Zum Hauptinhalt springen
Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Weniger als nichts (eBook)

Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
1200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73427-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weniger als nichts -  Slavoj ?i?ek
Systemvoraussetzungen
33,99 inkl. MwSt
(CHF 33,20)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Seit zwei Jahrhunderten operiert die westliche Philosophie im Schatten von Hegel. Es ist ein sehr langer Schatten, und jede neue Philosophengeneration ersinnt seither neue Wege, um aus ihm herauszutreten. Während die einen dies mittels neuer theoretischer Konzepte versuchen, überziehen die anderen sein Denken schlicht mit Hohn und Spott. Slavoj ?i?ek unternimmt in seinem monumentalen Buch erst gar nicht den Versuch, aus diesem Schatten herauszutreten, macht es sich aber auch keineswegs darin bequem. Seine Devise lautet nicht: Zurück zu Hegel! Sondern: Wir müssen hegelianischer sein als der Meister selbst, um wie er die Brüche und Verwerfungen in der Realität verstehen und kritisieren zu können. In dieser hyperhegelianischen Manier und mit gewohnt pointierten Abschweifungen in (fast) alle Bereiche von Philosophie, Kunst und Leben rettet ?i?ek Hegels radikal emanzipatorisches Projekt für unsere Zeit.

<p>Slavoj ?i?ek wurde am 21. März 1949 in Ljubljana, Slowenien geboren und wuchs auch dort auf. Er studierte Philosophie und Soziologie an der Universität in Ljubljana und Psychoanalyse an der Universität Paris VIII. Seit den achtziger Jahren hat ?i?ek zahlreiche Gastprofessuren im Ausland inne, unter anderem an der Tulane University, New Orleans (1993), der Cardozo Law School, New York (1994), der Columbia University, New York (1995), in Princeton (1996) und an der New School for Social Research, New York (1997). Von 2000 bis 2002 leitete er eine Forschungsgruppe am kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Er war jahrelanger Herausgeber der Zeitschrift der slowenischen Lacan-Schule <em>Wo Es war</em> und setzte sich unter anderem mit der Philosophie des Deutschen Idealismus, mit Hegel und mit Karl Marx auseinander, sowie mit zeitgenössischen Denkansätzen aus dem Bereich des Poststrukturalismus, der Medientheorie, des Feminismus und der Cultural Studies. Heute lehrt an der European Graduate School, am Birkbeck College der University of London und am Institut für Soziologie der Universität von Ljubljana. Seine erste englischsprachige Buchveröffentlichung <em>The Sublime Object of Ideology </em>erschien 1989. Seitdem veröffentlichte ?i?ek über 20 Monographien, in denen er sich zunächst um eine lacanianische Lesart der Philosophie, der Populärkultur und in den letzten Jahren zunehmend der Politischen Theorie bemühte.</p>

Kapitel 1
»Den Schein ins Wanken bringen«


Was nicht gesagt werden kann, muss gezeigt werden


Der berühmte letzte Satz aus Wittgensteins Tractatus – »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«[1] – birgt ein offensichtliches Paradox: Er enthält ein überflüssiges Verbot, denn er untersagt etwas, das ohnehin unmöglich ist. Dasselbe Paradox findet sich auch in der vorherrschenden Haltung gegenüber einer ästhetischen Repräsentation des Holocaust wieder: Sie sollte nicht unternommen werden, weil sie nicht unternommen werden kann. Jorge Semprún kehrt dieses Verbot um, was in nicht unerheblichem Maße seinen spanisch-katholischen Wurzeln geschuldet ist. Nicht die poetische Fiktion, sondern die prosaische Dokumentation ist für Semprún nach Auschwitz unmöglich. Für Elie Wiesel kann es dagegen keinen Roman über den Holocaust geben. Jeder Text, der dies vorgebe, sei entweder kein Text über den Holocaust oder kein Roman. Semprún weist die Behauptung, dass die Literatur mit dem Holocaust unvereinbar sei, zurück und hält dagegen, dieser könne nur durch die Kunst dargestellt werden. Falsch sei nicht die Ästhetisierung des Holocaust, sondern dessen Reduktion auf ein Objekt dokumentarischer Berichterstattung. Jeder Versuch, auf dokumentarische Weise »die Fakten wiederzugeben«, neutralisiere die traumatische Wirkung der geschilderten Ereignisse – oder wie Lacan, auch ein atheistischer Katholik, es ausgedrückt hat: Die Wahrheit hat die Struktur einer Fiktion. Kaum jemand könnte es ertragen, geschweige denn genießen, sich einen Snuff-Film anzuschauen, in dem echte Morde und Folterungen gezeigt werden, als Fiktion ist dies dagegen möglich. Wenn die Wahrheit zu traumatisch ist, um ihr direkt ins Auge zu sehen, lässt sie sich nur in Gestalt einer Fiktion akzeptieren. Claude Lanzmann hat zu Recht erklärt, würde er zufällig auf Originalaufnahmen stoßen, auf denen die Ermordung von Gefangenen in Auschwitz zu sehen ist, so würde er sie sofort zerstören. Eine solche Dokumentation 40wäre obszön und dazu respektlos gegenüber den Opfern. So gesehen ist der Genuss der ästhetischen Fiktion keine bloße Form von Eskapismus, sondern eine Möglichkeit der Bewältigung traumatischer Erinnerungen – ein Überlebensmechanismus.

