Die Kunst der Freiheit (eBook)
396 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518756508 (ISBN)
Juliane Rebentisch, geboren 1970, ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main. 2017 erhielt sie den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg.
Cover 1
Informationen zum Buch 3
Inhalt 6
Ästhetisierung – eine Apologie. Einleitung 10
Erster Teil: Eine antike Krisendiagnose 28
I. Die provozierende Schönheit der Demokratie: Platon 30
1. Freiheit und Unbestimmtheit 31
2. Die Unfreiheit des Tyrannen 35
3. Der unstete Demokrat 39
4. Klarsichtige, prozessuale und totalisierte Willensschwäche 42
5. Willensschwäche oder die Freiheit von sich selbst 48
6. Die Unfreiheit des Opportunisten 53
7. Viel- und Fremdtuerei 57
8. Das Ereignis der inneren Natur oder die Freiheit zu sich selbst 61
9. Von Demokraten und Theatermännern 66
10. Theatrokratie: Die furchtlos urteilende Multitude 70
11. Masse und Mimesis 78
12. Selbstdifferenz und Perfektionierung 82
Zweiter Teil: Das ethisch-politische Recht der Ironie 90
II. Die Moralität der Ironie: Hegel 92
1. Der Beginn der Moralität in der sokratischen Ironie 93
2. Die Spaltungsarbeit des Sokrates 96
3. Ironie und Wahrheitspraxis 101
4. Hegels Kritik an Kant 105
5. Eine sokratische Reformulierung des Moralprinzips 109
6. Kritik der Romantik 114
7. Abstrakte und subjektive Freiheit 120
8. Das Böse und der »natürliche Wille« 125
9. Dialektik der Freiheit 130
10. Ein nichtrigoristischer Begriff von Selbstbestimmung 133
11. Konflikte mit und in der Moral 137
12. Hegels Verdrängung der subjektiven Freiheit aus der Sittlichkeit 143
13. Das Rätsel der sokratischen Tugend und die Historizität des Guten 147
III. Die Ethik der ästhetischen Existenz: Kierkegaard 151
1. Die negative Freiheit der sokratischen Ironie und ihre romantische Überbietung 153
2. Selbststeigerung und Selbstvergessenheit 157
3. Der impotente Verführer 163
4. Der behelmte Wille und seine Verzweiflung am Ästhetischen 169
5. Reue und Pflicht: Die Freiheit, das zu wählen, was man schon ist 172
6. Ein Sexismus für einen anderen 178
7. Die Liebe geschiedener Gesellschaftsdamen 184
8. Ästhetische und aristokratische Ausnahme 192
9. Von gewöhnlichen Sündern 198
10. Der Sprung des Glaubens 203
11. Wiederholungen 209
IV. Souveränität im Zeichen der Romantik: Schmitt 218
1. Ästhetisierung und Neutralisierung 219
2. Der Anblick einer Apfelsine 224
3. Fremde Kraft 229
4. Das Fremde im Eigenen und die Entscheidung 232
5. Politische Anthropologie 238
6. Schmitt und Kierkegaard 244
7. Politische Theologie 248
8. Das »konkrete Leben« und die Entscheidung 250
9. Schmitts Rousseauismus 257
10. Politik als Kritik der Politik 260
Dritter Teil: Demokratie und Ästhetisierung 270
V. Das Spektakel der Demokratie: Rousseau 272
1. Die Ironie des Schauspielers 274
2. Der öffentliche Ausdruck der Unbestimmtheit 281
3. Die Schauspielerin und ihre Parodien 288
4. Die wahre Mitte 293
5. »Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt«: Das Fest der Brüder 296
6. Alle Brüder sind auch Menschen: Das Problem männlicher Selbstdifferenz 301
