunliche und erschreckende Fremdheit inmitten aller Vertrautheit. Diese Fremdheit erreicht eine besondere Stärke durch die Verdoppelung und Vervielfältigung der Fremdheit meiner selbst in der Fremdheit der Anderen. Nachdem in drei vorausgehenden Bänden wechselnde Modi der zeiträumlichen, der aisthetisch-ästhetischen und der hyperbolischen Erfahrung zur Sprache kamen, geht es in diesem Band um spezielle Modi der sozialen Erfahrung.
Was sich fortsetzt, ist die Beachtung primärer Formen von Erfahrung, die nicht ohne sekundäre Bearbeitung zu denken sind, aber nicht darin aufgehen. Das Primäre der Erfahrung, in dessen Erforschung sich Phänomenologie und Psychoanalyse berühren, ist weder mit schlichter Unmittelbarkeit noch mit Mikrophänomenen zu verwechseln. Es erreicht eine eigentümliche Tiefe. Hinzu kommt die Erkundung produktiver Formen der Erfahrung, innerhalb deren die Ordnung der Dinge sich bewährt, sich wandelt und immer wieder das Chaos streift. Mit der besonderen Form von sozialer Erfahrung öffnet sich ein immenses Feld erhöhter Komplexität. Jedes Schlüsselwort, mit dem man sich Einlaß verschafft, ob Gemeinschaft, Gesellschaft, Staat oder Kommune, ob Intersubjektivität oder Sozialität, ob Mitmensch, Mitbürger, Verwandter oder Rollenträger, ob Vorfahr oder Nachfahr, stürzt uns in ein Meer von Fragen. Um einseitige Vorentscheidungen zu vermeiden, orientieren wir uns an dem winzigen Mit, syn oder cum, das in vielen Wortverbindungen auftaucht und das als Präfix oder als Präposition verschiedene Wege der Erfahrung offenhält. Wenn wir diese Erfahrung rundweg als sozial bezeichnen, so geschieht dies proleptisch in Erwartung einer laufenden Klärung und Ausdifferenzierung. Unter dem Politischen verstehen wir eine spezifische Organisation und Instituierung des Sozialen, die wie das Sprachliche oder das Ästhetische alles in der Erfahrung berührt, aber nicht alles bestimmt.
Das Mit dient uns als Kristallisationskern für eine Reihe von Fragen, die einst quaestiones disputatae genannt wurden und die im Schatten der großen Summen und Systeme ihre Unruhe verbreiten. Immer wieder taucht Altes, das wir zu gut kennen, in neuen Formen auf, die wir zu wenig beachten. In wiederholten Anläufen werden wir auf neuralgische Punkte und symptomatische Befunde stoßen, die zu weiterer Arbeit an den Phänomenen auffordern. Der fakultative Charakter des Mit wird uns davor bewahren, das Mitmenschliche fraglos auf Instanzen wie Subjekt oder Person, Familie, Volk oder Staat festzulegen, und es wird uns ebensosehr von einem sozialen Paternalismus oder humanen Chauvinismus abhalten, der alles Nicht-Menschliche, seien es Tiere, Pflanzen oder Dinge, rigoros menschlichen Belangen unterwirft. Das Mit läßt Nuancen und Abstufungen zu, die den Rastern binärer Ordnungsmuster wie Sein und Sollen, Fakten und Normen, Subjekt und Objekt entgleiten. Entscheidend ist dabei die Rolle des Leibes, der auf der Schwelle von Kultur und Natur agiert, indem er im Zuge einer Zwischenleiblichkeit von mir selbst auf die Anderen übergreift und in Gestalt von Verkörperungen eine ganze Skala von Zwischendingen entstehen läßt, die wie unser Leib weder dem Subjektiven noch dem Objektiven zuzuschlagen sind. In dieser Zwischensphäre entfalten sich erfinderische Kräfte. Dazu gehört eine Imagination, die soziale Formen des Imaginären einschließt; dazu gehören Rituale, die uns über Schwellen hinweghelfen; dazu gehört eine Somatotechnik, die sich zur Soziotechnik ausweitet; dazu gehören immer wieder Störungen und Einbrüche, die eine Pathologie des Sozialen entstehen lassen.
Nähern wir uns dem Kernbereich des Sozialen, so stoßen wir auf ein Grundparadox. Der Andere ist einer unter anderen wie ich selbst, doch gäbe es die Anderen nicht als Andere, so wäre jeder von uns nichts weiter als einer unter anderen. In der wechselnden Groß- und Kleinschreibung, deren sich auch Lacan bedient, deutet sich an, daß der Status des Anderen nicht eindeutig ist. Ich selbst und der/die Andere sind Kontrastfiguren, deren Singularität sich nicht verallgemeinern und deren wechselseitige Fremdheit sich nicht restlos integrieren läßt. Das bipolare Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft spiegelt sich wider in einer zweifachen Genese. Einzelne und Gemeinschaften gibt es nur im Zuge eines doppelseitigen Prozesses gleichzeitiger Vereinzelung und Vergemeinschaftung. Wer sich vereinzelt, ist kein restlos Einzelner, und wer sich vergemeinschaftet, ist niemals restlos in der Gemeinschaft beschlossen. Singularität und Sozialität verhalten sich zueinander wie Figur und Grund; eines geht auf Kosten des anderen, doch eines ist nichts ohne das andere. Sowenig es eine in sich abgeschlossene Sozialität gibt, so wenig gibt es reine Singularität. Letzteres gilt für die Singularität meiner selbst ebenso wie für die der Anderen. Die Singularität ist eine Singularität im Plural; Selbstheit und Alterität sind keine referentiellen, sondern differentielle und topische Bestimmungen. Die soziale Genealogie, die sich in einer performativen Form des Sozialen bekundet, erzeugt eine Unruhe, die in keiner Sozialontologie, aber auch in keiner politischen Ontologie zur Ruhe kommt. Das Rätsel des Sozialen liegt darin, daß es Soziales gibt, ähnlich wie es Sinn, Wahrheit und Ordnung gibt. Dies besagt nicht zuletzt, daß es Andere gibt, ohne daß deren Alterität auf Eigenheit und Gemeinsamkeit zurückgeführt werden kann. Die beiden Titelbegriffe der Sozialität und der Alterität signalisieren eine Spannung, die das Leben eines jeden von uns und das Zusammenleben von uns allen durchzieht. Dramatik des Außerordentlichen und Epik des Ordentlichen sind nicht voneinander zu trennen.
