Demokratie? (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73645-6 (ISBN)
<p>Giorgio Agamben wurde 1942 in Rom geboren. Er studierte Jura, nebenbei auch Literatur und Philosophie. Der entscheidende Impuls für die Philosophie kam allerdings erst nach Abschluß des Jura-Studiums über zwei Seminare mit Martin Heidegger im Sommer 1966 und 1968. Neben Heidegger waren seitdem Michel Foucault, Hannah Arendt und Walter Benjamin wichtige Bezugspersonen in Agambens Denken. <br /> Als Herausgeber der italienischen Ausgabe der Schriften Walter Benjamins fand Agamben eine Reihe von dessen verloren geglaubten Manuskripten wieder auf. Seit Ende der achtziger Jahre beschäftigt sich Agamben vor allem mit politischer Philosophie. Er lehrt zur Zeit Ästhetik und Philosophie an den Universitäten Venedig und Marcerata und hatte Gastprofessuren u.a. in Paris, Berkeley, Los Angeles, Irvine.</p> <p></p>
Alain Badiou
Das demokratische Wahrzeichen1
All dem zum Trotz, was Tag für Tag das Ansehen der Demokratie beschädigt, bleibt das Wort »Demokratie« doch zweifellos das Wahrzeichen der gegenwärtigen politischen Gesellschaft. Ein Wahrzeichen ist das Unantastbare eines Symbolsystems. Das heißt, Sie können über das politische System sagen, was Sie wollen, Sie können ihm gegenüber eine »kritische« Haltung von beispielloser Schärfe einnehmen und etwa »den Terror der Ökonomie« verdammen – man wird es Ihnen nicht übelnehmen, solange Sie es nur im Namen der Demokratie tun (nach dem Muster: »Wie kann eine Gesellschaft, die vorgibt, demokratisch zu sein, dieses oder jenes tun?«). Denn letztlich haben Sie versucht, die Gesellschaft im Namen ihres Wahrzeichens und damit in ihrem eigenen Namen zu verurteilen. Sie haben sich nicht außerhalb ihrer gestellt, sind, wie man so schön sagt, kein Schurke geworden, sondern Staatsbürger geblieben, einer, den man auf seinem demokratischen Posten weiß und den man, keine Frage, bei den nächsten Wahlen sehen wird.
Daher behaupte ich: Um überhaupt an das Reale unserer Gesellschaft heranzukommen, muß man sich – gleichsam als apriorisches Manöver – von ihrem Wahrzeichen verabschieden. Man wird der Welt, in der wir leben, nur dann gerecht, wenn man das Wort »Demokratie« einmal beiseite läßt und das Risiko eingeht, kein Demokrat zu sein und damit tatsächlich von »aller Welt« mißbilligt zu werden. Denn »alle Welt« ist – bei uns – ohne jenes Wahrzeichen nicht zu denken: »Alle Welt« ist demokratisch. Man könnte dies das Axiom des Wahrzeichens nennen.