7. Die zwei Paradoxien des Gesellschaftsvertrags 308
8. Die Souveränität des Gesetzgebers und das Urteil des »gemeinen Mannes« 314
9. Eine andere Gleichheit 322
10. Eine politisierbare Grenze 325
11. Die zwei Körper des Volkes 330
12. Repräsentation und Kontingenzcodierung 335
VI. Die Anästhetisierung des Politischen im Faschismus: Benjamin 343
1. Charisma versus Ratio 346
2. Politisierung der Kunst 348
3. Staunen statt Mitleiden 351
4. Der Blick des Fremden 355
5. Entfremdung 356
6. Anpassungsfähigkeit und Revolution 361
7. Charisma und Demokratie 363
8. Politisches Theater 367
9. Die Anästhetisierung des Politischen in der Postdemokratie. Ausblick 370
Danksagung 376
Nachweise 377
Siglenverzeichnis 378
Literatur 381
Namenregister 394
29I. Die provozierende Schönheit der Demokratie: Platon
»Politeia« bezeichnet bei Platon, wie bei den Klassikern überhaupt, weniger die Verfassung als die Lebensweise einer Gemeinschaft. Diese soll jedoch von dem abhängen, was in ihr als höchstes Gut gilt.[1] Das verbindet im klassischen Verständnis die unterschiedlichen Perspektiven von Ethik und Politik. In der Demokratie und der ihr korrespondierenden Lebensweise oder Kultur, wie man heute wohl eher sagen würde, trägt dieses wichtigste Gut Platon zufolge den Namen »Freiheit«. Deshalb ist der eigentliche Gegenstand der Überlegungen zur Demokratie, die Platon seine Figur des Sokrates[2] im achten Buch der Politeia[3] anstellen lässt, das für die demokratische Kultur konstitutive Freiheitsverständnis. Nun ist bekannt, dass Platon kein Freund der Demokratie war. Sie mag bei manchen, wie er Sokrates distanziert feststellen lässt, aufgrund der Vielfalt der Sitten und der Freiheit der Lebensweisen als besonders bunt, ja sogar als die schönste aller Regierungsformen gelten (vgl. Rep. 557c); bei ihm rangiert sie nichtsdestotrotz an vorletzter Stelle – unter ihr steht nur noch die Tyrannei. Der schöne Schein der Demokratie ist für Platon ein falscher Schein. Nach seiner Diagnose führt der demokratische »Durst nach Freiheit« (vgl. Rep. 562c) nämlich notwendig in die Unfreiheit: Er begünstigt die Begierden, schwächt so die Kraft des vernünftigen Urteils, destabilisiert den Willen und bringt einen entsprechend schwachen, in jeder – auch der politischen – Hinsicht haltlosen Menschen hervor. Die »demokratisch gesonnenen« (Rep. 558c) Lebenskünstler schillern, so Platons vernichtendes Urteil, aus Schwäche, weshalb die Buntheit 30der demokratischen Kultur das sichere Zeichen ihres Niedergangs ist. Die demokratische Ästhetisierung ist der Vorbote der Tyrannei.
Man wird dieser Diagnose nicht ohne weiteres zustimmen wollen. Allerdings besteht auch aus der Perspektive einer Apologie der Demokratie und ihrer Schönheit nicht die schlechteste Methode, um die Reichweite eines Begriffs – hier den der demokratischen Freiheit – zu ermessen, darin, ihn ins kontrastreiche Licht einer Position zu rücken, die ihn aufs Schärfste bekämpft hat. Denn für die Implikationen eines Begriffs haben oftmals gerade jene ein besonderes Sensorium, die ihn aus dem praktischen und theoretischen Bewusstsein zu verbannen suchen.