Wie aber können wir der Gefahr entgehen, dass der durch die Fiktion erzeugte ästhetische Genuss das wirkliche Trauma des Holocaust verwischt? Man braucht nur ein Minimum an ästhetischem Gespür, um zu erkennen, wie falsch ein epischer Roman über den Holocaust im ausladenden Stil des psychologischen Realismus des 19. Jahrhunderts wäre. Das Universum jener Romane, die Perspektive, aus der sie geschrieben wurden, gehört der historischen Epoche an, die dem Holocaust vorausging. Anna Achmatowa stand vor einem ähnlichen Problem, als sie in der Sowjetunion der 1930er Jahre versuchte, die Atmosphäre des stalinistischen Terrors zu schildern. In ihren Memoiren beschreibt sie, wie sie auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen in einer langen Schlange vor dem Leningrader Gefängnis wartet, um etwas über das Schicksal ihres inhaftierten Sohnes Lev zu erfahren:

 

Eines Tages erkannte mich jemand aus der Menge. Hinter mir stand eine junge Frau, ihre Lippen waren blau vor Kälte. Sie hatte natürlich nie zuvor gehört, dass mich jemand beim Namen nannte. Jetzt löste sie sich aus der Apathie, die uns allen gemeinsam war, und fragte mich flüsternd (jeder flüsterte dort): »Können Sie das beschreiben?« Und ich sagte: »Ja, das kann ich.« Darauf huschte so etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.[2]

 

Welche Art von Beschreibung ist hier gemeint? Sicherlich keine realistische Situationsbeschreibung, sondern eine, die aus der verworrenen Wirklichkeit deren innere Form extrahiert, wie etwa Schönberg in seiner atonalen Musik die innere Form des totalitären Terrors extrahierte. Auf dieser Ebene hängt die Wahrheit nicht mehr von der getreuen Wiedergabe von Fakten ab. Wir sollten an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen (faktischer) Wahrheit und Wahrhaftigkeit einführen: Gerade durch die faktische Unzuverlässigkeit, Verworrenheit und Inkonsistenz wird der Bericht eines Vergewaltigungsopfers (oder jede andere Schilderung eines Traumas) erst wahrhaftig. Wäre 41das Opfer in der Lage, sein schmerzvolles und erniedrigendes Erlebnis klar und deutlich zu schildern und sämtliche Daten schlüssig und in der richtigen Reihenfolge aufzuzählen, würde uns genau diese Fähigkeit stutzig machen. Das Gleiche gilt auch für die mündlichen Schilderungen von Holocaust-Überlebenden: Ein Zeitzeuge, der in der Lage wäre, einen klaren Bericht seiner Erlebnisse im Lager zu liefern, würde sich dadurch unglaubwürdig machen. Ganz hegelianisch ist hier das Problem ein Teil der Lösung: Die Mängel im Tatsachenbericht des traumatisierten Subjekts sind gerade das, was für dessen Wahrhaftigkeit spricht, denn sie zeigen, dass der geschilderte Inhalt die Form, in der er geschildert wird, kontaminiert hat.[3]