Mit diesen Überlegungen bewegen wir uns auf dem vertrauten Boden einer pathisch und responsiv angelegten Phänomenologie. Motive wie Schwellenerfahrung, Zwischenereignisse, offene Anknüpfung in der Sinnbildung, Überschüsse des Fremden, Widerfahrnis und Antwort oder Eingriffe des Dritten, die seit langem bearbeitet wurden, werden nun aus der Perspektive einer Sozialphänomenologie aufgegriffen. Die Konfrontation von Phänomenologie und Psychoanalyse und die Nähe zur Ethnologie als einer Fremdheitswissenschaft spielen weiterhin eine bedeutsame Rolle. Die Analyse von Hyperphänomenen wie Gabe, Stellvertretung und Vertrauen, in denen sich eine Ungeselligkeit in der Geselligkeit bemerkbar macht, und die Analyse sozialer Gewaltausübung, in der die Ungeselligkeit sich der Geselligkeit entgegenstellt, wird weitergeführt.1
Der Gesamttext wird eingerahmt von einem Prolog, der das Grundmotiv der Responsivität anklingen läßt, und einem Epilog, der die Mehrstimmigkeit als Wahrzeichen eines sich selbst suchenden und sich selbst überschreitenden Europas vor Augen führt. Der Haupttext ist auf zwei Teile angelegt. Der erste Teil enthält ausgesuchte Sachanalysen. Er beginnt mit einem aporetischen Anfangskapitel, das um das kantische Motiv einer ungeselligen Geselligkeit kreist. Die Sozialität wird von Grund auf problematisiert, ausgehend von Grundfiguren wie Ich, der Andere, das Wir und der Dritte, die sich immer wieder in einem egologischen oder aber in einem sozialen Zirkel zu verfangen drohen. Die Frage ist, wie man diesen Zirkel durchbrechen kann, ohne alles Soziale abzuwerten zugunsten eines »ganz Anderen«. Alterität ohne Sozialität wäre ebenso fatal wie Sozialität ohne Alterität. – In den Kapiteln 2 bis 4 verfolgen wir das Soziale bis hinein in die Niederungen einer gemeinsamen Passivität und Affektivität, in die Abgründe erschütternder Erfahrungen wie Erstaunen und Erschrecken und in die Grenzzonen von Geburt und Tod. Hierbei werden insbesondere Anregungen aus den Bereichen der Medizin, der Psychoanalyse sowie der Sozial- und Entwicklungspsychologie aufgegriffen. Eine gewichtige Rolle spielen dabei Sigmund Freuds Gänge durch die Untergründe der Erfahrung und Kurt Goldsteins responsive Konzeption des Organismus. Bei Geburt und Tod wird die spezielle Umsetzung pathischer Erfahrungen und Affekte in kollektive Bilder auf exemplarische Weise berücksichtigt. – Kapitel 5 befaßt sich mit der Verklammerung von Wir-Rede, Stellvertretung und Gesetzesanspruch. Das Wir, dem wir uns zugehörig fühlen, ist kein substantielles, sondern ein performatives Wir, das ständiger Erprobung ausgesetzt ist. Das Wir bezeichnet mehr als ein Ich im Plural, und Bürgerschaft bedeutet mehr als die Menge derer, die ein und demselben Gesetz unterstehen. Damit betreten wir die institutionellen Bereiche von Recht und Politik, die unsere soziale Erfahrung prägen, sie umgekehrt aber auch voraussetzen. In Kapitel 6 erfährt das Politische, das sich nicht auf Entscheidungen und Maßnahmen der institutionellen Politik beschränkt, eine Zuspitzung in Form eines unerläßlichen Gleichsetzens des Ungleichen. Lösen Gleichheit und Ungleichheit sich voneinander ab, so droht das Abdriften in die Gleichgültigkeit eines Indifferentismus oder umgekehrt das Aufflackern eines Extremismus, der sich an seiner eigenen Radikalität berauscht. An aktuellen Beispielen fehlt es nicht. – Kapitel 7, in dem die alltägliche und außeralltägliche Überschreitung von Schwellen als eine initiatorische Form leibhaftiger Fremderfahrung vorgestellt wird, macht deutlich, daß Sozialität nicht denkbar ist ohne wiederholte Grenzüberschreitungen. Dies führt uns mit Walter Benjamin, Arnold van Gennep und Victor Turner auf die Spuren von Ethnologie,...
| Erscheint lt. Verlag | 9.3.2015 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
| Schlagworte | Alterität • Castoriadis • Dr. Leopold Lucas-Preis 2021 • Erfahrung • Foucault • Husserl • Schütz • Searle • Sigmund-Freud-Kulturpreis 2017 • Sozialphilosophie • STW 2137 • STW2137 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2137 |
| ISBN-10 | 3-518-74135-7 / 3518741357 |
| ISBN-13 | 978-3-518-74135-1 / 9783518741351 |
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