1. Freiheit und Unbestimmtheit
Bereits der Umstand, dass Platon nicht die Gleichheit, sondern die Freiheit ins Zentrum seiner demokratietheoretischen Untersuchung stellt, ist bemerkenswert, wird von ihm jedoch nicht weiter begründet. Vielmehr lässt er Sokrates lediglich zitieren, was das Selbstverständnis der Demokraten ausmacht: die verbreitete Meinung, dass die Freiheit das höchste Gut der Demokratie ist (vgl. Rep. 557b und Rep. 562b). Ausgangspunkt der Überlegungen ist damit eine empirische, gewissermaßen diskursanalytische Feststellung über das Selbstverständnis der zu untersuchenden Kultur. Tatsächlich ist der demokratische Gleichheitsgrundsatz Platon zufolge nichts anderes als eine Implikation der exousia, der demokratisch gewährten Freiheit, nach der jeder »Erlaubnis hat […] zu tun was er will« (Rep. 557b). Denn diese Erlaubnis richtet sich auf alle gleichermaßen, ohne Ansehen von Stand oder Herkunft. Sie verteilt sich »gleichmäßig« auf »Gleiche wie Ungleiche« (Rep. 558c). Die demokratische Gleichheit ist keine substantielle, auf Ähnlichkeitsverhältnissen beruhende Gleichheit, sondern eine formale: eine Gleichheit Beliebiger in Freiheit. Das aber heißt auch, und schon hier ergibt sich für Platon ein erstes Problem, dass jeder Beliebige sich auf die Demokratie berufen kann, um in ihrem Namen zu sprechen. Schließlich beinhaltet exousia auch die Erlaubnis zu freier Rede, und zwar für jeden und auch für jene, die sich auf die Überredung der Massen verstehen.[4] Damit ist zwangsläufig Raum 31für charismatische Typen aller Art geschaffen, die bereit sind, ihren eigenen Willen mit dem des demokratischen Gemeinwesens zu identifizieren und sich eine Souveränität anzumaßen, die sich gegen die zuvor etablierte richten kann. Denn in der Demokratie, so lässt es Platon Sokrates darstellen, ist nichts verbindlich. So wie es aufgrund des in ihr herrschenden Freiheitsverständnisses für die Einzelnen keine Notwendigkeit gibt zu regieren, wenn sie nicht regieren wollen, so gibt es für sie umgekehrt auch keinen Zwang, regiert zu werden, wenn sie nicht regiert werden wollen. Die Einzelnen müssen weder Krieg führen noch Frieden halten, nur weil die anderen Mitglieder des Gemeinwesens Krieg führen oder Frieden halten; und sie brauchen sich auch nicht verbieten zu lassen, ein Amt zu bekleiden oder Urteile zu fällen (vgl. Rep. 557e). Sogar Todesurteil und Verbannung können in der Demokratie wieder aufgehoben werden (vgl. Rep. 558a). All dies läuft darauf hinaus, dass sich in einer Demokratie jeder, der sich anschickt, einen Staat zu gründen, wie in einer »Trödelbude« (pantopolion) einfach diejenige Verfassung aussuchen kann, die ihm passt (vgl. Rep. 557d). Vermöge der in ihr gewährten Freiheit (exousia) schließt die Demokratie »alle Arten von Verfassungen in sich« (ebd.).
Es ist frappierend, welche Aktualität dieser antiken Diagnose heute noch – oder sogar: gerade heute – zukommt.[5] Tatsächlich gibt es derzeit kaum einen Staat mehr, der nicht von sich behaupten würde, demokratisch zu sein. Die Moderne hat nicht nur konstitutionelle Monarchien sowie parlamentarische, präsidiale, liberale und sozialstaatliche Demokratien erlebt, sondern auch die Volksdemokratien der Sowjetunion und Chinas sowie verschiedene Militärdiktaturen, die sich mit dem Titel der Demokratie schmückten. Man denke beispielsweise an die sogenannte organische Demokratie Francos in Spanien oder an die »Neo-Demokratie« Trujillos in der Dominikanischen Republik. »Demokratie« ist offenbar weder der Begriff für eine bestimmte Regierungsform noch die Bezeichnung einer bestimmten Verfassung. Vielmehr zeichnet sich der Begriff durch eine Unbestimmtheit aus, die keine Folge eines theoretischen Unvermögens ist. Daher gilt es, diese Unbestimmtheit selbst begrifflich einzuholen. Denn ihre Unbestimmtheit, das heißt auch: ihre Angewiesenheit auf performative, formgebende Akte, ist 32ein Wesenszug der Demokratie; und diesen Zug zu denken stellt seit ihren Anfängen eine der zentralen Herausforderungen an die Demokratietheorie dar.