Für uns geht es jedoch um die Welt, nicht um »alle Welt«. Gerade die Welt, wie sie dem Anschein nach existiert, ist nicht die Welt von »aller Welt«. Die Demokraten, Menschen des Wahrzeichens, Menschen des Westens, gehören einer besseren Welt an, während die anderen von einer anderen Welt sind, die in ihrer Andersheit keine Welt im eigentlichen Sinne ist: Es handelt sich, genau besehen, um eine Zone für Kriege, Elend, Mauern und Chimären. In dieser Art »Welt« oder Zone verbringt man seine Zeit damit, seine Siebensachen zu packen, um dem Grauen zu entfliehen, um wegzukommen. Und wohin? Zu den Demokraten natürlich, zu denen, die die Weltherrschaft beanspruchen und Leute brauchen, die für sie arbeiten. Hier machen diese anderen nun die Erfahrung, daß die Demokraten, die es sich unter ihrem Wahrzeichen bequem gemacht haben, nicht wirklich etwas von ihnen wissen wollen, ja daß die Demokraten sie nicht mögen. Im Grunde genommen handelt es sich hier um politische Endogamie: Demokraten mögen nur Demokraten. Was die anderen anbelangt, jene aus den Hunger- und Todeszonen, da geht es vor allem um Papiere, Grenzen, Gefangenenlager, Polizeiüberwachung, die Ablehnung von Familienzusammenführung … Man soll »integriert« werden. In was? In die Demokratie natürlich. Um aber aufgenommen, ja eines fernen Tages vielleicht sogar anerkannt zu werden, muß man sich erst einmal bei sich zu Hause zum Demokraten ausbilden – viele Stunden lang, in harter Arbeit, eben bevor man sich die Hoffnung gestatten darf, in die wahre Welt zu dürfen. Zwischen Gewehrsalven und den Landungen humanitärer Fallschirmjäger, zwischen Hungersnot und Epidemie studiere man den Leitfaden für Integrationswillige, das Handbuch des kleinen Demokraten! Eine furchtbare Prüfung steht an! Ja, von der falschen in die »echte« Welt führt eine schmale Gasse – eine Sackgasse. Demokratie? Gewiß, aber nur für Demokraten, nicht wahr? Globale Globalisierung? Sicher, aber nur, wenn die nicht integrierte Welt den Beweis erbringt, daß sie es verdient hat, integriert zu werden.
Kurzum, die »Welt« der Demokraten ist keineswegs die Welt von »aller Welt«. Das aber bedeutet, daß die Demokratie – verstanden als Wahrzeichen und Wächterin der Mauern, innerhalb deren eine kleine Welt ihren Spaß hat und zu leben glaubt – eine konservative Oligarchie versammelt, die – oft mit den Mitteln des Krieges – nur ein Amt versieht: im Namen der »Welt«, den sie sich widerrechtlich angeeignet hat, das aufrechtzuerhalten, was letztlich nur das Territorium ihres animalischen Lebens ist. Hat man aber erst einmal das Wahrzeichen außer Kraft gesetzt, um wissenschaftlich zu untersuchen, was das eigentlich für ein Territorium ist – jenes, auf dem die Demokraten sich tummeln und vermehren –, dann kommt man zu der entscheidenden Frage: Welche Bedingungen muß ein Territorium erfüllen, um sich irreführenderweise als eine Welt im Zeichen der Demokratie präsentieren zu können? Oder anders gefragt: Welcher objektive Raum und welche Sozialordnung machen die Demokratie zur Demokratie?
Lesen wir also noch einmal die Stelle, die in der Philosophie als erste Herabsetzung des demokratischen Wahrzeichens gilt, sie findet sich im achten Buch von Der Staat. Für Platon ist »Demokratie« eine Herrschaftsform, ein bestimmter Verfassungstypus. Viel später wird auch Lenin sagen, die Demokratie sei nur eine Staatsform. Beiden kommt es jedoch darauf an, daß weniger das Objektive dieser Form gedacht wird als vielmehr ihr Einfluß auf das Subjekt. Das Denken muß von der Sphäre des Rechts zum Charakter des Wahrzeichens übergehen beziehungsweise von der Demokratie zum Demokraten: Die zerstörerische Kraft des demokratischen Wahrzeichens konzentriert sich in dem von ihm geprägten Subjekt-Typus, dessen wesentliche Eigenschaft – um es mit einem Wort zu sagen – der Egoismus, das Begehren des kleinen Genusses ist.
In diesem Sinne Platoniker – das sei hier nebenbei erwähnt – war Lin Biao, als er auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution meinte, das Wesen des falschen Kommunismus (jener, der sich in Rußland durchgesetzt hatte) sei die Ichsucht, und auch den reaktionären »Demokraten« beherrsche schlicht die Angst vor dem Tod.