Es geht hier natürlich um die Kluft zwischen dem ausgesagten Inhalt und der subjektiven Position des Sprechakts. G. ‌K. Chesterton schreibt in Bezug auf Nietzsche: »[E]infach dadurch, daß er den Egoismus verkündete, negierte er ihn. Etwas zu verkünden heißt, es zu verraten. Zuerst bezeichnet der Egoist das Leben als erbarmungslosen Kampf und dann unternimmt er alle denkbaren Anstrengungen, seine Feinde in diesem Kampf zu schulen. Wer Egoismus predigt, praktiziert Altruismus.«[4] Hier ist nicht das Medium die Botschaft, ganz im Gegenteil. Das Medium, dessen wir uns bedienen – die allgemeine Intersubjektivität der Sprache –, ist gerade das, was die Botschaft untergräbt. Wir sollten daher nicht nur die besondere Position des Sprechakts kritisieren, welche den allgemeinen ausgesagten Inhalt unterstützt – etwa das weiße, reiche, männliche Subjekt, das die Universalität der Menschenrechte verkündet; weitaus wichtiger ist es, die Universalität zutage zu bringen, die seine besondere Aussage stützt und potenziell untergräbt. Das Paradebeispiel ist hier der von Bertrand Russell beschriebene Fall eines Solipsisten, der andere davon 42zu überzeugen versucht, dass nur er allein wirklich existiert. Ließe sich dieses Argument auch auf das Problem der Toleranz beziehungsweise Intoleranz ausweiten? Vielleicht nicht vollständig, aber wer Toleranz predigt, droht in eine ähnliche Falle zu tappen, denn er setzt damit selbst auch die Voraussetzung für Toleranz (voraus): Um tolerant sein zu können, muss sich das Subjekt von seinem Nächsten zunächst in irgendeiner Weise »belästigt« fühlen. Hatte somit nicht Paul Claudel ganz Recht, als er auf den Einwand Jules Renards, »Mais la tolérance?« (»Aber die Toleranz?«), erwiderte: »Il y a des maisons pour ça!«[5] (»Dafür gibt es Häuser!« Mit dem Ausdruck maisons de tolérance werden im Französischen auch Freudenhäuser bezeichnet)? Und trifft nicht auch – wie so oft – Chestertons Bonmot zu, wonach die Toleranz die Tugend derer ist, die keine Überzeugungen haben?

Die ästhetische Lehre aus diesem Paradox ist klar: Der Schrecken des Holocaust lässt sich nicht darstellen; der Exzess des dargestellten Inhalts über seine ästhetische Darstellung hinaus muss jedoch auf die ästhetische Form selbst übergreifen. Was nicht beschrieben werden kann, sollte als unheimliche Verzerrung in die künstlerische Form eingeschrieben werden. Vielleicht ist ein weiterer Hinweis auf Wittgensteins Tractatus an dieser Stelle hilfreich. Dort heißt es, die Sprache bilde die Wirklichkeit aufgrund einer beiden gemeinsamen logischen Form ab:

 

4.121 Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm.
Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen.
Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken.
Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit.
Er weist sie auf.[6]

 

Wir wissen, dass das Bild eines Sonnenuntergangs einen Sonnenuntergang darstellt, weil beide die gleiche »pikturale Form« aufweisen. Entsprechend weisen ein Satz und das, was er darstellt, die gleiche »logische Form« auf: Ein Satz bildet eine Tatsache ab, und so wie eine Tatsache in verschiedene Sachverhalte zergliedert werden kann, kann ein Satz in einzelne Elementarsätze zergliedert werden. Wittgenstein unterscheidet hier zwischen Sagen und Zeigen. Wenn ein Satz sagt, dass eine bestimmte Tatsache der Fall ist, zeigt er die logische Form, 43aufgrund deren die Tatsache der Fall ist. Die Folge dieser Unterscheidung ist, dass wir nur Aussagen über Tatsachen in der Welt treffen können; von der logischen Form können wir nicht sprechen, sie lässt sich nur zeigen: »4.1212 Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.«[7] Wenn wir diesen Satz in Verbindung mit dem letzten lesen (»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«), kommen wir zu dem Schluss, dass das, wovon man nicht sprechen kann, gezeigt, das heißt direkt in der/durch die Form des Sprechens wiedergegeben werden kann. Wittgensteins »Zeigen« ist mit anderen Worten nicht nur in einem mystischen Sinne zu verstehen, sondern als sprachimmanent, als Form der Sprache. Kehren wir zum Beispiel...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2014
Übersetzer Frank Born
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Dialektischer Materialismus • Hegel • Hegel, Georg W. Fr. • Idealismus • Kunst • Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism deutsch • Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism deutsch • Materialismus • Philosophie • Philosophiegeschichte • Postmoderne • STW 2188 • STW2188 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2188
ISBN-10 3-518-73427-X / 351873427X
ISBN-13 978-3-518-73427-8 / 9783518734278
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
100 Fragmente des Glücks | Vom Autor der Bestseller »Glück«, …

von Wilhelm Schmid

eBook Download (2025)
Insel Verlag
CHF 11,70
Herrscher und Mensch einer Zeitenwende

von Manfred Hollegger; Markus Gneiß

eBook Download (2025)
Kohlhammer Verlag
CHF 25,35