Nun gründet die Unbestimmtheit der Demokratie nach Platon ursprünglich in der exousia: der demokratisch gewährten Freiheit, das zu tun, was immer einem beliebt. Der auf den unpersönlichen Ausdruck exesti (»es ist möglich«, »es steht einem offen«) zurückgehende Begriff der exousia koppelt Freiheit an Möglichkeiten beziehungsweise Handlungsspielräume. In dieser Bedeutung kommt er dem liberalen Verständnis negativer Freiheit unserer Zeit erstaunlich nahe, wiewohl der Begriff der exousia das moderne Konzept subjektiver Rechte nicht kennt, das den liberalen Begriff negativer Freiheit mit der Idee eines Schutzes der individuellen Lebensgestaltung vor einer Beeinträchtigung durch die Einmischung Dritter verbindet.[6] Jenseits dieser Differenz teilt der politische Diskurs der Antike jedoch zunächst mit dem liberalen Konzept negativer Freiheit die schwierige Frage nach der Reichweite eines auf der Gewährung von Handlungsspielräumen fundierten Freiheitsbegriffs.[7] Denn bereits die neutrale Bedeutung von exousia impliziert die Möglichkeit des Missbrauchs: In ihrem begrifflichen Horizont kann die hybris, können Zügellosigkeit, Übermut und Anmaßung, können also Grenzüberschreitungen nicht ausgeschlossen werden. Ihre Möglichkeit ist der exousia vielmehr immanent. Eben dadurch ergeben sich Platon zufolge nicht nur für das Gemeinwesen insgesamt gesehen, sondern auch für das Leben der Einzelnen in ihm höchst problematische Konsequenzen.
Nicht nur führe die »übertriebene Freiheit« (vgl. Rep. 564a) der demokratischen exousia auf der Ebene des Gemeinwesens, eben weil dieses sich auf ihrer Basis nicht gegen den Typus des machthungrigen Schurken abzusichern vermag, mit einer gewissen Notwendigkeit früher oder später in die »strengste und wildeste Knechtschaft« – in die Tyrannei (Rep. 564a). Überdies, und das ist für unseren 33Zusammenhang natürlich von besonderem Interesse, tut man Platon zufolge auch gut daran, bereits dem schönen Schein der von diesem Schicksal noch nicht eingeholten demokratischen Kultur zu misstrauen. Wie ein Mantel (himation), in den vielerlei Farben und Muster eingewirkt wurden, so »könnte«, lässt er Sokrates sagen, auch die demokratische Kultur, »in welche allerlei Sitten verwebt sind, als die schönste erscheinen. Und vielleicht […] werden auch wohl Viele, die wie Kinder und Weiber auf das bunte sehen, diese für die schönste erklären« (Rep. 557c). Anders als die Kinder und die Weiber gibt sich der Philosoph natürlich nicht damit zufrieden, sich am bunten Treiben einer Kultur zu erfreuen, in der jeder sich sein Leben so einrichtet, wie es ihm gefällt. Seine Aufgabe ist es vielmehr, den schönen Schein des demokratischen patchwork zu durchschauen. Allerdings gibt es unter seiner Oberfläche auch für ihn nichts zu entdecken, und ebendiese Substanzlosigkeit der Demokratie gilt ihm als schwerer Makel: Nicht nur ist die Demokratie auf der Ebene ihrer Verfassung(en) nichts als ein (Deck-)Mantel, den sich jeder nach eigenem Belieben zurechtschneidern kann. Auch die in ihr privilegierte Lebensweise...
| Erscheint lt. Verlag | 16.12.2011 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
| Schlagworte | Ästhetizismus • Demokratie • Freiheit • Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg 2017 • STW 2013 • STW2013 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2013 |
| ISBN-13 | 9783518756508 / 9783518756508 |
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