Natürlich hat Platons Ansatz etwas Reaktives. Denn seiner Überzeugung nach wird die Demokratie die griechische Polis nicht retten. Und in der Tat, sie hat sie nicht gerettet. Soll das nun heißen, daß die Demokratie unseren großartigen Westen genausowenig retten wird? Ja, das soll es heißen, mit dem Zusatz, daß wir also wieder beim antiken Dilemma angekommen sind: entweder Kommunismus (auf neu zu erfindenden Wegen) oder die Barbarei der Faschismen (die sich bereits neu erfunden haben). Die Griechen haben erst die Makedonier, später die Römer erlebt – in jedem Fall Knechtschaft statt Emanzipation.
Platon, als alter Aristokrat, wendet sich Gestalten aus einer philosophisch gebildeten Militäraristokratie zu, von denen er glaubt, daß sie existiert haben, die er aber in Wirklichkeit selbst erfindet. Seine aristokratische Reaktion begründet einen politischen Mythos. Varianten einer solchen Reaktion mit nostalgischem Anstrich kennen wir auch aus unserer Zeit. Am auffälligsten tut sich heute die republikanische Idolatrie hervor, zumal in unserem intellektuellen Kleinbürgertum, wo die bloße Anrufung »unserer republikanischen Werte« allzeit Beifall findet. Nur: Auf welche »Republik« beruft man sich eigentlich bei diesen Beschwörungen? Auf jene, die aus dem Massaker der Pariser Kommune hervorging? Jene, die durch Einverleibung von Kolonien stark wurde? Jene des Streikbrechers Clemenceau? Jene, die es sich nicht nehmen ließ, die Schlächterei von 1914-1918 zu veranstalten? Jene, die alle Macht Pétain gab? Nein, diese »Republik« mit all ihren Werten und Vorzügen ist eine Erfindung, die einer bestimmten Sache dient: der Verteidigung ihres Wahrzeichens, das, wie alle wissen, immer blasser wird (ganz wie Platon mit seinen philosophischen Wächtern glaubte, die Fahne einer Aristokratie hochzuhalten, an der bereits die Motten nagten). Sie ist der Beweis, daß alle Sehnsucht die Sehnsucht nach etwas ist, das nie existiert hat.
Platons Kritik der Demokratie ist jedoch weit davon entfernt, nur reaktiv oder aristokratisch zu sein. Sie zielt sowohl auf das Wesen einer Wirklichkeit, die im Staat von der demokratischen Form geprägt ist, als auch auf das Subjekt, das von einer derart geprägten Wirklichkeit hervorgebracht wird – ein Subjekt, das Platon den »demokratischen Menschen« nennt.
Die beiden Thesen Platons lauten:
1.) Die demokratische Welt ist nicht wirklich eine Welt.
2.) Das demokratische Subjekt konstituiert sich ausschließlich im Sinne des Genusses.
Diese zwei Thesen sind meiner Ansicht nach wohlbegründet, und ich werde sie hier ein wenig entwickeln.
Inwiefern läßt die Demokratie allein das dem Genuß verschriebene Subjekt zu? Platon beschreibt zwei Formen des Verhältnisses zum Genuß, die von der falschen demokratischen Welt erzeugt werden. Die erste ist die dionysische Zügellosigkeit, die in der Jugend auftritt. Die zweite ist die Nichtunterscheidung zwischen den Genüssen, die das Alter kennzeichnet. Die Formung des demokratischen Subjekts durch das herrschende gesellschaftliche Leben beginnt im Grunde mit der Illusion, alles sei frei verfügbar: »Genuß ohne Grenzen«, sagt der Anarcho-Achtundsechziger. »Klamotten, Schuhe von Nike, dazu...
| Erscheint lt. Verlag | 15.8.2012 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Démocratie, dans quel état? |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
| Schlagworte | Aufsatzsammlung • David Easton Award der American Political Science Association 2012 • Démocratie dans quel état? deutsch • Demokratie • edition suhrkamp 2611 • ES 2611 • ES2611 • Politik • Prix Européen de l'Essai Charles Veillon 2007 |
| ISBN-10 | 3-518-73645-0 / 3518736450 |
| ISBN-13 | 978-3-518-73645-6 / 9783518736456 |
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